Peter P. Karrer

Lord Geward


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ein Menschenleben. Vielleicht wird doch noch alles gut.

      Nach einer weiteren Stunde, in der ich Stein für Stein mit den Händen bei Seite schaffe und Geröll aus dem Loch balanciere, kann ich die Schultern des mittlerweile Bewusstlosen greifen und ihn nach zwei vergeblichen Versuchen endlich heraus ans Tageslicht ziehen.

      Erst jetzt erkenne ich ihn. Es ist der junge Mann am Lagerfeuer, der mir durch seine Trunkenheit erst die Möglichkeit zu diesem Massaker gab.

      Aber er ist kein junger Mann, er ist ein Knabe und ein zierlicher dazu, von höchstens fünfzehn Jahren. Ich schultere den bewusstlosen Körper, der keine fünfzig Kilo auf die Waage gebracht hätte, und trage ihn in mein Lager.

      Ich lege ihn auf die Satteldecke und stütze seinen blutverschmierten, schrammenübersäten Kopf mit der linken Hand, während ich ihn mit einem feuchten Tuch versuche, etwas zu reinigen.

      Wie schwer mag er verletzt sein?

      Mit einem kurzen Stöhnen und einem tiefen, nicht enden wollenden Seufzer meldet sich sein Bewusstsein wieder zurück. Er öffnet kurz seine jungen Augen. Jetzt glaube ich, er muss noch viel jünger sein. Dann schließt er seine Augen wieder. Ich bin sicher, diese leeren Augen sehen oder begreifen noch nichts.

      Nach und nach beruhigt sich seine ungleichmäßige Atmung. Ich hoffe, dass er schläft. Mangels Kissen lege ich seinen Kopf auf meine weichen, zusammengerollten Stiefel.

      Eine weitere Stunde später blubbert ein kräftiger Brei über dem Feuer, während ich auf sein Erwachen warte.

      Ich werde von den Worten geweckt: »Vater, Vater wo bist Du?«

      Scheinbar bin ich nach den Strapazen der letzten Tage auch kurz eingeschlafen.

      Ich knie mich neben den Jungen, der mit geöffneten Augen, senkrecht nach oben in den Sternenhimmel starrt.

      Er flüstert: »Vater was ist passiert? Wo bin ich?« Ich nehme seine Hand und frage ihn so sanft wie möglich, »Junge, wie heißt du?« Nach einer unendlichen Kraftanstrengung stottert er, »Ar... Armedus... wo ist mein Vater?«

      Ich schäme mich unendlich und bringe nur ein Wort heraus: »Tot.«

      Armedus zeigt keine Reaktion. Entweder hat er gar nicht begriffen, was ich ihm sagte oder er ahnte es bereits und ich habe ihm nur den Tod seines Vaters bestätigt.

      »Wo bin ich?« Stöhnt Armedus.

      Ich beuge mich über ihn, erleichtert eine so leichte Frage beantworten zu dürfen: »In Sicherheit, Junge... Wie alt bist Du Armedus?«

      Er ist zäher, als ich nach seiner zarten Statur vermutete, denn diese Frage beantwortet er bereits wieder mit fester Stimme ohne ein Zögern: »Zwölf, ich bin zwölf Jahre alt.«

      Innerlich zucke ich zusammen. Zwölf Jahre jung und der einzige Überlebende meines Massakers.

      Ich füttere ihn, seinen Kopf auf meine Füße stützend, mit dem vorbereiteten Brei.

      Mit jedem Löffel hoffe ich meine Schuld etwas mehr abzubauen.

      Mein Gott, was habe ich nur angerichtet?

      Mehr als fünf Löffel schafft er nicht, dann schläft er wieder ein.

      Ich fühle mich so hilflos!

      Noch nie in meinem Leben war ich so hilflos!

      Was soll ich nur tun? Was?

       12. Geschenk der Götter

      Zu meinem Erstaunen erholt sich Armedus trotz seiner schweren Verletzungen sehr schnell, jedoch spricht er kein Wort mehr.

      Zu meiner Schande gestehe ich mir ein, ganz froh darüber zu sein. Immer noch habe ich keine Idee, wie ich ihm das Geschehene erklären könnte. Vielleicht bin ich aber auch nur zu feige dazu.

