Stephan Diederichs

Panikhort


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Bastian konnte sich das nicht vorstellen und er wollte es an diesem wundervollen Tag auch nicht.

      Eine verirrte Wolke schob sich vor die erbarmungslose Sonne. Der Wetterfrosch im Radio hatte für heute den heißesten Tag der Woche angekündigt. Bastian mochte die Hitze nicht. Dann schwitzte er mehr als sonst und fühlte sich beim Rennen schneller schlapp. Er sah zum klapprigen Liegestuhl hinüber, auf dem sein Vater japsend saß. Egon hatte die Augen geschlossen. Das Hemd spannte sich über seinen großen, gewölbten Bauch. Nicht schon immer war er so korpulent gewesen. Bastian erinnerte sich an eine Zeit, da war er beinahe so schlank gewesen wie seine Mutter. Bei der Erinnerung daran, kam Bastian nicht umhin zu grinsen. Muss wohl an den vielen Süßigkeiten liegen, dachte er vergnügt.

      Sein Blick folgte einer Wespe, die um ein Blatt über seinem Kopf herumtanzte. Dann flog sie in einem weiten Bogen zu den bunten Stiefmütterchen neben der Schaukel. Bastian seufzte zufrieden. Es war ein wunderbarer Tag für ihn. Zuerst hatte sein Vater mit ihm eine Runde Federball gespielt. Dabei war Egon rücklings in das Gemüsebeet getreten und hatte sich prompt eine Predigt von Conny eingehandelt. Wenig später war er auch noch über seine eigenen Füße gestolpert und auf den harten, vertrockneten Rasen aufgeschlagen. Bastian hatte so heftig gelacht, dass er Seitenstiche bekommen hatte. Schließlich hatten sie lieber Fangen gespielt und sich dabei so sehr verausgabt, dass Bastian schwindelig geworden war.

      Er liebte solche Nachmittage mit seinen Eltern. Oft spielten sie fangen, Monopoly oder malten zusammen. Jedes Mal durchflutete ihn ein Gefühl der Wärme und Geborgenheit, weil sie sich so viel Zeit für ihn nahmen und nicht arbeiten, das Haus putzen oder den Rasen mähen mussten. Beide waren in diesen Stunden nur für ihn da und hörten ihm aufmerksam zu, wenn er von den Treffen mit Mark berichtete oder darüber, wie er auf den höchsten Baum im Wald geklettert war. Diese Nachmittage waren eine wunderbare Abwechslung zur öden Schule, wo er lernen musste, Buchstaben und Zahlen richtig zu schreiben.

      Conny lugte zwischen den Lamellen an der Terrassentür hervor und kam mit einem vollen Tablett heraus. Sie reichte Egon ein neues Glas kühles Wasser und er trank gierig wie ein Hund, der nach Tagen der Entbehrung zum ersten Mal eine Pfütze entdeckt. Sie beugte sich zu ihrem Mann herunter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, das Bastian nicht verstehen konnte. Dann lachte sie laut auf. Bastian musste ebenfalls schmunzeln. Wann immer seine Mutter lachte, sah es aus, als würde eine wunderhübsche Elfe aus einem Märchen die Lippen verziehen. Selbst sein Vater sagte immer, wie schön das Lächeln seiner Frau war.

      Conny wirbelte herum und eilte zu ihrem Sohn, der sie mit einem Lächeln besah, und setzte sich neben ihn. Auch er nahm einen kräftigen Schluck. Die kalte Apfelschorle ließ ihn wohlig brummen. Es fühlte sich fantastisch an. Bastian brauchte nicht viel, um glücklich zu sein. Ein Tag mit seinen Eltern und seinem Lieblingsgetränk reichten da meist aus. Er knuffte seine Mutter in den Oberarm.

      „Aua“, schrie sie gekünstelt auf und schubste ihren Sohn, dem dabei fast die Apfelschorle aus der Hand gefallen wäre. Beide mussten herzhaft lachen. Bastian nahm einen weiteren Schluck. Anschließend rülpste er aus tiefer Kehle, nahm den Daumen an die Stirn und reckte den kleinen Finger hinaus. „Schulz“, rief er und musste erneut kichern, sodass ihm die restliche Schorle aus der Nase tröpfelte.

      „Du bist wie dein Vater!“, tadelte Conny ihn mit gespielter Entrüstung. Normalerweise beanstandete sie ein solch rüpelhaftes Verhalten, heute aber war es ihr offensichtlich gleichgültig. Was er aber besonders schätzte, war die Tatsache, dass er mit ihr über alles reden konnte, was ihn belastete. Neulich war er mit einem dunklen blauen Fleck am Bein und einer Schürfwunde am Kopf nach Hause gekommen und als er ihr erklärt hatte, dass Tom, ein hinterhältiger, fetter Junge aus der Nachbarschaft, ihn geschlagen hatte, hatte sie ihn tröstend in den Arm genommen. Er schrie nicht wegen jeder Schramme nach seiner Mutter, aber es tat ihm gut zu wissen, dass sie für ihn da war.

