Stephan Diederichs

Panikhort


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      2. Kapitel

      „Du bist so ein verdammtes Mädchen!“, krächzte Tobi. Er war ein fieser Junge aus Bastians Klasse, der keine Gelegenheit ausließ, ihn zu mobben. Bastian hasste ihn. Tobis dümmlich grinsende Kumpanen Niklas und Ayhan hatten sich im Halbkreis um sie geschart und erwarteten den nächsten gemeinen Kommentar ihres Freundes.

      Bastian drehte sich weg und ignorierte die drei, so gut er konnte. Er wartete vor dem Klassenraum darauf, dass seine Lehrerin, Frau Schullerus, ihn von diesen drei hirnverbrannten Idioten erlöste. Der Korridor ähnelte mit seinen hohen Fenstern und den bunt gekachelten Wänden einem alten Krankenhaus. Die verschmutzten Klassenzimmer waren hinter gelben Türen versteckt und ein steriler Geruch aus dem Chemieraum ganz am Ende des Ganges ätzte in Bastians Nase.

      Tobi setzte zu einem neuen, spöttischen Seitenhieb an. „Seht nur, ich habe Angst vor Bällen und fange deswegen sofort an zu weinen und rufe nach meiner Mami.“ In den letzten Wochen hatte sich Tobis Stimme von einer kindlichen zu einer männlicheren Version entwickelt. Er legte sich den Handrücken auf die Stirn und tat so, als würde er einem Heulkrampf erliegen.

      Er grölte und Ayhan und Niklas, stimmten mit ein. Ayhan war ein schmächtiger, gedrungener Typ mit dem ersten Flaum über seiner Oberlippe. Niklas hingegen war ein grobschlächtiger Schläger, der breiter als der Stamm einer alten Eiche war. Tobi stach aus dieser Gruppe hervor. Er war der mit Abstand hübscheste Junge der Schule, hatte blonde Haare, die sich über seine Ohren legten und tiefgründige blaue Augen. Irgendwie wollten die drei so gar nicht zusammenpassen.

      „Hey Steinmann. Alles wird gut. Frau Schulerus hat deine Mami schon angerufen. Sie holt dich sofort ab.“ Wieder gab es schallendes Gelächter, das dreifach von den hohen Wänden widerhallte.

      Noch ehe sie Bastian weiter erniedrigen konnten, rauschte Frau Schullerus über den Korridor und führte sie in das Klassenzimmer. Der Raum war länger als breit. Die Tischreihen erstreckten sich in Zweierreihen bis nach hinten zur Wand, überragt vom wuchtigen Lehrerpult aus Eichenholz, der gegenüber vom Eingang wie ein Thron wirkte. Kleine Figuren aus dem Kunstunterricht und Pflanzen zierten die Fensterbank. Wenn Bastian die Schule nicht so gehasst hätte, fände er es hier gemütlich. Er warf seine Tasche auf einen Tisch in der ersten Reihe und hockte sich missgelaunt auf einen der alten, knarrenden Stühle, die ungefähr so rückenfreundlich wie eine kalte Betonwand waren. Wieder hatte sich niemand neben ihn gesetzt. Warum sollte man mich auch mögen? Der Gedanke ergriff Besitz von ihm, quälte seine Eingeweide und ließ sein Herz stolpern. Niemand mag mich.

      „Ist etwas nicht in Ordnung, Bastian?, fragte Frau Schullerus. Sie hatte ihnen aufgetragen eine Kurzgeschichte zu verfassen, doch Bastian hatte nach zwanzig Minuten immer noch nichts zu Papier gebracht.

      Sie hockte sich vor Bastians Schreibtisch, die Unterarme auf die Tischplatte gelehnt. Bastian kam sich wie ein kleines Kind vor, wie sie ihn mitleidig musterte. Frau Schullerus lockiges, braunes Haar fiel über ihre Schulter. Ihr Gesicht war in Falten gebettet. Bis vor wenigen Jahren musste Tabea Schulerus jugendlich hübsch ausgesehen haben. Jetzt war davon einzig das Glimmen in ihren Augen geblieben.

      „Nö“, grummelte Bastian geistesabwesend.

      „Aber du hast noch nichts geschrieben. Soll ich dir helfen?“ Sie fasste nach vorne, legte die Hand auf sein Schreibheft.

      „Nein.“ Warum will gerade sie mir helfen? Mir ist nicht zu helfen, dachte Bastian trüb. Er nahm tiefe Atemzüge, versuchte das siedend heiße Stechen in seiner Brust zu ignorieren, das den Ausbruch ankündigte. Die Arme verschränkt, lehnte er sich nach hinten, um Abstand von ihr zu gewinnen. Doch Frau Schullerus ließ sich nicht beirren, fuhr mit einem freundlichen Lächeln fort und fuhr ungeduldig mit dem Finger über sein Heft.

