Stephan Diederichs

Panikhort


Скачать книгу

lachen. Offensichtlich hielt er das Ganze für ein Spiel.

      „Stop! Warte!“, hechelte Bastian, dem zunehmend die Lust daran verging. Aber der blonde Junge dachte nicht daran anzuhalten. Stattdessen hastete er mit leuchtenden Kinderaugen um die Tischtennisplatten herum, die sich am Ende des Schulgeländes unter riesengleichen Linden versteckten. Bastian folgte ihm schnaufend.

      „Bleib stehen“, keuchte er. Er klammerte sich an die Tischtennisplatte, aber zog umgehend seine Hand zurück, da ihn ein stechender Schmerz durchfuhr. Er hielt seine Finger zitternd fest, während Tobi sich veränderte. Der blonde Junge wirkte aufgedunsen wie ein Hefeteig. Sein Gesicht wellte sich wie die Oberfläche einer heißen Quelle und warf Blasen. Panik schlug über Bastian zusammen. Tobis Brust brach plötzlich auf und zwei scharfe Krallen bohrten sich durch seine Rippen, wo gerade noch sein Pullover gesessen hatte. Ein Schnabel hackte sich den Weg durch die Brust frei und mit einem Schrecken musste Bastian feststellen, dass ein riesiger, in Flammen aufgegangener Greifvogel aus Tobis Rumpf hervorkroch. Der Körper des blonden Jungen sackte in sich zusammen. Der Vogel wedelte mit seinen gewaltigen Flügeln und der heiße Windhauch ließ Bastians Haut kribbeln.

      Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte, und blieb deshalb reglos stehen. Der Vogel schwebte einige Meter über dem Boden und stieß einen markerschütternden Schrei aus, der Bastians Herz, seine Lungen und seine Knochen vibrieren ließ. Er spie eine orange-leuchtende Flamme zum Himmel hinauf, flog dann blitzschnell auf Bastian zu, sodass dieser stolperte und mit den Ellenbogen voraus auf die Steine knallte. Ein Schmerz breitete sich in seinem Arm aus, wie er ihn noch nie zuvor gespürt hatte, und Sterne flackerten vor seinen Augen. Am Rande bekam Bastian mit, dass der Vogel einen weiteren Bogen flog und zu ihm zurückkehrte.

      Hastig raffte er sich auf und rannte in Richtung Schuleingang davon, als sich die Pflastersteine unter ihm bewegten. Mühsam richtete er sich auf, fühlte sich wie auf einer vibrierenden Platte. Er rannte so schnell er konnte und war nur noch wenige Meter von der Flügeltür entfernt, da stieß der Vogel über ihm erneut einen kreischenden Schrei aus und ließ die Steine vor ihm aufbrechen. Bastian konnte gerade noch rechtzeitig anhalten, sonst wäre er in den schwarzen Schlund gefallen, der sich vor ihm ausbreitete und gierig den Boden verschlang. Risse zogen sich um ihn herum und viele weitere Steine fielen der schwarzen, lechzenden Zunge zum Opfer.

      Bastian wollte sich gerade umdrehen und erneut weglaufen, als Tobi wieder hinter ihm stand. Er zuckte zusammen. Der Vogel schien verschwunden zu sein.

      „Was? Aber wie kann das sein? Du bist doch gerade zusammengebrochen!“

      Tobi starrte ihn nur aus seltsam leeren Augen an. Der blonde Junge schrie so spitz wie der Vogel selbst und schubste ihn dabei in das Loch hinein. Bastian sah noch einmal in Tobis vergnügtes Gesicht, während er umherwirbelnd immer tiefer fiel, bis ihn die Schwärze verschlang.

      Wieder stand er unter dem Vordach des Hauses aus seinem letzten Traum und der Junge mit der Kapuze lehnte lässig an einer der Laternen. Bastian lief forsch auf ihn zu, um ihn zur Rede zur stellen.

      „Lass mich endlich in Ruhe“, fauchte er.

      „Das kann ich nicht. Denn du schaffst es immer noch nicht, dich deinen Problemen zu stellen“, erwiderte der Fremde schief lächelnd und packte Bastian am Arm. Dieser riss erschrocken die Augen auf und schlug mit der linken Faust auf den Arm des Jungen ein, doch der war zu kräftig und zog Bastian auf den mit Zeitungsfetzen übersäten Bürgersteig. Sie gingen an zahlreichen grauen Häuserfassaden vorbei. Bastian war verwundert. Keines der Wohnhäuser besaß ein Fenster oder eine Tür, durch die man hätte hineingelangen können. Erst jetzt erkannte er, dass sich die kleinen Bäume am Wegesrand wanden und bogen, obwohl kein Wind wehte. Nacheinander lösten sie sich aus ihren Beeten, zerrten ihre Wurzeln aus der Erde und krabbelten spinnengleich über den Asphalt, wobei sie überall Erde verteilten. Sie kamen näher und näher, waren nur noch ein paar Schritte von Bastian entfernt und drohten ihn zu umzingeln. Der Junge blieb mit ihm neben einem Hydranten stehen und beobachtete das Durcheinander mit seinen leuchtend blauen Augen.

