Birgit Berndt

LOTSENGOLD


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auch wirklich genützt hat. Wir müssen abwarten, mehr können wir jetzt nicht tun außer vielleicht,“ er unterbrach sich, bevor er leise hinzufügte „beten!“

      Brüsk drehte er sich um, nahm seine Tasche, die er auf den Boden gestellt hatte während er seinen Mantel anzog und die Mütze aufsetzte und wandte sich zur Tür. Bevor er rausging, drehte er sich noch einmal um: „Bis morgen früh ihr beiden, viel Glück.“

      Sonja und Hilmar sahen sich vielsagend und zum ersten Mal seit langer Zeit verständnisvoll an und bereiteten sich innerlich auf eine lange Nacht vor.

      *

      Als Frauke und Falk die Insel erreichten, kamen sie zu spät. Schon von weitem hatten sie gerufen, aber keine Antwort erhalten. Als sie die Lichtung betraten, sahen sie sofort, dass Gesche verschwunden war. Es konnte noch nicht lange her sein, dass irgendwer sie abtransportiert hatte. Obwohl der Schnee immer noch dicht fiel und den Ort des grausamen Geschehens mehr und mehr zudeckte, war bei genauem Hinsehen noch zu erkennen, wo Gesche gelegen hatte. Fraukes Mantel war auch weg.

      „Scheiße, sie ist weg,“ war Falks einziger Kommentar.

      „Ja, das sehe ich auch, wir sind zu spät gekommen. Wo kann sie bloß sein? Nicht, dass sie versucht hat auf's Festland zu kommen und auf dem Weg dorthin zusammengebrochen ist, hilflos auf dem Eis liegt und langsam erfriert? Mein Gott, ich mache mir solche Sorgen. Was sollen wir nur tun?“ Frauke schlug die Hände vors Gesicht und konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten.

      „Hör' auf zu heulen, das hilft uns auch nicht weiter,“ reagierte Falk schon wieder schroff auf ihren Ausbruch.

      Plötzlich wollte sie nur eins, weg von der Insel, weg von Falk, zurück in ihre kleine Wohnung und ihren Gefühlen freien Lauf lassen, heulen, wenn ihr danach war und nichts mehr sehen und hören. Sie sehnte sich nach Wärme, Ruhe und einer Nachricht von Gesche. In den vergangenen Stunden war einfach zu viel auf sie eingeprasselt, die Sorge um ihre kleine Schwester drohte sie zu ersticken.

      „Danke für dein Verständis, ich bin einfach total fertig, das war's dann wohl,“ damit drehte sie sich abrupt um und rannte so schnell es auf dem Eis möglich war zurück nach Bahrenhoop.

      Völlig überrascht von diesem Ausbruch rief ihr Falk hinterher: „Warte, warte doch, es war nicht so gemeint.“

      Leise für sich murmelte er, ich bin auch fertig. Kraftlos ließ er die Arme sinken und verließ wie in Zeitlupe ebenfalls die Insel, wandte sich aber gleich in die Richtung zu seinem Haus. Das Walter Jensen und Peter Braumann die Insel von der Aussichtsplattform her ansteuerten, bemerkte er nicht.

      *

      Frauke ging nicht zum Strandabschnitt wie vorhin, sondern kletterte völlig außer Atem über die Molensteine. Da sah sie es, das Polizeifahrzeug. Waren Jensen und wie hieß der andere noch, ja richtig, Braumann, waren die beiden Polizisten etwa hier?

      Wahrscheinlich hatten die den kürzesten Weg vom Aussichtspunkt zur Insel gewählt, sonst wären sie sich womöglich noch mitten auf dem Eis begegnet. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Dem Schneetreiben sei Dank. Sie beruhigte sich ein wenig. Jensen war ein erfahrener Polizeibeamter und würde bestimmt alles Notwendige veranlassen. War der Schuss etwa in Golddorf zu hören gewesen? Oder waren sie von wem auch immer informiert worden? War der Schuss überhaupt der Grund für das Auftauchen der Polizei in Bahrenhoop? Fragen über Fragen.

      Was soll's, dachte sie, wenn sie nur erst zuhause wäre, dann würde ihr Hirn hoffentlich wieder funktionieren und Brauchbares produzieren. Frauke stolperte mehr als sie ging zum Parkplatz und fand statt eines Autos einen Riesenhaufen Schnee. Notdürftig säuberte sie die Fahrertür, fischte ihren Schlüssel aus der Hosentasche und hoffte inniglich, das Schloss möge nicht zugefroren sein. Sie hatte Glück, angelte Handfeger und Eiskratzer hinter dem Rücksitz vor und machte sich in wilder Eile ans Werk. In diesem Tempo hatte sie ihren treuen Justy noch nie von Schnee und Eis befreit.

      Der Parkplatz war nicht geräumt, hoffentlich schaffte es ihr kleiner blauer Flitzer bis zur Straße. Komm' Kleiner, lass mich jetzt nicht im Stich und als hätte das Auto ihren Seufzer gehört sprang er wie ein Örgelchen an. Was für ein beruhigendes Geräusch. Er wühlte sich langsam aber kontinuierlich vor bis zur Straße und die war, dem Himmel sei's gedankt, auf ihrer Seite bereits geräumt. Erleichtert lenkte sie das Auto nach links, Richtung Stralsund. Ein Ungetüm mit grellen Scheinwerfern kam ihr entgegen, der Schneepflug, der dabei war, die andere Fahrbahnseite zu räumen.

