Birgit Berndt

LOTSENGOLD


Скачать книгу

mit ihren Fingern auf den Tisch.

      „Fernow.“

      „Na endlich Gerd, hier ist Sonja, komm' bitte mit deinem Köfferchen schnellstmöglich zu uns. Es ist dringend, sagt jedenfalls Hilmar. Er ist mit einem Verletzten zu uns auf dem Weg.“

      „Nun mal langsam,“ Gerd Fernows Stimme klang leicht schleppend, „warum soll ich um diese unchristliche Zeit, bei dichtem Schneefall und Eiseskälte so einen Ausflug unternehmen?“

      Sonja wurde ungeduldig. „Weil es um Leben und Tod geht, und um meinen Mann,“ kam es flüsternd hinterher, „irgendetwas Schlimmes ist passiert und ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.“

      Die Stimme von Dr. Fernow wechselte den Tonfall. „Also gut, ich habe zwar schon gemütlich ein Gläschen getrunken, aber wat mut, dat mut, damit kann ich öm, weiss' ja. Kanns' auf mich zählen, Sonja-Mä'chen. Wahrscheinlich is' der Verletzte auch unterkühlt, also sorge bitte für warmes Wasser, ein warmes Bett und heißen Tee. Verantwortung kann ich aber nich' übernehm'. Du weiss' ja warum. Alles klar?“

      „Hat Hilmar mir auch schon aufgetragen. Ja, is' klar, Gerd, bitte komm schnell.“

      „Ich eile, liege offenbar richtig, mit meiner Vermutung. Bis gleich.“

      Dr. Gerd Fernow hatte schon als junger gut ausgebildeter Allgemeinarzt vor vielen Jahren eine Praxis in Golddorf eröffnet. Landärzte waren rar und daher lief die Praxis hervorragend. Bis ihm vor zwei Jahren ein Fehler unterlaufen sein sollte, eine angebliche Fehldiagnose mit fatalen Folgen. Ein junger Patient sollte angeblich aufgrund von Fernow's Fehler gestorben sein. Fernow war sich sicher gewesen, richtig gehandelt zu haben, aber das Gericht hatte das anders gesehen, ihn schuldig gesprochen und 'nur' zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dadurch verlor er jedoch seine Approbation und damit auch seine Praxiszulassung.

      Ein junger Arzt rückte nach und eröffnete im Dorf alsbald wieder eine Praxis, die ebenso wie ehemals Fernow's, gut lief. Gerd Fernow hatte Glück im Unglück, da er gerade alt genug war, um in Rente zu gehen. Aber immer wenn er an dieses schreckliche Ereignis dachte, kroch nackte Wut darüber in ihm hoch, dass er für einen Fehler verurteilt worden war, den er nicht gemacht hatte und damit für den Rest seines Lebens ein Makel an ihm haftete. Deshalb trank er häufig mehr als ihm guttat, weshalb ihn zu allem Unglück auch noch vor wenigen Monaten seine Frau verlassen hatte. Die Einsamkeit bekam ihm überhaupt nicht und daher war er froh, dass er zeitweise immer noch gebraucht wurde. Bei Notfällen im privaten Umfeld half er weiterhin zuverlässig, worüber die Betroffenen wohlweislich schwiegen.

      Offiziell durfte Gerd Fernow das ja nicht mehr, aber nichts desto trotz war er ein guter und erfahrener Arzt. Wie in all den Jahren vorher stand seine Tasche mit den Utensilien gefüllt im Flur, die er für einen Notfall brauchte. Dadurch war er jederzeit einsatzbereit, so wie jetzt. Der neue Arzt wusste das, drückte aber beide Augen zu, weil er ohnehin mehr als ausgelastet war.

      Dr. Gerd Fernow schnappte sich die alte verwitterte Arzttasche, die ihn schon so lange Jahre treu begleitete, löschte das Licht bis auf eine kleine Tischlampe, damit es nachher, wenn er zurückkam ein bißchen freundlich aussah. Er zog im Flur seinen dicken Wintermantel an, nahm Handschuhe und Mütze vom Regal und ging in seine Garage.

      Wieder einmal bemerkte er wohlwollend, was das im Winter für ein Luxus war. Kein Schneefegen und Eiskratzen, nur das Garagentor öffnen, ins einsatzbereite Auto einsteigen und losfahren. Heute hielt er in der Einfahrt nochmal an und schloss das Garagentor. Musste ja nicht jeder sofort merken, dass er unterwegs war.

      Die Leute redeten schnell und er hatte keine Lust auf größere Schwierigkeiten. Hatte so schon genug zu verkraften. Andererseits hätte er es bei einem Anruf wie vorhin auch nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können, gemütlich zu Hause zu bleiben, wenn ein Mensch in großer Gefahr war. Trotz aller Probleme nahm er den Eid des Hippokrates immer noch sehr ernst, den er zur bedingungslosen Erhaltung des menschlichen Lebens zwar nicht offiziell geschworen hatte, der aber bis heute als Grundlage der ärztlichen Berufsethik galt und Dr. Gerd Fernow fühlte sich daran gebunden.

