Ester Ette

Die Creole


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Kuss beim Zubettgehen.

      Vier quälende Monate waren schon vergangen. Er hatte einfach dagelegen, am Fuße der Treppe. Ende. So schnell sprangen alle Zeiger auf Null. José – langgestreckt vor ihr in seinem Blut, mitten in der Küche auf den kalten Kacheln, das Gesicht aufgeschlagen, gefällt wie ein Baum.

      Nie würde sie diesen Anblick vergessen. Er verfolgte sie in ihren Träumen und noch jedes Mal, wenn sie vom Esszimmer in die Küche trat, sah sie ihn dort liegen, roch sie das gerinnende Blut. Am Ende bestand ein Leben aus einem Haufen blutenden Fleisches. Plötzlich war da nichts mehr. Kein Atem, keine Bewegung. Kein Licht in den Augen. Keine Wärme.

      Sie hatte sich ein Ende anders vorgestellt. Sprach man nicht immer auch von Erlösung? Die Bilder verschwanden einfach nicht aus ihrem Kopf. Auch heute nicht, heute erst recht nicht.

      Aber so sehr sie der Anblick des leblosen Körpers von José auch verfolgte, so ungenau erinnerte sie sich an die ­Sekunden davor. Sie hatten sich kurz zuvor gestritten, soweit sie sich erinnerte. Wo war Manuel?

      Seither vergrub sie sich schweigend in diffuse Schuld­gefühle.

      Ihr Jüngster gratulierte ihr im Vorbeigehen mit unbewegter Miene. Seit dem Tod seines Vaters hatte er es jeden Morgen sehr eilig, in die Schule zu kommen. Manuel verschwand aus ihrem Blickfeld mit den Worten, er habe heute Nachmittag ein wichtiges Fußballspiel in Olhão. Maura würde ihn nach der Schule mitnehmen und danach auch wieder zurückbringen. Das mit dem Kaffeetrinken heute Nachmittag würde also etwas später.

      „Fangt ruhig schon mal ohne uns an!“

      Draußen hupte Maura. Ihre portugiesische Nachbarin in Bias do Sul winkte heftig, was wohl ein schneller Geburtstagsgruß sein sollte. Auch Maura und ihr Sohn Carlos waren zum Kaffeetrinken eingeladen und würden dann vermutlich alle etwas später kommen. Maura war diese Woche an der Reihe, die beiden Jungen in die Schule nach Moncarapacho zu bringen. Sie teilten sich den Transfer der Kinder. Was für ein Glück, dass Manuel und Carlos Freunde waren und auch gemeinsam in der Fußballmannschaft spielten. Eigentlich war es sogar so, dass Manuel seit dem Tod seines Vater mehr bei Carlos und seiner Familie lebte als bei ihr. Sie schickte ihm fortwährend online-Botschaften, versuchte ihn anzurufen. Er antwortete selten.

      Zwischen ihnen herrschte trauriges Schweigen. ­Susanne fehlte die Kraft der Worte und der Mut, Manuel in die Arme zu nehmen. Das hatte noch nie funktioniert. ­Manuel hatte sehr an seinem Paizinho gehangen. Sie spürte seine Ablehnung körperlich, sein verzweifeltes Leiden. Und sie versteinerte bei seinem Anblick, weil sie die Ähnlichkeit zu seinem Vater nicht ertrug und die Gewissheit, dass er ihr vollends entglitten war.

      Sie hielt ihn nicht und war über die enge Verbindung zu Carlos Familie sogar erleichtert. Sie war schon lange keine gute Mutter mehr für ihre Kinder – und dass nicht erst seit dem plötzlichen Tod ihres Mannes. Keine gute Mutter… was ist eigentlich eine gute Mutter? Sie blieb an ihren Gedanken hängen wie die Fliegen am Honigklebeband des Lampenschirms. Wer legt den Maßstab an? Würde Gott sie strafen, weil sie die Kraft verlassen hatte, sich angemessen um ihre Familie zu kümmern? Hatte sie sich jemals um ihre Familie gut genug gekümmert?

      Auch ihre Tochter ließ nach dem Tod ihres Vaters kaum noch etwas von sich hören. Olga war fast volljährig und ging längst ihre eigenen Wege.

      Wie stolz Olga darauf gewesen war, dass sie in Alter do Chão das Reitinternat besuchen durfte. Sicher – auch Olga war tief getroffen von Josés Tod. Sie hatte aber nicht diese abgöttische Bindung zu ihrem Ziehvater wie ­Manuel. Sie war am Strand von Goa aufgewachsen, frei und ungezwungen. Susanne hatte immer dieses unbestimmte Gefühl gehabt, dass ihre Älteste niemandem gehörte außer sich selbst, dass sie einem Vögelchen glich, das schnell sein Nest verlassen hatte und neugierig von Ast zu Ast flog. War sie vielleicht nun ganz davon geflogen?

