Stephan Diederichs

Panikhort


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einer Abfuhr zu entgehen.

      „Bastian! Komm jetzt runter oder du kannst zur Schule laufen! Der Bus fährt gleich“, rief Conny von unten herauf.

      Bastian schnaubte. Wenigstens ist dir so etwas wichtig, dachte er. Wie ich am schnellsten aus dem Haus komme.

      Am liebsten hätte er sein Zimmer nicht verlassen. Dieser Raum war für ihn eine Art Höhle geworden, in die er sich zurückziehen konnte. Hier zu sein bedeutete für ihn, seine Mutter nicht sehen zu müssen, die ihm ständig nur Vorwürfe machte.

      Den Rucksack auf den Rücken geschnallt, trat er hinaus in den Flur, der dunkler war als eine sternenlose Nacht. Kein Fenster spendete diesem Korridor Licht. Er tastete wie ein Erblindeter nach einem Lichtschalter und lief die knarzenden Treppen hinunter, die in den unteren Flur führten, an dessen Ende sich die Tür zur Küche befand. Er hielt inne und überlegte kurz, ob er einfach ohne Frühstück zur Schule aufbrechen sollte. Sein Magen entschied anders. Die Küche war klein und vollgestopft mit einem ovalen Tisch in der Mitte. Dahinter befanden sich Herd und Kühlschrank, die zwischen wuchtigen Schränken eingepfercht waren. Über der Arbeitsfläche thronten Hängeschränke, die wie zu groß geratene Legobausteine wirkten und die Küche noch enger wirken ließen.

      Wie Bastian erwartet hatte, stand Conny mit missbilligender Miene hinter dem Tisch, die Hände in die Hüften gestemmt. Bastians Augenlid zuckte. Er wartete nur darauf, dass seine Mutter in einem Tobsuchtsanfall anfangen würde zu keifen. Stattdessen rollte sie mit den Augen, ging zurück an den Herd und kratzte in der Pfanne herum. Eine braune Strähne löste sich aus ihrem Haarknoten und fiel ihr ins Gesicht. Sie legte die Stirn angestrengt in Falten, wie sie es immer tat, wenn sie irgendetwas nervte. Bastian war drauf und dran zu fragen, was los sei, entschied sich dann aber dagegen. Es interessierte sie schließlich auch nicht, was ihn bekümmerte.

      „Was ist?“, blaffte Conny und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Willst du nicht mal langsam essen, anstatt mich die ganze Zeit anzustarren?“ Sie drehte ihm den Rücken zu, holte Wurst aus dem Kühlschrank und warf sie vor ihm auf den Tisch.

      Dieses Mal war es Bastian, der mit den Augen rollte. Eine eher harmlose Reaktion im Vergleich zu den letzten Auseinandersetzungen. „Mach das nochmal und du kannst gleich abhauen“, sagte sie gereizt, nahm den Spülschwamm von der Arbeitsplatte und warf ihn ins Wasser. Sie setzte sich schnaubend auf den Stuhl neben ihm und blickte aus dem Fenster.

      Bastian musste sich beherrschen, nicht etwas Grobes zu erwidern. Er wollte sich nicht schon am frühen Morgen mit seiner Mutter streiten, da ihm dazu einfach die Lust und die Kraft fehlten.

      Vor einigen Jahren hatten sie meist gemeinsam gefrühstückt. Doch mittlerweile war es Conny offenbar gleichgültig geworden, sich zu ihm zu gesellen. Und wenn sie mit ihm redete, hatte sie meist nur etwas an ihm zu bekritteln. Immer wieder hatte sie gemeint, dass er sowieso zu nichts zu gebrauchen sei und nichts könne. Während eines Streits in seinem elften Lebensjahr gipfelte das in eine Äußerung Connys: Sie hätte sich gewünscht, dass er niemals geboren worden wäre. Mit einem Kloß im Hals war Bastian in sein Zimmer gerannt, hatte verzweifelt auf sein von Tränen feuchtes Kissen eingedroschen und sich gewünscht zu sterben. An diesem Abend war etwas in ihm zerbrochen. Seitdem stand er jeden Morgen mit den gleichen schweren Gliedern, der gleichen inneren Leere auf, mit der er am Abend zuvor zu Bett ging.

      Bis heute konnte er sich nicht erklären, weshalb seine Mutter auf einmal so abweisend und fies geworden war. Er hatte sich immer wieder gefragt, ob sie ihn nicht mehr liebte. Zwar hatte sie das nie laut gesagt, aber ihre Reaktionen ließen ihn oft zweifeln. Irgendetwas musste es mit ihm zu tun haben, da war er sich sicher. Warum sonst hatte sie sich so stark verändert? Bis vor wenigen Jahren hatte sie ihm täglich vor dem Zubettgehen und bevor er zur Schule gegangen war gesagt, dass er ihr leuchtender Stern gewesen sei. Sie liebte ihn nicht mehr. Zunehmend gewann die Überzeugung eine erdrückende Kraft in ihm. Sein Hals schnürte sich zu und seine Augen wurden von den ersten Tränen feucht. Er blickte rasch auf seine Füße, die er unter dem Stuhl gekreuzt hatte, damit seine Mutter seinen Gefühlsausbruch nicht mitbekam.

