Lara Licollin

Das was man Leben nennt


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Straße stehen lassen? Wird er mich allein lassen? Wie jeder es bisher getan hat?

      Ich habe Angst, aufzustehen. Ich will nicht mit ihm darüber reden, aber ich weiß, dass es sein muss. Denn ich bin eine Belastung für ihn, er will es bloß nicht zugeben. Vielleicht weiß er es ja aber auch nicht. Noch nicht.

      Nachdem ich mich aufgesetzt habe, erscheint er schon im Türrahmen.

      Er trägt eine hellblaue Jeans und einen grauen Pullover. Keine Hausschuhe. Keine Socken.

      „Hallo, Zoe.“

      Ich lächle ihn mühsam an.

      „Wie geht es dir?“, fragt er und setzt sich zu mir.

      Ich streiche mir die Haare so gut es geht glatt und antworte: „Gut.“

      Einen Moment lang sieht er mich prüfend an, dann steht er auf und sagt, dass er nun Brötchen holen will.

      „Aber wir haben doch noch Brot übrig“, sage ich und er nickt langsam.

      „Stimmt“, meint er dann und fährt sich durch die Haare. „Wenn dir das nichts ausmacht, dann essen wir das Brot von gestern.“

      Ich nicke und füge daraufhin hinzu: „Also nein, es macht mir nichts aus.“

      Er presst die Lippen aufeinander, nickt und geht in die Küche.

      Nach ein paar Minuten stehe ich auf und laufe ebenfalls in die Küche, um ihm zu helfen.

      Er schneidet zwei Scheiben Brot ab und legt sie auf den Stapel Teller. Zusammen decken wir den Tisch, wobei Ben nur Butter und Erdbeermarmelade anzubieten hat.

      „Kein Problem“, sage ich, als wir uns setzen. „Ich bin nicht so verwöhnt.“

      Er wirft mir einen Blick zu und lächelt schwach.

      Es ist wahrscheinlich das letzte Frühstück mit ihm und wir schweigen die ganze Zeit über.

      Erst als wir beide das Messer auf den Teller legen, räuspert sich Ben plötzlich. Ich schlucke und starre auf meinen Teller.

      „Was willst du heute machen?“

      Ich sehe nicht auf, als ich antworte.

      „Ich denke ich werde versuchen, meine Haustür aufzubekommen.“

      Es sollte so etwas wie ein Scherz sein, aber keiner von uns lacht.

      „Du willst also doch zur Polizei gehen?“, hakt er nach und sieht mich an.

      „Nein … Ich weiß nicht.“ Ich senke den Kopf wieder.

      „Ich könnte mit dir gehen“, meint er wieder und ich schüttle den Kopf.

      „Du hast schon genug für mich getan.“

      „Man kann nie genug für jemanden tun“, entgegnet er und ich verkneife mir ein Lächeln.

      Wieso muss er nur so nett sein?

      Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, wie ich ihn dazu bringen kann, mich einfach machen zu lassen.

      Ich sehe ihn entschlossen an.

      „Ich gehe allein.“

      Er mustert mich und fragt schließlich: „Zur Polizei?“

      Ich stöhne. „Ja!“, sage ich lauter.

      Er löst seinen Blick nicht von mir. „Das glaube ich dir nicht.“

      Obwohl er das in so einer kurzen Zeit gar nicht sollte, kennt er mich wirklich zu gut.

      Ich schweige trotzig.

      Schließlich seufzt er.

      „Zoe, komm schon. Du tust mir, ob du es glaubst oder nicht, einen Gefallen, wenn du bleibst.“

      Ich sehe ihn an. „Ach ja? Weil du dann nicht mehr so alleine bist?“, frage ich. „Und während du dann arbeiten bist, wer sitzt dann hier herum? Ich doch wohl, oder? Und zwar alleine. In deiner Wohnung.“

      Jetzt schweigt er und sieht nach unten, aber ich bin noch nicht fertig. „Außerdem geht es nicht, okay? Du bist ein wildfremder Mann. Du hast keine Verantwortung mir gegenüber! Du musst mich gehen lassen!“

      „Dir ist klar, dass du jetzt einfach aufstehen und meine Wohnung verlassen könntest, ohne dass ich dich aufhalten könnte?“

      Er grinst nicht.