      Mit seinem Handrücken wischte Bastian sich den Schweiß von der kirschroten Stirn. Er fühlte sich schläfrig von der Anstrengung und ließ sich zufrieden brummend auf den Rasen gleiten, das letzte Stückchen grün im Schatten der Eiche, das die Hitze noch übrig gelassen hatte. Ein warmer Strom durchfloss seinen Körper, der nichts mit den heißen Temperaturen zu tun hatte. Eine Wärme, die ihn umklammerte, wie eine Umarmung seiner Mutter. Mit geschlossenen Augen lauschte er seinen Erinnerungen an den wundervollen Tag.

      Das war der Tag, nachdem sich Bastians Leben für immer verändern sollte. Der letzte Tag, an dem seine Eltern glücklich waren – und der letzte Tag, an dem Bastian sich leicht und unbeschwert fühlte.

      1. Kapitel 02. Juni 2015

      Es war wieder einer dieser verhassten Montage und trotz des frühen Morgens brachte die Sonne, die schon durch die Wolken lugte, schwülwarme Luft mit sich. Gedankenverloren stellte Bastian das Foto in dem selbstgebastelten Rahmen zurück auf den schweren Beistelltisch und ließ sich in die Kissen seines weichen Bettes zurücksinken. Früher hatte dieser einmal nett ausgeschaut mit seiner leuchtend roten Farbe, heute war das Holz zerkratzt und das Rot sah aus wie getrocknetes Blut. Trübsinnig dachte Bastian, dass der Tisch sich seinem Leben angepasst hatte.

      Seit jenem Tag, an dem er zum letzten Mal etwas mit seinen Eltern unternommen hatte, waren mittlerweile sieben Jahre vergangen. Sieben Jahre, in denen sich sein Leben und allen voran seine Eltern grundlegend verändert hatten. Noch einmal warf er einen wehmütigen Blick auf das Foto. Es zeigte ihn an besagtem Tag, wie er mit seinem Vater Federball spielte. Geschossen hatte es seine Mutter, wie man unschwer erkennen konnte. Es war verwackelt und überbelichtet.

      Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Bastians knochiges, verhärmtes Gesicht. Schwerfällig, wie an jedem Morgen in letzter Zeit, trottete er zum Schrank hinüber. Er entschied sich für ein blaues T-Shirt mit einem grauen Gorilla darauf und eine verschlissene Jeans, wie sie viele aus seiner Klasse trugen.

      „Ein bisschen Beeilung, Bastian. Der Schulbus wartet nicht auf dich!“, raunzte seine Mutter vom Flur herauf, gedämpft durch die geschlossene Tür seines Zimmers.

      „Meine Fresse, darf ich mir die Hose noch anziehen?“, erwiderte Bastian giftig.

      „In fünf Minuten bist du unten, hast du mich verstanden? Und gewöhn dir solche Schimpfwörter ab.“

      Er setzte sich auf sein Bett und schlug das Hosenbein, das er sich gerade überstreifte, besonders laut auf den Boden. „Man, nerv‘ mich nicht. Du kannst nichts außer rumzumeckern.“

      „Ich müsste nicht so viel schimpfen, wenn du nicht jeden Morgen trödeln würdest!“

      Er wollte etwas Bissiges erwidern, aber seine Mutter war schon wieder nach unten gelaufen. Er kannte das, so verliefen ihre Begegnungen typischerweise. Wo Bastian und Conny früher stundenlang Zeit zusammen verbracht und geredet hatten, wechselten sie jetzt oft nur wenige, spitze Worte. Und diese mündeten nicht selten in einen Streit. Bastians Muskeln verspannten sich und sein Herz raste wütend, wenn er daran dachte, dass seine Mutter in der Küche auf ihn wartete. Er legte keinen Wert darauf, heute Morgen mit ihr zu reden.

      Vor dem Spiegel neben dem Schrank zog er sich an. Er streifte sich das Shirt über seinen spindeldürren Oberkörper, aus dem die Rippen hervorstachen wie die Stäbe eines Xylophons. Für seine vierzehn Jahre war er klein; vor allem störte ihn aber, dass er so schmächtig war. Die meisten anderen in seiner Klasse überragten ihn zumeist um eine Kopflänge. Und beim Sportunterricht hatte er letztens neidvoll erkennen müssen, dass ein paar Jungs bereits definierte Bauch- und Brustmuskeln hatten, während er immer noch einen kindlich flachen Bauch durch die Gegend schleppte.

      Mit einem Kamm wühlte er durch sein zerzaustes braunes Haar, das sich im Schlaf dazu entschieden hatte, sich wild um seinen Kopf zu schlängeln. Seine blasse Haut zog sich über seinen Schädel wie eine Totenmaske. Bastian fand sich hässlich. Unweigerlich kam ihm eine Situation aus der Schule in den Sinn, in der Kim Welsh, ein hübsches Mädchen aus seiner Klasse, ihn genau wegen seines schlechten Aussehens abgewiesen hatte. Sie hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie mit einem solch abstoßenden Jungen wie ihm niemals gehen würde. Sie hatte es nicht laut gesagt, aber Bastian hatte an ihrem angewiderten Blick gesehen, dass er seine Frage besser nie