      Gespannt darauf, was ihn erwartete steuerte er seinen Geländewagen sicher auf die Dorfstraße und fuhr in Richtung Labertin. Die Straße dorthin zweigte von der Hauptstraße ab und war sicher nicht geräumt. Bloß gut, dass ich diesen prima Allrad-Jeep habe, mit dem ich sogar auf ungeräumten Straßen problemlos fahren kann, freute er sich wieder mal. Hier auf dem platten Land im Winter unerlässlich, das hatte ihn die jahrelange Erfahrung als Landarzt gelehrt.

      *

      „Warum um alles in der Welt fährt bei diesem Schietwetter noch ein Auto durchs Dorf? Komisch, wer das wohl ist?“ fragte Walter Jensen in der kleinen Polizeistation in Golddorf gerade seinen Kollegen Peter Braumann, als das Telefon klingelte.

      „Polizeiobermeister Walter Jensen am Apparat,“ meldete der sich ungehalten.

      „Ein Schuss, sicher ist ein Schuss gefallen, vor gut einer Stunde. Wahrscheinlich auf der Insel. Isser wohl wieder wildern,“ tönte eine nuschelnde Stimme aus der Muschel.

      „Nu' mal langsam, was für ein Schuss und wer ist wildern? Wer sind Sie überhaupt?“

      „Das tut nichts zur Sache, ich sag's nur, damit ihr Bescheid wisst."

      „Hallo, sie, sagen sie mir Ihren Namen.“

      „Nee,“ sagte der Anrufer und hatte einfach aufgelegt.

      „Mist, Schietkram, das war ja mal ein saublöder Anruf, wenn ich das richtig gehört habe von einem Mann.“

      Walter Jensen legte bedächtig den Hörer auf die Station zurück. Sein Kollege Peter Braumann musterte ihn verständnislos. „Mensch Walter, was ist denn los, du bist ja ganz blass um die Nase.“

      „Peter, ich fürchte, wir müssen nochmal raus, womöglich sogar zur Insel rüber, irgendwas stimmt da nicht. Was auch immer, aber nachgucken müssen wir. Hilft alles nichts.“

      „Bei diesem Wetter, spinnst du jetzt komplett? Da jagt man doch keinen Hund vor die Tür,“ empörte sich Braumann.

      „Stell' dich nicht so an, du Jungspunt, ich hab' da so einen Verdacht,“ antwortete Jensen unbeeindruckt, „nichts wie rein in die warmen Klamotten und los. Vielleicht hängt das sogar mit dem Auto zusammen, das gerade bei uns vorbeigefahren ist.“

      Brummelnd komplettierte sich Braumann, während Jensen im Rausgehen sein Equipment schnappte und auf dem Weg zum Dienstwagen die Jacke überzog. Beim Freischaufeln würde ihnen schon warm werden. Normalerweise sollten sie ja ihr Fahrzeug startklar halten. Aber bei diesem Wetter hatten weder Jensen noch Braumann damit gerechnet, noch zu einem Einsatz zu müssen.

      Walter Jensen war als Obermeister der Chef der kleinen Polizeistation in Golddorf und Peter Braumann als Polizist sein Untergebener. Durch den immensen Altersunterschied klappte die Zusammenarbeit gut. Walter stand kurz vor der Pensionierung und Peter war ein junger Hüpfer. Fast wie Vater und Sohn.

      Walter betreute seit über zwanzig Jahren die Außenstelle der Polizei in Golddorf. Er kannte jeden Dorfbewohner mit Namen und war bei den Leuten beliebt, weil er sehr unkonventionell war, was ihm hin und wieder Schwierigkeiten mit seiner vorgesetzten Dienststelle in Stralsund brachte. Was wussten die Städter schon vom Dorfleben?

      Peter war seit drei Jahren dabei und eigentlich ziemlich grummelig, dass er auf so ein kleines Dorf versetzt worden war. Mit der Zeit begann er jedoch sich in dem kleinen Ort wohlzufühlen und die Vorzüge des Landlebens zu genießen. Mit Walter hatte er einen erfahrenen und verständnisvollen Chef. Es war richtig gemütlich hier, denn außer ein paar Verkehrsdelikten, gelegentlichen Streitereien der Dorfbewohner untereinander und hier und da Problemchen mit den Feriengästen passierte nicht viel und die Tage liefen gleichmäßig dahin. Obwohl erst Mitte dreißig, merkte Peter, dass ihm dieses beschauliche Leben gefiel. Stralsund war ja nicht weit und er konnte wann immer er wollte dort hinfahren, wenn ihm nach Stadt war. Nur heute, ja heute wäre er wirklich tausend Mal lieber in der warmen Wachstube geblieben. Aber es half nichts, Dienst war Dienst und wenn Walter dienstlich wurde, dann gab es kein Pardon.

      „Wo