Birgit Berndt

LOTSENGOLD


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Endlich mal was los in diesem Kaff, was meinst du wie die darauf anspringen. Könnte ja der unbekannte Wilderer geschossen haben.“

      „Und wenn schon, dann hätte Gesche schnell Hilfe. Die wüssten was zu tun ist.“

      „Du kapierst überhaupt nichts, wir sind die Blöden, unerlaubt auf der Insel und eine angeschossene kleine Schwester, prima, eingewickelt in deinen Daunenmantel, bestückt mit deinem Schal und deiner Mütze, noch besser. Meinst du nicht, dass dafür ziemlicher Erklärungsbedarf bestünde? Ach du Scheiße,“ Falk schlug sich mit der flachen Hand gegen die Stirn, „auch das noch, wir haben die Kiste vergessen.“

      „Scheiß' auf die Kiste, du Idiot. Die ist mir jetzt wirklich vollkommen schnurzpiepegal, ich kapier' echt nicht, wie du jetzt daran denken kannst, ist doch wirklich völlig unwichtig. Dann gibt’s eben 'ne Ordnungsstrafe, na und? Es geht um Gesche, und um nichts anderes, klar?“

      „Wie du meinst!“

      Falk und Frauke eilten schweigend und mit verbissenen Gesichtern über den vereisten Bodden und stemmten sich gegen den Schneesturm, der stärker blies als vorhin. Wie kleine Nadeln stachen die Schneekristalle in die Haut.

      Was machte das schon im Vergleich zur armen Gesche, die sie und ihr Bruder verletzt und allein auf der Insel zurückgelassen hatten. Stumm erreichten sie den kurzen Strandabschnitt, fühlten festen Boden unter ihren Füßen und wandten sich zu Falk's kleinem Holzhaus.

      Frauke sah auf ihre Armbanduhr, insgesamt waren seit ihrer Ankunft auf der Insel mehr als eineinhalb Stunden vergangen. Es kam ihr viel länger vor. War das wirklich alles passiert oder hatte sie nur geträumt? Nein, leider kein Traum, sondern traurige Wahrheit.

      Sie sah durch einen Vorhang dichter Schneeflocken zurück auf die Insel, die friedlich im Dunkel des anbrechenden Abends dalag. Die ganze Umgebung verschwamm zu einer undurchdringlichen Masse und auch die Lotsenhäuser waren kaum noch erkennbar. Sie lenkte ihren Blick dann traurig auf den eilig vor ihr hergehenden Falk, von dem sie immer gedacht hatte, dass sie sich bedenkenlos auf ihn verlassen könnte.

      Irgendetwas war vorhin in ihr zerbrochen, zum erstenmal hatte sie bewusst wahrgenommen, wie sich ihr großer Bruder seit seinem langjährigen Aufenthalt in den kanadischen Wäldern, wo er als Holzfäller gutes Geld verdient hatte, zu seinem Nachteil verändert hatte. Was auch kommen würde, nie wieder könnte sie sich vertrauensvoll an Falks breite Schultern lehnen und geborgen fühlen.

      Frauke dachte an das ungute Gefühl, mit dem sie die Insel betreten hatte. Sie nahm sich fest vor, in Zukunft mehr auf solche Empfindungen zu achten.

      *

      „Wo kommst du denn her?“ fragte Sonja Rammer ihren Mann Hilmar, während sie im Türrahmen der warmen Stube lehnte, als er zitternd vor Kälte zur Haustür reinkam, nachdem er seine Skier abgeschnallt und an die Hauswand gelehnt hatte.

      „Woher schon,“ raunzte er seine Frau an, „geht dich doch nichts an.“

      „Komm' erstmal rein,“ sie gab die Stubentür frei, „ich darf ja wohl noch fragen, oder?“

      „Nee, lass mich bloß in Ruhe.“

      Er pellte sich aus seiner grünen Lodenjacke, hängte sie an die Garderobe, ebenso das Gewehr. Händereibend betrat er die warme Stube. Sonja folgte ihm.

      „Sag mal,“ versuchte sie es erneut, „hast du den Schuss gehört? Hast am Ende etwa du geschossen? Oder was war das sonst für ein Geräusch?“

      Hilmar zuckte unmerklich zusammen und antwortete mürrisch: „Klar hab' ich das gehört, war ja laut genug.“

      „Warst du auf der Insel?“

      „Quatsch, ich geh' nich' mehr auf die Insel, das weißt du doch!“

      Sonja sah ihren Mann eindringlich an. „Ja, du sagst, du gehst nicht mehr hin, aber woher weiß ich denn, dass das auch stimmt?“

      „Glaubst du mir etwa nich'? Das wird ja immer schöner. Bring' mir lieber was zu essen. Hast du 'ne heiße Suppe?“

      „Hab ich, du Sturkopp.“

      Sie verschwand Richtung Küche. Hilmar ging zum Wandschrank, nahm die Schnapsflasche raus und und goss sich 'nen Lütten ein. Während der Klare durch seine Kehle lief spürte er eine wohlige Wärme. Er setzte sich an den Tisch, stellte die Schnapsflasche und das Glas neben sich und stützte seinen Kopf in die Hände. So fand ihn Sonja, als sie mit der Suppe reinkam.