      Siedend heiß fiel Susanne ein, dass sie die Rechnung für den Unterhalt ihrer Tochter und den Stall von Joelle immer noch nicht bezahlt hatte. Die Schule selbst war zwar kostenlos, aber mitsamt der Reitlehrerin musste sie gute 1.000 Euro im Monat für Olga aufbringen. Ihre Konten waren leer. Die Unklarheit, ob José ihr genügend Geld hinterlassen hatte, versetzte sie regelmäßig in Panik.

      Olga war, wie es ihr schien, glücklich an der Schule, hatte eine Freundin gefunden, wohl auch einen Freund und konnte ihren Pferde-Traum leben. José hatte ihr vor Jahren Joelle geschenkt, weil sie so traurig war, Goa verlassen zu müssen. Schon damals folgte Olga ihrem untrüglichen Instinkt, das für sie Richtige zu tun. Sie war unbestechlich und kompromisslos in dem, was sie wollte. Susanne fragte sich oft, von wem sie diese Eindeutigkeit hatte. Vage erinnerte sie sich an eine Zeit, in der sie sich in völliger Gewissheit, das Richtige zu tun, aufgemacht hatte in eine andere Welt. Die Vorstellung, an diese Klarheit und Kraft wieder anzuknüpfen, erschien ihr heute aussichtslos. Sie war etwas neidisch auf ihre Tochter.

      Olga konnte zu Susannes Geburtstag nicht kommen. Vier bis fünf Busstunden, um die Schule zu unterbrechen und kurz der Mutter zu gratulieren, dazu die Fahrtkosten. Da hatte sie bei einem ihrer raren Telefonate gesagt:

      „Schatz, bleib in Alter do Chão. Ich nehm’s dir sicher nicht übel. Ich freu’ mich, wenn du in den Sommerferien kommst.“ Dabei merkte sie, wie Olga herumdruckste und auf Nachfrage, was denn los sei, ankündigte, dass sie mit ein paar Freunden gerne in den Sommerferien nach Spanien wolle, Barcelona und so, und deswegen erst ganz zum Ende der Ferien nach Bias käme. Spanien – das wäre so toll. Und dann werde sie ja auch schon bald 18. Aber sie wolle das schon mal ankündigen.

      Susanne überschlug in Gedanken die Monate, schluckte und sagte, es sei noch reichlich Zeit bis dahin. „Wir können ja nochmal drüber sprechen. Und deinen Geburtstag – den wollten wir ja zusammen groß feiern. Es ist immerhin dein 18.!“

      „Ja, das können wir dann ja nochmal bequatschen. Lass uns skypen. Ich weiß noch nicht, ob mir nach dem Tod von Vati zum Feiern ist. Ich hab da sowieso noch eine dringende Frage an dich.“

      Susanne wollte gerade nachhaken, um was es denn genau ginge. Da fiel ihr Olga ins Wort.

      „Ich muss jetzt aufhören. Die Voltigierstunde fängt gleich an. Und du weißt ja, wie mich das stresst, Handstand auf dem Pferd und so weiter, dieser ganze akrobatische Blödsinn... Und Mutti – feier’ recht schön. Kommen Tante Martina und Marko noch vorbei?“

      „Marko ist meines Wissens in London. Martina vermutlich schon.“

      Die Frage nach Martina und Marko löste bei Susanne innere Verkrampfungen aus.

      ***

      MARTINA

      Martinas Tagesablauf war heute vorgegeben. Der Vormittag gehörte der Pilates-Gruppe, am Nachmittag würde sie zum Geburtstag von Susanne gehen – ein besonderes Ereignis, denn erst zum zweiten Mal, seit Susanne wieder an der Ostalgarve wohnte, war sie in ihr Haus nach Bias eingeladen.

      Beim ersten Treffen hatten sie alle Abschied von Susannes Ehemann José nehmen müssen. Ein trauriger Anlass für ein erstes Wiedersehen nach all den Jahren, kaum geeignet miteinander zu sprechen, zumal Susanne kaum ein Wort über die Lippen brachte. Verständlich in der Situation. Sie war mit 36 Jahren Witwe geworden. Martina ­wünschte, José wäre noch am Leben und sie wären ein glückliches Paar. Sie hatte José zwar nicht kennen gelernt, aber sie war sich sicher, dass die Zukunft für sie alle einfacher wäre, wenn José noch leben würde; denn um so besser es ihrer kleinen Schwester ginge, je weniger Ängste und Schuldgefühle hätte sie selbst haben müssen. Sie ärgerte sich über ihre egoistischen Gedankengänge, aber sie konnte sich nicht dagegen wehren. Da war sie mit sich selbst ehrlich genug.

      Im Anschluss an den Pilates-Kurs in Luz de Tavira traf sie sich turnusmäßig mit ihren Freundinnen im Café Rainha in Pedras d’el Rei zum „Damenkränzchen“, wie sie es selbst­ironisch nannten.

      Martina rutschte gleich zu Anfang heraus, dass es ihr zunehmend mehr zu schaffen mache, dass Marko so selten zuhause sei und sie sich alleine in der großen Anlage nicht wirklich wohl und dazu noch beobachtet fühle.

      Schon als es ihr über die Lippen gekommen war, bereute sie, ihre Emotionen in die Runde getragen zu haben. Sofort entspann sich