      „Sieh mal, versuche dir erst einmal vorz…“

      „Ich habe nein gesagt. Warum kapieren Sie das nicht?“, sagte Bastian so laut, dass alle anderen in ihren Tuscheleien augenblicklich verstummten. Sein Gesicht glomm, als hätte er es auf eine heiße Herdplatte gelegt. Seine innere Stimme schrie ihn förmlich an, diesem Miststück zu zeigen, dass sie ihn gefälligst ihn Ruhe lassen sollte. Der Stift in seiner Hand zitterte mit seinen Fingern um die Wette, er konnte ihn kaum noch festhalten und doch umklammerte er ihn noch fester.

      „Bastian, was für einen Ton gewöhnst du dir bitte an? In zehn Minuten gebt ihr eure Ergebnisse ab und dann will ich etwas von dir sehen. Also lass mich dir jetzt helfen“, erwiderte Frau Schulerus bestimmt.

      „Nein, verdammt! Warum kapieren Sie das nicht? Lassen Sie mich in Ruhe!“

      Bastians Herz bebte und rempelte schmerzhaft gegen seine Brust, aber es war ihm einerlei. Er wusste nicht, warum er so aufgebracht war. Diese Frau hatte ihm nichts getan und dennoch spürte er eine heiße, siedende Wut in sich aufkochen. Er wusste, wenn er jetzt die Beherrschung verlor, dann würde ein Besuch beim Rektor auf ihn warten, aber es fehlte nicht viel und unflätige Worte würden aus ihm hervorbrechen wie giftiger Eiter aus einer entzündeten Wunde.

      „Bastian… Ich…“

      „Er checkt es halt nicht“, johlte Tobi in einem fiepsigen, hohen Ton.

      Nun war eine rote Linie bei Bastian überschritten. Er wirbelte von seinem Stuhl hoch und drehte sich zu Tobi herum, der eine Reihe hinter ihm saß. Seine Finger krallten sich in Tobis Federmappe und er schleuderte sie mit einem Schlenker seines Arms quer durch den ganzen Raum. Wie aus weiter Entfernung drang ein greller Schrei an Bastians Ohren, doch er war so in seinem Wutanfall gefangen, dass er ihn nicht richtig hörte.

      „Das Einzige, was ich verstehe, ist, dass deine dämliche Fresse nichts anderes kann, als blöd zu grinsen“, kreischte Bastian. Tobi wurde leichenblass und lehnte sich unwillkürlich nach hinten.

      Dann nahm Bastian sein Heft und riss nacheinander alle Seiten heraus. Sie flogen wie ein Schwarm Vögel über die Köpfe von Tobi, Niklas und Ayhan hinweg. Die drei schauten ungläubig zu, konnten mit ihrem beschränkten Horizont gar nicht begreifen, was eigentlich passierte.

      Bastian riss die letzten Seiten in Fetzen, als sich von hinten jemand um seine Schultern schlang und ihn zu Boden ringen wollte. Aber Bastian wehrte sich. Er trat und schlug nach dem Angreifer, doch erwischte ihn nicht. Aus dem Augenwinkel sah er schwarzes, glänzendes Haar und wusste, dass es sich um Mark handelte, der sich auf ihn gestürzt hatte.

      „Du!“, keifte Bastian, als sich weitere Arme um seine Hüfte schlangen und es schließlich schafften, ihn zu bändigen. Noch nie hatte er sich so ermattet gefühlt, wie eben jetzt. Er keuchte wie nach einer Wanderung durch die Berge.

      „Du gehst sofort zum Schulleiter!“, sagte Frau Schulerus mit brüchiger Stimme. Ihr stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Sie stand wie gelähmt neben den sich rangelnden Bastian und Mark, die sich langsam aufrichteten. In ihren Augen lag etwas Wirres und sie war außerstande, ihm in die Augen zu schauen. Erkannte Bastian Furcht in ihren Zügen?

      Ich habe doch gewusst, dass sie mir auch nicht helfen will. Bastians Gedanken kreisten nur um diesen einen Einfall. Aufgebracht und immer noch keuchend stopfte Bastian seine Stifte und sein Heft in den Schulranzen. Für ihn sahen die entsetzten Gesichter seiner Klassenkameraden wie bizarre Masken aus, wie man sie an Fasching trug. Eisige Blicke folgten ihm.

      3. Kapitel

      „Bastian, was ist los mit dir?“

      Sie fuhr die Bismarckallee entlang, die sich wie ein Strich durch die gesamte Stadt zog. Vor und hinter ihr schlängelten sich die Autos durch den dichten Verkehr, wie er an jedem Freitag die Straßen verstopfte. Von überall her drang das nervöse Hupen der anderen Autofahrer durch die geöffnete Fensterscheibe ihres Wagens. Conny betätigte den Knopf und das Fenster fuhr hoch. Sie sperrte die nervtötenden Geräusche und die vor Abgasen stehende Luft aus und drehte die Klimaanlage auf.

      Am Ende der Straße türmten sich hohe Gewitterwolken am Horizont. Es sah aus, als würden sie den Asphalt verschlucken.