      Sie kam zügig voran. Sonst begegneten ihr keine weiteren Fahrzeuge. Wer wollte denn auch bei solch einem Sauwetter mit dem Auto unterwegs sein, wenn er nicht unbedingt musste. Die Ruhe vor dem Sturm? Das war ihr vollkommen egal, alle Blechkisten und Hexagone dieser Welt konnten ihr gestohlen bleiben, das Erbe ihres Vaters hatte plötzlich keine Bedeutung mehr. Sie dachte nur an Gesche und hoffte inständig, dass ihre kleine Schwester in Sicherheit war. Frauke schämte sich abgrundtief, wenn sie an ihre Reaktion auf der Insel dachte. Was war bloß los gewesen mit ihr? Sie fand keine Erklärung.

      Die größte Enttäuschung aber war Falk, ihr großer Bruder. Klar, er hatte sie zu Boden gezogen und damit vielleicht gerettet, aber um Gesche hatte er sich einen Dreck geschert, selbst als sie verletzt zusammengebrochen war. Wie ein Fremder war er ihr mit seinem eiskalten Verhalten vorgekommen. Nur das Erbe hatte er offenbar im Sinn gehabt, und wäre Gesche .....nein, daran wollte sie nicht denken, wenn Gesche tot gewesen wäre, hätte er das Erbe nur durch zwei teilen müssen, wäre ihm das gelegen gekommen? Nein, das wollte sie nicht glauben, aber er hatte einen Stachel in ihr Herz gebohrt, der würde wohl bleiben.

      Was hatte er bloß gegen seine kleine Schwester. Ihr fiel ein, dass er schon immer auf Gesche rumgehackt hatte. Ja, es stimmte, sie war genaugenommen nicht direkt ihrer beider Schwester. Frieder hatte sie als Baby in Fine's Obhut gegeben, da Gesches Eltern, gute Freunde Frieders, bei einem Autounfall tödlich verunglückt waren. Na und, sie war mit ihnen zusammen aufgewachsen und für sie, Frauke, war Gesche von Anfang an die kleine Schwester gewesen, Punkt! Ja, es stimmte, wenn sie jetzt zurückdachte, war Falk Gesche gegenüber immer reserviert, ja oft sogar richtig eklig gewesen, allerdings nur, wenn weder Frieder noch Fine in der Nähe waren. Die ahnten nichts von Falks Gefühlen. Wieso hatte er Gesche dann überhaupt heute nachmittag dazugeholt?

      *

      Kommissarin Britta Ohlsson saß an diesem Sonntagabend an ihrem Schreibtisch und beobachtete die rieselnden Schneeflocken vor ihrem Fenster. Sie hatte schon einen vorwitzigen Ausblick von ihrem Büro hoch oben im alten Speicher auf der Hafeninsel. Über den Sund sah sie direkt zur Insel Rügen. Heute jedoch verschwamm diese hinter einem Schneeschleier, ebenso wie Altefähr, der kleine Ort am Südrand der Insel.

      Eine angenehme Stille hüllte sie ein, kein geschäftiges Treiben unten wie im Sommer, auch die Schiffe konnten seit einigen Wochen nicht mehr fahren, der Strelasund war zugefroren. Britta fühlte sich privilegiert, während ihrer Bürostunden einen solch wunderbaren Ausblick zu haben und es fiel ihr hin und wieder echt schwer, sich davon loszureißen.

      In den vergangenen zwei Stunden hatte sie einiges aufgearbeitet, was im Tagesgeschäft an Schreibkram liegengeblieben war, aber dennoch erledigt werden musste. Britta schob solche Arbeiten gerne auf, weil sie viel lieber unterwegs war oder recherchierte, als lästige Berichte zu schreiben, Formulare auszufüllen oder ähnliches. Aber auch das gehörte zum Polizeiberuf und musste irgendwann gemacht werden. Alles konnte sie auch nicht auf ihre Kollegen abschieben. Offiziell war sie schon weg, hatte sich bereits ausgetragen, aber sie wollte noch einen Moment einfach dasitzen, den Schneeflocken zuschauen und nachdenken.

      Britta und ihre kleine Tochter Merle lebten in einer Zweizimmerwohnung in der Seestraße, also nur ein paar Schritte von ihrem Büro auf der Hafeninsel entfernt. Die Wohnung lag aber im Erdgeschoss und sie hatte keinen freien Blick auf's Wasser, da Bäume ihr diese Sicht versperrten.

      Diese unverstellte Aussicht hatte sie nur von ihrem Bürofenster aus, weshalb sie gelegentlich auch nach getaner Arbeit, wenn sie allein war, auf ihrem Stuhl sitzenblieb und nachdachte oder träumte. Merles Vater hatte sie kurz nach der Geburt des Kindes verlassen und so zog sie das Mädchen alleine groß. Britta liebte