      „Ahhh, lass mich los“, kreischte Bastian und drosch auf das Handgelenk des Jungen ein. Statt ihn loszulassen, packte dieser noch heftiger zu und Bastian quiekte wie ein zu Tode verängstigtes Schwein auf.

      „Hör auf damit“, zischte der Fremde und fixierte Bastian. Die Bäume schlossen sie ringförmig ein und verkleinerten den Kreis immer mehr, während ihre Wurzeln nun kreischend über den Boden schabten. Ihre Äste verwoben sich zu einem undurchdringlichen Geflecht. Eine Armlänge von ihnen entfernt blieben die Bäume plötzlich mit raschelnden Blättern stehen. Der Junge ließ von ihm ab, Bastian drehte sich, nach einem Ausweg suchend, um die eigene Achse, aber die Bäume standen zu dicht beieinander.

      „Davon würde ich dir ohnehin abraten“, wies der Junge ihn an und lehnte mit verschränkten Armen an einem Stamm. „Du wirst nicht fliehen können.“

      Ein gellender Pfiff ertönte, dass Bastian beinahe das Trommelfell platzte. Wind brandete auf, ließ die Äste der umherstehenden Bäume ächzen, als sie sich – zunächst zögerlich, dann immer schneller – im Kreis drehten.

      Ihre Wurzeln krochen wie die Beine einer Raupe über den Boden und führten einen skurrilen Tanz auf, der Bastian überhaupt nicht gefiel. Ich muss hier raus.

      Der Fremde trat einen Schritt näher, verharrte einen Moment, ehe er ein Lied anstimmte:

      Einst warst du glücklich

      Nun vom Kummer verzehrt

      Der Gram frisst dich auf

      Wehr dich, bevor es zu spät ist

      Das Glück zum Greifen nah

      Du musst nur kämpfen, hab dein Ziel vor Augen

      Eines Tages, dein Lachen zurückgekehrt

      Du tanzt voll Frohsinn, deine Angst nie

      wiederkehrt

      Der Junge trällerte weiter seine Melodie und tanzte dabei ebenso herum, wie die Bäume, deren Blätter zum Takt seines Gesangs raschelten. Plötzlich entzündete sich ein smaragdgrünes Feuer in der Mitte. Bastian wich erschrocken zurück und stieß mit dem Fuß auf eine der knorrigen Wurzeln. Der Kreis schloss sich noch enger und schob Bastian vorsichtig zu dem wärmenden Feuer. Der Junge lugte zwischen den züngelnden Flammen hervor. Im Schatten des Feuers wirkte er wie ein verrückter Troll aus einem Märchen. Seine Nase wirkte spitzer unter der Kapuze und sein Mund verzog sich zu einem eigentümlichen Lächeln. Bastian fühlte sich wie gelähmt, unfähig sich von der heißen, smaragdgrünen Feuerstelle fortzubewegen.

      Der Junge fuhr um das Feuer herum und packte Bastian erneut am Oberarm. Bastians Brust zitterte und seine Hände waren schwitzig, doch er wirbelte herum, lockerte sich aus der Umklammerung des Jungen und trat blitzschnell wieder vor ihn. Mit einem kräftigen Ruck riss er ihm die Kapuze vom Kopf und ihm stockte der Atem.

      5. Kapitel

      „Bastian, schön, dass du uns mit deiner Anwesenheit beehrst“, sagte seine Lehrerin mit vor Sarkasmus triefender Stimme. „Gibt es wenigstens eine Erklärung für deine Verspätung?“

      Bastian stand in der Tür des Klassenzimmers, zuckte mit den Schultern, ging um die Tische in der vorderen Reihe herum und setzte sich schweigend auf seinen Platz, wohlwissend, dass die anderen ihn erwartungsvoll mit ihren Blicken löcherten.

      Seine Mutter hatte ihn an diesem Morgen nicht geweckt, sondern war lieber mit ihrer besten Freundin Carolin shoppen gegangen. Lediglich eine kleine Notiz hatte Conny ihm hinterlassen. Du musst lernen für deine Fehler geradezustehen. Der Satz hatte sich ihm eingebrannt. Jetzt war es ihr anscheinend schon egal, ob er pünktlich zur Schule kam oder nicht. Missmutig war er an diesem Morgen zum Bus geschlendert und hatte sich nicht einmal bemüht, noch pünktlich im Unterricht zu erscheinen.

      Frau Schulerus kam schweren Schrittes zu ihm. Eine Parfümwolke hüllte Bastian ein und es fiel ihm schwer zu atmen. Sie trug heute eine dünne, türkisfarbene Bluse, deren Ärmel sie aufgekrempelt hatte und einen