Birgit Berndt

LOTSENGOLD


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entsprechend reizbar. Hatte er Probleme? Heute morgen hatte er bei ihr angerufen, ziemlich früh, sie war noch im Bett, schließlich war Sonntag. Energisch hatte er sie hierher nach Bahrenhoop bestellt.

      „Frauke, du musst heute nachmittag unbedingt auf unsere Insel kommen.“

      „Ach Falk, muss das sein? Bei diesem Schietwetter hab' ich nun wirklich keinen Bock durch die Gegend zu fahren. Es ist so gemütlich zuhause, ich möchte einfach hierbleiben und mich mit heißem Tee und einem spannenden Buch einkuscheln.“ Auf Wein verzichtete sie momentan, was ihr auch gar nicht schwerfiel und wofür sie ihre Gründe hatte.

      „Mir ist überhaupt nicht nach einem Ausflug und im Radio haben sie vor starkem Schneefall gewarnt und überhaupt, ich.....“

      Falk schnitt ihr das Wort ab: „Papperlappapp. Wozu hast du schließlich ein Allradauto. Stell dich nicht so an. Du tust gerade so, als wären die knapp fünfzehn Kilometer von Stralsund hieraus eine Weltreise. Ich erwarte euch um 16.00 Uhr.“

      „Euch? Kommt Gesche auch?“

      „Weiß ich nicht, zumindest habe ich sie auf dem Handy angerufen und sie wollte auf jeden Fall versuchen, zu kommen.“

      „Extra aus Hamburg?“

      „Keine Ahnung, sie hat nicht gesagt wo sie ist. Fluch und Segen der fortschrittlichen Technik. Immer und überall erreichbar. Ach noch was,“ fuhr Falk fort, „bevor ich es vergesse, zieh' was Helles an, damit du auf dem Eis nicht zu sehen bist.“ Frauke grinste, er spielte mal wieder den großen Bruder.

      „Wäre ich nie drauf gekommen, du Schlaumeier, ich dachte eher an was Leuchtendes, Auffälliges....“

      „Spar dir deine Ironie, war doch nur ein Tipp.“

      „Ja, weiß ich, hab's nicht so gemeint, ist mir einfach rausgerutscht. Ich bin augenblicklich einfach nicht gut drauf. Mir graut vorm Autofahren im Winter, das weisst du.“

      „Da musst du durch, wir sehen uns heute Nachmittag, ich rechne mit dir, es ist wirklich wichtig.“

      Bevor sie weitere Einwände vorbringen konnte, beendete Falk das Gespräch kurzerhand. Frauke hatte sich an seine Vorgabe gehalten und einen hellen Daunenanorak mit Kapuze angezogen, unter der sie ihre dunklen Locken verbarg, die ihr rundes Gesicht umspielten. Zusätzlich trug sie eine farblich dazu passendeWollmütze. Ihr Aussehen ähnelte stark dem Shirley Temples, allerdings mit strahlend blauen Augen. Außerdem hatte sie sich einen hellen dicken Wollschal umgeschlungen. In diesem Aufzug würde sie mit dem Schnee und der Dämmerung zu einer unsichtbaren Masse verschmelzen. Darunter trug sie eine Daunenweste, einen dicken Wollpullover, noch gestrickt von Fine, ihrer verstorbenen Mutter, Wollsocken und dicke Stiefel. Nichts wärmte ihrer Erfahrung nach so gut wie reine Wolle. Wahrscheinlich sah sie aus wie ein Michelin-Männchen, zumal sie ohnehin zur Pummeligkeit neigte, aber das war ihr schnurz, frieren ging gar nicht. Nach ihrer Auffassung kam Wärme eindeutig vor Aussehen.

      Die dunkle Silhouette der naturgeschützten Insel kam näher. Eigentlich war es strengstens verboten, sie zu betreten. Als Schutz für das Kliff hatte sie eine wichtige Funktion. Für sie und ihre Geschwister gab es in Kindertagen keinen schöneren Abenteuerspielplatz. Um das Verbot kümmerte sich damals niemand, auch ihr Vater nicht. Jäger hatten offiziell Zutritt, durften auf die Jagd gehen, hielten den Bestand an Wildschweinen und Rotwild im Zaum. Hinter vorgehaltener Hand wurde weithin gemunkelt, dass auch Wilderer bei Nacht und Nebel reiche Beute fanden. Gefasst worden war jedoch noch keiner. Obwohl ganz in der Nähe der altehrwürdigen Hansestadt Stralsund gab es hier draußen eigene Gesetze. Wo kein Kläger, da kein Richter, so einfach war das. Durch die Wende hatte sich vieles geändert. Bahrenhoop war zu einem beliebten Wohnort und sommerlichen Ausflugsziel geworden, viele Segler besuchten den kleinen Hafen.

      Gleich daneben begann der Nationalpark, eine einmalige Natur- und Kulturlandschaft. Frauke, ihr älterer Bruder Falk, ein Hüne mit kurzgeschnittenen schwarzen Haaren und stechend blauen Augen, die stark an einen Husky erinnerten und ihre jüngere Schwester Gesche, zierlich, aber zäh, mit glatten blonden Haaren und dunklen Augen, kümmerten sich nicht um das Verbot. Wenn sie wollten, trafen sie sich auf der Insel wie eh und je. So wie heute!