      „Muss das sein, am späten Nachmittag schon Schnaps? Irgendwas ist nicht in Ordnung mit dir. Das seh' ich doch.“

      Sie stellte die Terrine, Teller und Besteck auf den Tisch, nahm den Schöpflöffel und füllte ihm reichlich Suppe auf den Teller. Hilmar schlug mit der Faust auf die Tischplatte, dass alle Gegenstände in die Höhe hüpften und die Suppe über den Tellerrand schwappte, lief knallrot an und brüllte: „Ein für alle Mal, Sonja, lass' mich mit deinem Geschwafel in Ruhe und schnüffel mir nicht immer hinterher. Ich war am Kliff und damit basta. Bring mir lieber 'n Bier, als hier rumzusülzen.“

      Sonja schwieg. Sie kannte die Wutausbrüche ihres Mannes, von denen sie sich kaum noch beeindrucken ließ. Im Grunde genommen hatte er einen weichen Kern, den er unter einer rauhen Schale zu verstecken suchte. Irgendetwas war vorgefallen, das spürte sie. Bestimmt war er wieder zum Wildern auf der Insel gewesen. Klar brachte das heimliche Erlegen von Rotwild und Wildschweinen gutes Geld in die Kasse. Aber trotzdem, ihr wäre es lieber gewesen, Hilmar würde endlich mit dem Wildern aufhören. Bei sich fürchtete sie immer, dass irgendwann was passieren und er in große Schwierigkeiten geraten würde. Vielleicht war dieser Moment jetzt gekommen?

      *

      Gesche kam langsam zu sich und fror erbärmlich. Sie schlotterte am ganzen Körper, ihre linke Schulter pochte und schmerzte fürchterlich. Sie befühlte ihren Körper, ob ihr sonst was fehlte. Nein, nichts, nur die Schulter schmerzte und sie zitterte wie Espenlaub vor Kälte. Da, was war das, sie tastete vorsichtig mit der rechten Hand und fühlte etwas Weiches. Fraukes Mantel, damit hatte ihre Schwester sie notdürftig zugedeckt, auf der Schulter lag säuberlich zusammengefaltet ihr Schal und ihren Kopf bedeckte Fraukes Mütze.

      Es schneite zwar immer noch, aber spärlicher. Glücklicherweise war es nicht völlig dunkel, da der Schnee reflektierte und dadurch die Lichtung erhellte. Was war passiert? Wo war sie? Langsam kam die Erinnerung. Richtig, sie war auf der Insel, aber wo waren Frauke und Falk? Ihre Lippen formten die Namen, aber heraus kam nur ein heiseres Krächzen. Niemand hier, sie war mutterseelenallein.

      Gesche versuchte aufzustehen. Ihre Beine gaben nach und kraftlos fiel sie zurück auf die schneebedeckte Erde. Zitternd und bibbernd angelte sie Fraukes Mantel zu sich, der bei dem Versuch aufzustehen zu Boden gerutscht war und schlüpfte darunter. Hoffentlich kam bald jemand um sie zu holen. Sie fühlte sich so furchtbar hilflos und allein. Panik erfasste sie und Tränen rollten über ihre Wangen. Wahrscheinlich hatte sie schon ziemlich viel Blut verloren, der Schal fühlte sich feucht an, oder war er nur schneenass? Das konnte sie in dem diffusen Licht nicht erkennen. Schlapp und eiskalt wie ihr war, würde sie nicht mehr lange durchhalten.

      Oh, mein Gott, Falk und Frauke konnten sie doch hier nicht einfach verrecken lassen. Nein, das würden sie bestimmt nicht tun. Vermutlich waren sie schon unterwegs, um Hilfe zu holen. Das musste einfach so sein, beruhigte sie sich tapfer. Bei ihrer Ausbildung zur Stewardess hatte sie gelernt, in Notsituationen Nerven und Ruhe zu bewahren. Bei anderen war das auch kein Problem, aber bei sich selbst sah die Sache anders aus. Sie begann vor sich hin zu wimmern.

      Minuten dehnten sich zu Stunden. Sie wollte nicht sterben, nicht so und nicht jetzt. „Bitte, bitte, lass diesen Albtraum vorübergehen“, betete sie vor sich hin. Das hatte sie schon lange nicht mehr gemacht. Ihre Kräfte schwanden zusehends, wieder versank sie in einer unruhigen Ohnmacht.

      *

      Stumm betraten Frauke und ihr Bruder das Holzhäuschen am Waldrand, das sich Falk nach seiner Rückkehr aus Kanada gekauft hatte. Er knipste eine Tischlampe an und entzündete mit schnellen sicheren Handgriffen