      „Darum geht es nicht! Du sollst einfach aufhören, dir Gedanken zu machen. Das mit dem Schlüssel ist mein Problem, nicht deins. Ich komme schon klar. Alleine!“

      Ich fahre mir durch die Haare und sehe in Richtung Balkon, weg von Ben.

      Er hat recht, ich könnte einfach gehen.

      Was hindert mich?

      Seine Fürsorglichkeit? Das Gefühl, jemandem mal nicht egal zu sein?

      Erst nach einiger Zeit gibt er zu, dass ich recht habe.

      „Ich bin ein wildfremder Mann, ja“, sagt er. „Aber es geht hier um dein Leben. Um dein Leben, das du einfach so aufgeben willst. Ich habe dafür zu sorgen, dass du zur Vernunft kommst. Du kannst nicht gehen, bevor du nicht kapiert hast, dass das keine Lösung ist.“

      „Natürlich kann ich gehen. Ich bin erwachsen, ob du es glaubst, oder nicht.“

      Ben nickt und wird leiser.

      „Ich weiß, Zoe. Aber weißt du nicht mehr, vor nicht mal zwei Tagen, da …“

      „Ich weiß, was ich tun wollte, okay?“, fahre ich ihn wieder an. „Du brauchst es mir nicht noch einmal zu sagen. Ich weiß, was ich wollte.“

      Er schluckt. „Und … willst du es immer noch?“, fragt er leise.

      Ich schweige und weiche seinem Blick aus.

      Klar, zum ersten Mal fühle ich mich wieder wohl. Ich würde gerne bleiben. Aber das kann ich diesem fremden Mann nicht antun.

      Eigentlich sollte ich mich sowieso seltsam fühlen, bei einem fast 40-jährigen zu übernachten und mit ihm zu frühstücken – und das alles auch noch gut finden.

      Ich werde gehen, weil es das Vernünftigste ist. Ich kann nicht bei ihm bleiben.

      Aber natürlich fällt es mir schwer. Endlich ist mal jemand nett zu mir und kümmert sich um mich. Wenn ich jetzt gehe, werde ich wieder allein sein. Auch das weiß ich. Was ich jedoch nicht weiß ist, ob ich in der Lage bin, wieder zurück in dieses Leben zu finden.

      Genau das bezweifelt Ben anscheinend auch.

      „Vielleicht“, sage ich schließlich leise und wahrscheinlich sorgt er sich jetzt noch mehr um mich. Doch ich sollte froh darüber sein.

      „Zoe“, setzt er wieder an. „Bitte.“

      Ich spüre plötzlich seine Hand auf meinem Handgelenk liegen. Genau wie vorgestern Abend.

      Ich kann ihn nicht ansehen und bin hin- und hergerissen.

      „Bitte gib deinem Leben noch eine Chance.“

      Ich schlucke. Kann ich das denn? Nicht, wenn es so weitergeht wie bisher.

      „Ich kann nicht wieder in die Schule gehen. Einfach so, als wäre nichts gewesen“, erkläre ich ihm.

      „Dann mach eine Pause und denk erst mal über dein Leben nach“, schlägt er vor, obwohl er keine Ahnung von meinem Leben hat.

      Ich schüttle den Kopf.

      „Das kann ich doch nicht machen …“

      „Warum nicht?“, fragt er nun.

      „Weil …“

      Ich schüttle den Kopf und vergrabe mein Gesicht in den Händen. Er lässt mein Handgelenk los.

      „Ich kann dir helfen.“

      Ich sehe