Birgit Berndt

LOTSENGOLD


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sie vom Kindergarten abholten und anschließend liebevoll betreuten. Merle war gern bei ihren Großeltern, aber manchmal wünschte sie sich, dass ihre Mutter mehr Zeit für sie hätte. Britta hätte das einerseits auch gern gehabt, aber andererseits liebte sie ihren Beruf und konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, diesen aufzugeben. Dazu kam, dass sie Geld verdienen musste. Sie seufzte, es ist nun mal wie es ist, damit müssen Merle und ich eben klarkommen.

      Britta war gleich nach der Schule zur Polizei gegangen und fleißig und kontinuierlich ihrem Weg nach oben gefolgt. Seit einigen Jahren war sie Kommissarin und damit Chefin eines kleinen Teams. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten wurde sie heute uneingeschränkt respektiert und sorgte mit ihrer symphatischen Art für ein entspanntes Verhältnis zu ihren Untergebenen.

      Sie war eine attraktive Frau, hatte bis auf die Größe verblüffende Ähnlichkeit mit Ingrid Bergman, was sicher auf ihre schwedischen Wurzeln zurückzuführen war. Meist war sie ausgeglichen und mit ihrem Leben bis auf die wenige Zeit für Merle zufrieden, was sie auch ausstrahlte. Nur manchmal ging ihr Temperament mit ihr durch, dann konnte sie richtig schäumen vor Wut, wofür sie sich hinterher meist schämte und blumenreich entschuldigte. Sie lächelte in sich hinein, wer ist schon perfekt?

      Das Telefon klingelte und sie landete unbarmherzig in der Wirklichkeit. Nanu, wer ist das denn um diese Zeit, murmelte Britta vor sich hin, offiziell ist Sonntagabend doch niemand im Büro. Leider verfügte die Dienststelle noch über ältere Telefone ohne Display, auf dem die Nummer des Anrufers zu sehen war und daher zögerte sie für einen kurzen Moment, den Hörer abzunehmen. Dann siegte ihre Neugier und sie meldete sich: „Britta Ohlsson, Kommissariat Stralsund.“

      „Oh, Frau Ohlsson, gut, dass ich sie erreiche, hier ist Walter Jensen von der Dienststelle in Golddorf. Entschuldigen sie die Störung, aber da ich weiß, dass sie manchmal auch Sonntags im Büro sind, habe ich es einfach versucht. Es geht um Folgendes: Ein anonymer Anrufer erzählte von einem Schuss, den er angeblich gehört haben will in Bahrenhoop oder Umgebung.“

      „Ja und?“

      „Nun, mehr wissen mein Kollege und ich auch nicht. Der Anrufer sprach nur von einem Schuss. Was sollen wir tun?“

      „Hm, da draußen sind doch auch Jäger auf der Pirsch, soweit ich weiß. Kann es nicht sein, dass einer von ihnen geschossen hat?“

      „Ja, könnte theoretisch sein, aber bei solchem Sauwetter wie heute abend ist das eher unwahrscheinlich, außer...,“ Jensen zögerte weiterzusprechen.

      „...was außer?“ hakte Britta nach,

      „außer es war ein Wilderer unterwegs, für den wäre dieses Wetter ideal.“

      „Verstehe, und, haben Sie jemanden im Visier?“

      „Nicht direkt, ich weiß auch nur von Gerüchten, die in der Gegend kursieren. Nichts Konkretes, nur, dass wohl manchmal Wilderer auf der 'Tannennadel' zuschlagen.“

      „Wo bitte? Sie reden in Rätseln.“

      „Na hier, auf der langgestreckten von dichtem Wald, hauptsächlich eben Tannen, bestandenen Insel zwischen Ostsee und Bodden, dem Bahrenhooper Kliff vorgelagert. Wird im Volksmund 'Tannennadel' genannt.“

      „Und wie heißt sie wirklich?“

      „Keine Ahnung, ansonsten wird einfach von 'der Insel' gesprochen und dann wissen auch alle, was gemeint ist.“

      „Sagen sie Herr Jensen, steht die 'Tannennadel',“ Britta Ohlsson nahm sich vor die Insel von jetzt ab auch so zu nennen, „nicht unter Naturschutz? Die darf doch meines Wissens niemand betreten, außer einmal im Jahr die Vogelschützer, oder bin ich da falsch informiert?“

      „Nein, nein, das stimmt offiziell, aber es gibt leider immer wieder Ignoranten, die sich über das Verbot hinwegsetzen,“ etwas trotzig fügte er hinzu, „wir können uns ja nicht nur um die Insel kümmern, haben auch sonst genug Arbeit.“

      Britta lächelte, „schon gut Herr Jensen, das weiß ich doch, sollte kein Vorwurf sein,“ beschwichtigte sie den Kollegen, „waren sie denn nach dem anonymen Anruf auf der Insel und haben nach dem Rechten gesehen?“

