Stephan Diederichs

Panikhort


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Licht der großen, gebogenen Laterne. Bastian wurde unruhig. Was konnte der Junge von ihm wollen? Er war sich ziemlich sicher, ihn noch nie zuvor gesehen zu haben und dennoch kam er ihm unheimlich vertraut vor. Angestrengt versuchte er sich zu erinnern.

      Die Dämmerung brach über die Stadt herein. Die Sonne war bereits hinter den Dächern verschwunden und die Häuser warfen lange Schatten auf die Straße. Der Himmel im Westen hatte sich blutrot verfärbt. Bastians Mutter würde jetzt sagen, dass die Engel Brot backten. Der Wind raschelte durch die leblosen, vertrockneten Blätter der Platane, die unweit von Bastian entfernt im Vorgarten stand, und riss ihn aus seinen verträumten Gedanken.

      Der Unbekannte rührte sich nicht von der Stelle und hatte den Blick zu Boden gesenkt. Wenn ich doch bloß sein Gesicht erkennen könnte, dachte Bastian. Unruhig lief er die knarzende Veranda eines schäbigen Hauses auf und ab, welches sich hinter ihm im Zwielicht aufbäumte, immer wieder vorbei an der Eingangstür, die schief in den Angeln hing. Über ihn spannte sich ein hölzernes Vordach. Das Holz war verwittert und wies an vielen Stellen Risse auf, so als hätte jemand von innen heraus versucht das Holz zu sprengen. Die Fenster waren so verschmutzt, dass sie wie graue Vorhänge wirkten, die der Besitzer jahrelang nicht gewaschen hatte.

      Trotz des noch hellen Abendlichts wirkte die Umgebung düster und einschüchternd. Bastian hätte es nicht verwundert, wenn um die nächste Ecke eine Horde Schlägertypen aufgetaucht wäre. Die Häuser auf- und abwärts der Straße wirkten fast alle unbewohnt. In einem davon waren die Scheiben eingeschlagen worden und im Vorgarten rankten mannshohe schwarze Rosen. Sie reckten ihre schaurigen Blüten der schwächer werdenden Sonne entgegen. Nur in zwei Häusern brannte dämmriges Licht. Ein Schrei fuhr durch Bastians Glieder. Er konnte nicht hören, von wo er ertönte, doch es schauderte ihn. Besser, er entfernte sich nicht allzu weit von der Veranda.

      Bastian lehnte sich über das Geländer und beobachtete den Jungen eine Weile. Er trug eine graue Jeans, die an den Knien verschlissen war, und einen blauen Kapuzenpullover, den er sich tief ins Gesicht gezogen hatte. Vollkommen entspannt kam der Fremde Bastian vor, was er von sich selbst nicht zu behaupten wagte. Er fühlte sich ausgelaugt und spürte deutlich den inneren Widerstreit. Zum einen war Bastian neugierig, wollte dem Unbekannten den Kapuzenpulli vom Kopf ziehen und ihn fragen, was er von ihm wollte. Zum anderen war da jedoch die Angst, eine alles lähmende Angst, dass er ihm etwas antun könnte. Bastian lief abermals auf der Veranda hin und her, unsicher, was er tun sollte. Schließlich entschied er sich dazu, Mut zu beweisen und den Jungen anzusprechen.

      „Wer bist du?“, rief er aus sicherer Entfernung und umklammerte das Geländer noch fester, da er bedrohlich wankte.

      Der Unbekannte schob bloß die Hände in die Hosentasche und kramte nach etwas, das Bastian nicht sehen konnte. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund, eine gelbe Flamme entzündete den Glimmstengel und ließ sie glühend rot aufleuchten.

      Es begann zu regnen und rasch weinte es Sturzbäche, obwohl nur wenige Wolkenfetzen über den Himmel glitten. Bastian begriff nicht, was hier geschah. Eine Frage war noch dringlicher, als die nach dem plötzlich auftretenden Schauer. Warum bewegte sich der Junge nicht? Er hob nur gelegentlich die Hand zum Mund, um einen Zug zu nehmen und kräuselte die Lippen, um den Rauch hinauszupusten.

      Die Laterne begann zu flackern und in Bastian stieg die Furcht auf, wie Blasen in einem Wasserglas. Er war nicht sonderlich erpicht darauf, alleine im Zwielicht mit diesem Fremden zu sein. Selbst jetzt, wo die Laterne zu erlöschen drohte, blieb er einfach stehen, ohne aufzublicken.

      Plötzlich wurde alles dunkel. Die flackernde Lampe zerbarst mit einem lauten Zischen und die Scherben rieselten auf den Kopf des Jungen nieder, der nicht einmal zuckte. Die Dämmerung verschwand augenblicklich am Horizont und wich einer schwarzen Nacht, sodass Bastian nicht einmal mehr seine Füße und Hände erkennen konnte. Selbst die Lichter in den kargen Häusern waren erloschen. Die Sterne über ihnen funkelten auf einmal rot statt weiß. Bastian klappte der Mund vor Entsetzen auf.

      „H-Hallo?“, krächzte er in die Finsternis. Niemand antwortete ihm.