      Einem Impuls folgend blieb Frauke abrupt stehen und sah hinüber zu den Lotsenhäusern, die dunkel dalagen und hinter dem dichter werdenden Schneeschleier gerade eben noch zu erkennen waren. Wirklich dunkel? Da, was war das? Ihr schien es als wäre im Sundermannschen Haus ein Hauch von Licht oder Feuer zu erkennen. Ganz schwach nur......nein, sie musste sich täuschen, die Dämmerung gaukelte ihr etwas vor. Greta war verreist, nach den Ereignissen der vergangenen Wochen war sie völlig fertig gewesen, wollte irgendwo zur Ruhe kommen und sich erholen, das hatte sie selbst gesagt. Aber vielleicht hatte sie es sich überlegt und war doch zuhause geblieben....?

      *

      Just in diesem Moment legte Greta Sundermann im alten Lotsenhaus das Fernglas zurück auf die Fensterbank, wo es immer zum Gebrauch bereit lag, wie Frieder es bestimmt hatte. Eine Gewohnheit, die sie beibehielt. Sie war nicht weggefahren, sondern hatte sich genügend Lebensmittel und was sonst notwendig war liefern lassen und sich anschließend komplett zurückgezogen. Tagelang ging sie noch nichtmal aus dem Haus, ließ sich hineinfallen in ihre Trauer um Frieder. Manchmal schwelgte sie in Erinnerungen, dann wieder ließ sie ihren Tränen freien Lauf. Ganz langsam begann sie sich besser zu fühlen und nun das!?

      Falk, Frauke und Gesche trafen sich also an ihrem Geheimplatz auf der Insel. Das musste einen wichtigen Grund haben, bei dieser eisigen Kälte, dem einsetzenden Schneefall und dazu noch in der ersten Dämmerung. Oder gerade deshalb? Alle drei waren hell gekleidet, clever, Greta hatte wirklich Mühe gehabt, sie auszumachen und erst nach langem Fokussieren war sie sich sicher, wer da auf dem Weg zur Insel war.

      Klar wusste sie, dass die Geschwister auch als Erwachsene immer mal wieder heimlich auf der Insel waren. Im Sommer schwammen sie hinüber, obwohl es wegen der Strömung in der Fahrrinne echt gefährlich war und im Winter gingen sie über das Eis. Offenbar brauchten sie diesen Kick. Da die Leute großen Respekt vor Frieder hatten, traute sich niemand, gegen die heimlichen Besuche vorzugehen, sie wurden einfach geduldet. Sogar von den beiden Dorfpolizisten Walter Jensen und Peter Braumann auf der kleinen Polizeistation in Golddorf.

      Die Geschwister ahnten in keiner Weise, dass ihr sogenannter Geheimplatz auf der Insel alles andere als geheim war und dass auch Greta längst davon wusste. Denn gleich nachdem sie ins Lotsenhaus gezogen war, hatte sie die Geschwister dabei beobachtet, wie diese einmal im Sommer hinüberschwammen. Darüber hatte sie sich natürlich gewundert und Frieder einfach direkt gefragt. Der hatte ihre Vermutung bestätigt, sie aber gebeten, vor den Kindern so zu tun, als wüsste sie nichts davon. Es sei besser für sie, Greta, dieser Geheimplatz sei die 'heilige Kuh' der drei.

      Gretas Verhältnis zu Falk und Frauke war von Anfang an eher vordergründig, mit wenig Tiefgang. Beide fanden sich nur schwer damit ab, dass Frieder und sie nach Fines Tod geheiratet hatten. Eine Stiefmutter in ihrem 'Lotsenhaus' passte ihnen gar nicht. Gesche, das Nesthäkchen hatte sich gefreut, eine 'Stiefmutter' zu bekommen und sie voll akzeptiert, worüber Greta sich ganz besonders freute. Frauke und Falk hatten Frieder zuliebe so eine Art Burgfrieden mit ihr geschlossen, das klappte in den vergangenen Jahren recht gut. Nun war Frieder, der Vermittler und das Bindeglied zwischen ihnen, tot und wie weit es in Zukunft einen Zusammenhalt zwischen ihr und den beiden Älteren geben würde, war völlig offen. Wenn bloß nicht auch Gesche sich jetzt unter dem Einfluss von Falk und Frauke von ihr abwandte. Das könnte sie nicht ertragen.

      Mühsam löste sie sich vom Fenster und ging traurig die Treppe runter in die große Wohnküche, wo im Kamin ein munteres Feuer brannte und wohlige Wärme sie umfing. Der Schmerz wurde nahezu unerträglich, sie war allein, ganz allein. Niemals mehr würde Frieder, ihre große Liebe, sie in den Arm nehmen und trösten, wie nur er es gekonnt hatte. Mit hängenden Schultern setzte sie sich an den großen Küchentisch und spürte, dass sich der Graben zwischen ihr und den Geschwistern zusehends vergrößerte. Das mühsam geknüpfte, ohnehin schwache Band zeigte erste Risse.

      Warum zum Teufel trafen sich die drei heute abend auf der Insel? Blitzartig wurde ihr klar, dass Gesche, Frauke und Falk ja meinten, sie sei nicht da. Also sollte sie von