      Warum weine ich jetzt? Es ist mir doch scheißegal, ob sie mich liebt oder nicht. Oder waren ihm ihre Zurückweisungen doch nicht gleichgültig? An diesem Morgen wünschte er sich nichts sehnlicher, als noch einmal sieben Jahre alt zu sein und von seiner Mutter in den Arm genommen zu werden. Ja, er vermisste dieses Gefühl der Zuneigung, aber sein Stolz verbat es ihm Schwäche zu zeigen.

      „Wo ist Papa?“, erkundigte er sich beiläufig und hob den Kopf.

      „Die Frage kannst du dir selber beantworten! Und wenn du jetzt nicht gleich isst, schmeiß ich es weg und du kannst mit hungrigem Magen zur Schule gehen.“ Ihre giftigen Augen spießten ihn auf, als besäße sie einen unsichtbaren Speer.

      Umgehend bereute er es, überhaupt danach gefragt zu haben. Unsicher warf er einen Blick auf die Uhr; sie zeigte kurz nach sieben an, auch für seinen Vater eine eher ungewöhnlich frühe Zeit, um zur Arbeit aufzubrechen. Wahrscheinlich hat er es auch nicht mehr mit Mama ausgehalten, dachte er, nicht ohne ein wenig Genugtuung zu empfinden.

      „Tschuldigung, dass ich frage.“

      „Was ist denn jetzt schon wieder falsch?“ Sie klopfte sich mit ihren Fingern auf die Knie und schob den Unterkiefer drohend nach vorne. Bastian fand, dass sie so einem angriffslustigen Falken glich, der eine Maus mit seinen Krallen packen und mit seinem Schnabel zerfetzen wollte.

      „Ach, ist jetzt auch egal. Ich hab noch zu tun.“ Sie wirbelte vom Stuhl hoch und ging zurück zur Spüle.

      Ich habe zu tun. Noch so ein Spruch, den sie ständig brachte, wenn sie aufgebracht war. Sie und Papa haben sich ganz sicher wieder gestritten.

      Mürrisch kaute Bastian auf seinem Toast herum. Angewidert spuckte er es zurück auf den Teller; die Unterseite war schwarz und schmeckte wie eine alte Schuhsohle.

      „Was soll denn das jetzt wieder? Du bist doch keine fünf Jahre alt mehr, verdammt noch Mal!“, polterte Conny, fuhr herum und blitzte ihn zornig an.

      „Das Toast ist völlig verbrannt.“

      „Dann mach es selber, du undankbarer Nichtsnutz.“

      Conny hieb mit der flachen Hand auf den Tisch. Bastian zuckte zusammen, in Erwartung einer weiteren Diskussion, warum er sich erdreistete, sie in diesem Ton anzusprechen.

      „Ich bin es langsam leid, dass du ständig Widerworte gibst. Ich mache alles für dich und das Einzige, was ich zu hören bekomme, sind irgendwelche Unverschämtheiten von dir. Sieh zu, dass du abhaust, ehe ich mich vergesse.“

      Bastian betrachtete das Funkeln in ihren scharfen, blauen Augen, das schon früher Ärger bedeutet hatte. Jedoch war sie ihn damals nie in einem solch schneidenden Ton angegangen, wie sie es heutzutage zu tun pflegte.

      Sein Herz pochte wie eine Trommel. Im Grunde wollte er nichts lieber tun als auszuflippen, ihr den Teller ins Gesicht zu schleudern oder eine ihrer kostbaren Vasen zu zertrümmern. Wenn er sich vorstellte, wie sie kreidebleich vor Entsetzen auf die übergebliebenen Scherben äugte, empfand er plötzliche Freude. Er entschied sich aber, sich schweigend zu erheben und einfach den Raum zu verlassen. Vor seiner Mutter wollte er sich nicht die Blöße geben, ihr zu zeigen, wie sehr ihn ihre Bemerkungen getroffen hatten.

      „Besser ist das. Sieh zu, dass du schnell zur Schule kommst!“, schrie Conny ihm hinterher.

      Bastian lehnte sich gegen die weiße Wand im Treppenhaus. Ein schwerer Stein schien anstelle seines vollgestopften Kopfes auf seinen Schultern zu hängen. Eine nervöse Unruhe erfasste ihn, flatternde Gedanken rasten an ihm vorbei wie ein Porsche auf einer Autobahn. In seinem Magen breitete sich ein eigenartiges Kribbeln aus, als wäre seine Magensäure eine heiße, überlaufende Quelle. Er würde nichts lieber tun, als wieder zurück ins Bett zu gehen und den grässlichen Tag an sich vorbeiziehen lassen.

      Sein Herz stocherte noch immer wild in seiner Brust herum. Ihm wurde übel, bis er sich auf einen festen Punkt an der Treppe konzentrierte. Dann atmete er tief durch. Die Luft im Flur war muffig, was am uralten Teppich liegen musste, der an den Ecken bereits