      Dann brach ein helles Licht durch die Dunkelheit. Bastian hielt sich die rechte Hand vor die Augen, um nicht geblendet zu werden. Zwei leuchtende Punkte, funkelnden Saphiren gleich, bewegten sich wippend auf ihn zu. Der Schweiß lief ihm die Stirn herunter und tropfte in seine Augenbrauen. Er atmete stoßweise und war bedacht davonzurennen, aber seine Beine wollten nicht gehorchen. Er spürte einen Luftzug und schrak zusammen.

      „Komm mit mir!”, vernahm er eine dunkle, raue Männerstimme, die dem Fremden gehören musste. Im fadenscheinigen Licht erkannte er einen Fetzen des blauen Kapuzenpullis. Die tiefe Stimme überraschte ihn, hatte er doch vermutet, dass der Junge kaum älter als er selbst sein konnte.

      Eine Hand packte ihn am Ärmel und Bastian schlug mit der Faust auf den Arm des Fremden ein, doch der Junge war stärker und zog ihn mühelos den Weg entlang, der vom Haus zur Straße führte. Er wollte Schreien, aber nur ein müdes Krächzen entfuhr seinen spröden Lippen. Bastian versuchte es erneut, doch wieder brachte er nur ein jämmerliches Fiepen hervor.

      „Wo bringst du mich hin?“, brachte Bastian angsterfüllt hervor. Der Fremde blieb stehen.

      „Stell nicht so eine dumme Frage und beweg dich lieber!“, sagte er barsch und grub seine Fingerspitzen schmerzhaft in Bastians Schulter, dessen Knie unter dem Druck einknickten. Er lief weiter.

      Es war zu dunkel, um zu erkennen, wohin es ging. Bastian wurde panisch. Er war dem Unbekannten hilflos ausgeliefert und niemand war in der Nähe, um ihm zu helfen.

      Die Straße machte eine scharfe Kurve und er wurde unsanft zur Seite gerissen. Beinahe wäre er hingefallen, konnte sich aber gerade noch aufrecht halten, während der Junge sein Opfer mitleidlos weiterzerrte. Eine der Straßenlaternen flackerte wieder auf, spendete dumpfes Licht und Bastian erschrak bei dem sich ihm bietenden Anblick. Jetzt endlich konnte Bastian das Gesicht seines Entführers sehen und stellte fest, dass er, aus der Nähe betrachtet, um einiges älter aussah. Er hatte Bartstoppeln, die sich wie eine Kette von seinem linken bis zu seinem rechten Ohr zogen, und er roch stark nach Zigarettenqualm. Sein scharfes Kinn und seine spitzen Wangenknochen verliehen ihm das Aussehen eines wachsamen Falken, kurz bevor er Beute machte. Alles in allem sah er aus, als hätte er bereits in jungen Jahren seine beste Zeit hinter sich gehabt.

      Bastian rümpfte die Nase und beäugte ihn abfällig. Solch einem Typen würde man in dieser Stadt normalerweise nicht einmal am Bahnhof begegnen. Bastian dachte angestrengt nach, wie er sich befreien konnte. Als hätte er seine Gedanken erahnt verstärkte der Unbekannte seinen Griff.

      Rasch veränderte sich die Umgebung. Plötzlich war Bastian nicht mehr mit einem Fremden zusammen, sondern befand sich allein auf einem gepflasterten Hof, umgeben von hohen Bäumen, die in der Nacht bedrohlich wirkten, wie stumme, in dunkle Mäntel gehüllte Riesen. Er warf einen ängstlichen Blick nach hinten, doch außer einem großen, elfenbeinfarbenen Gebäude, das unverkennbar seine Schule sein musste, war nichts zu erkennen.

      Der Mond schien kugelrund vom Himmel auf ihn hinab und tauchte das Schulgebäude in helles Licht. Bastian atmete schwer und der Dunst stieg wie ein Nebelschleier vor seinem Gesicht auf. Außer ihm schien sonst niemand auf dem Hof zu sein. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, ging auf die gläserne Flügeltür zu, die zur Aula führte, als neben ihm im Gebüsch etwas raschelte. Augenblicklich blieb er stocksteif stehen und drehte sich zögerlich nach links. Er wollte davonlaufen, doch aus irgendeinem Grund verharrte er reglos in der kühlen Nacht und starrte gebannt auf den Vorhang aus verwobenen Ästen. Langsam bewegte er sich auf die kahle Hecke zu, die sich erneut bewegte. Eine dunkle Kapuzengestalt sprang daraus hervor und richtete sich vor Bastian auf. Ihm gefror der Atem und er wich ein paar Schritte zurück. Dann zog die Gestalt die Kapuze zurück und Bastian blickte verwundert in das Gesicht von Tobi. Der blonde Junge funkelte ihn mit vorwurfsvollen Augen an, brachte jedoch kein Wort heraus.

      „Was machst du hier?“, fragte Bastian und sein Herz schlug höher, doch Tobi antwortete ihm nicht, sondern sprintete einfach los und rannte an ihm vorbei zur Mitte des Hofes.

      „Hey“, schrie Bastian ihm hinterher. Tobi hielt auf die Basketballkörbe vor der Sporthalle zu, die