      „Ja, waren wir, mein Kollege Peter Braumann und ich. Konnten aber keinerlei Spuren entdecken, alles war rundrum vollkommen zugeschneit und verweht. Wir haben nichts gefunden, noch nicht mal einen Anhaltspunkt. Natürlich könnte der Schuss auch im Bahrenhooper Wald gefallen sein. Dort etwas zu finden entspräche der berühmten Stecknadel im Heuhaufen, denn auch im Wald wären bei dem Wetter heute die Spuren längst verweht. Also, komplett Fehlanzeige.“

      Das sah Britta ein, sie kannte Bahrenhoop und die Umgebung von Sonntagsausflügen mit ihrer Familie. Eine traumhafte Gegend, ideal für Erholungssuchende.

      „Danke, Herr Jensen, für die rasche Information und ihren tapferen Outdoor-Einsatz. Mehr ist heute nicht drin, ich komme morgen früh zu ihnen raus nach Golddorf, dann hören wir uns mal um. Sie kennen doch die Bewohner und wissen sicher, wo wir mal unverbindlich nachfragen können. Ach übrigens, ein neuer Kollege wird mich begleiten, der morgen früh seinen ersten Dienst bei uns antritt. Ich kenne ihn auch noch nicht, wir dürfen also gespannt sein. Grüßen sie Ihren Kollegen Braumann und einen schönen Abend.“

      Jensen atmete hörbar auf, „alles klar, Frau Ohlsson, ich erwarte sie dann morgen früh auf der Dienststelle. Sie wissen ja, dass entweder Braumann oder ich möglichst auf der Polizeistation bleiben müssen um die Stellung zu halten. Nur wenn's gar nicht anders geht, sind wir zu zweit unterwegs. Wir wünschen Ihnen auch einen schönen Abend.“

      Damit beendete er das Gespräch und nickte Braumann freundlich zu, um ihm zu signalisieren 'alles paletti'.

      *

      Frauke parkte den zuverlässigen Justy vor ihrer kleinen Wohnung in der Frankenstraße, die glücklicherweise einigermaßen geräumt war. Auf der Fahrt war ihr warmgeworden, sie hatte Falk's Anorak abgestreift und sich etwas beruhigt. Sie öffnete die Fahrertür, klappte die Lehne zurück und angelte ihren Rucksack vom Rücksitz. Den Anorak ließ sie im Auto liegen. Es war immer noch sehr kalt, aber hier in Stralsund schneite es wenigstens nicht mehr, was sie erstaunt und erfreut feststellte. Was jedoch nicht hieß, dass in Bahrenhoop auch kein Schnee mehr fiel, denn in Ponrow war eine Wetterscheide.

      Im fahlen Licht der Schneereflektion war sie auf den gut geräumten Straßen rasch vorangekommen. Ihre Spuren auf der Insel waren hoffentlich längst unter einer dicken Schneeschicht begraben und darüberhinaus verweht. Frauke schulterte schwungvoll ihren Rucksack, schloss das Auto ab, klopfte ihm liebevoll auf den Kotflügel, während sie flüsterte „braves Auto, danke, hast mich gut hergebracht,“ und wandte sich zu ihrer Haustür. Sie setzte den Rucksack ab und begann darin nach ihrem Hausschlüssel zu wühlen. Warum verschluckten diese Dinger immer alle wichtigen Sachen? Jedes Mal diese blöde Sucherei.

      „Na, Frau Nachbarin, so leicht bekleidet bei dieser Kälte? Wo haben Sie denn Ihren Mantel und die schöne passende Mütze gelassen?“

      Vor Schreck glitt ihr das soeben geangelte Schlüsselband aus der Hand und fiel zurück in die Tiefe des Rucksacks. Erschrocken sah sie sich um und ihre Anspannung machte sich Luft, indem ihr der Geduldsfaden riss: „Was geht das Sie an?“

      Entwaffnend lächelten sie zwei freundliche braune Augen umgeben von vielen Lachfältchen besorgt an: „Genaugenommen nichts,“ nahm der Mann ihr sogleich den Wind aus den Segeln, „es fiel mir nur auf, weil ich Sie vorhin habe wegfahren sehen.“

      Schnippisch antwortete sie: „Haben Sie nichts anderes zu tun, als andere Leute zu beobachten?“

      „Oh doch, natürlich, aber wenn ich jemanden nett finde, der auch noch neben mir wohnt, achte ich auf denjenigen, in diesem Fall Sie. Sie wirken etwas verstört. Brauchen Sie Hilfe?“

      „Nee,“ fertigte Frauke den besorgten Nachbarn schroff ab. Der ganze aufgestaute Frust der vergangenen Stunden brach sich jetzt erst so richtig Bahn. Es traf natürlich wie meist, den Falschen. Aber sie konnte sich einfach nicht beherrschen.

      Anton Kaldroweit sah ein, dass es wenig