      Bereits nach zwei Tagen Ruhe kann er vor mir im Sattel sitzen und ohne Probleme mehrere Stunden, selbst in schwerem Gelände, reiten.

      Nach einer Woche erreichen wir, obwohl ich mich einmal für das falsche Tal entschied, meine Hütte, mein Schloss.

      Alles war unverändert, bis auf die deutlichen Hufabdrücke von König Aldaras Reitern, die nach meiner Entdeckung die ganze Umgebung absuchten und dabei auch mein Schwert fanden. Was zugegebenermaßen meine Rettung bedeutet hatte.

      Trotzdem überrascht es mich, nach den langen Wochen, noch so deutliche Abdrücke vorzufinden.

      Ich kontrolliere die Scheune und stelle fest, der größte Teil meiner Vorräte ist Füchsen und Waschbären zum Opfer gefallen. Einen Waschbären schrecke ich noch auf. Als Hauptschuldigen jage ich ihn ins Freie, wofür ich sein komplettes Unverständnis ernte.

      Ich fühle mich wie der verlorene Sohn, der endlich wieder nach Hause zurückgekehrt ist.

      Die nächsten Tage beobachte ich Armedus. Er beteiligt sich ohne Aufforderung an jeder Arbeit. Besonders bei handwerklichen Arbeiten zeigt er ein außergewöhnliches Geschick, aber nach wie vor spricht er kein Wort.

      Einer vorsorglichen Bauernfamilie gleich, sammeln wir täglich mehr und mehr Vorräte und Brennholz für einen Winter, dessen Strenge und Länge ich nicht abschätzen kann.

      Sicher ist nur, er wird kommen, wahrscheinlich sogar bald. Die Tage werden bereits deutlich kürzer seit unserer Ankunft und auch die Nächte sind bereits empfindlich kalt.

      Wie beinahe jeden Abend schnitzt Armedus nützliche Küchenutensilien oder nietet, hämmert und dichtet Kessel oder kleine Tröge ab, während ich mich um unser Abendmahl und den Kamin kümmere. Armedus ist wirklich ein unendlicher Schatz an Wissen. Ich bin mir mehr und mehr sicher, dass ich den bevorstehenden Winter ohne ihn wohl eher nicht überstehen würde.

      Ganz in Gedanken versunken, erschrecken mich Armedus plötzliche Worte.

      »Lord Geward, warum habt Ihr meinen Vater getötet?«

      Mit einem Schlag sind die Bilder der Mordnacht wieder da. Erst nach einigen Augenblicken begreife ich, dass der bisher stumme Armedus meinen Namen nannte. Einen Namen, den ich sicher nie erwähnte. Den er nicht kennen kann.

      »Woher kennst Du meinen Namen?« Frage ich ihn verwundert.

      »Ihr tragt Lord Gewards Schwert und niemand könnte es ihm abnehmen und dann noch leben!«, antwortet er schnell und ohne zu zögern.

      Ich hätte es wissen müssen. Wieder das Schwert. König Aldara erkannte mich schon an diesem Schwert, an dem ich nie etwas besonderes, außer den zahllosen Kerben, fand.

      Nachdenklich und stumm schaue ich zum Fenster. Es fällt der erste Schnee. Dicke Flocken, die sich am Fenster in Wasser verwandeln und in dünnen Fäden nach unten laufen, geben ein so friedliches Bild, aber ich weiß es besser.

      Die Sicherheit, mit der auch Armedus mich erkannte, verunsichert mich.

      Meine Unsicherheit spürend, ergreift Armedus das Wort:

      »Lord Geward, mein Vater und seine Gefolgsleute waren nicht Eure Feinde. Sie wollten die Waffen der Götter nur für König Aldara in Sicherheit bringen. Wir wollten sie bestimmt nicht für uns behalten oder den Mitländern verkaufen. Aber ich verstehe jetzt, dass Ihr das glaubtet, nachdem wir Richtung der Mitländer gezogen sind. Es war uns nur nicht möglich, den direkten Weg durch die großen Berge zu nehmen. Unsere Gespanne und unsere Tiere waren viel zu schwach.«

      Nach einer Pause spricht er weiter und ich gewinne den Eindruck, einem erwachsenen Mann gegenüber zu sitzen.

      »Glaubt mir Lord Geward, wir wollten kein falsches Spiel mit König Aldara treiben, auch wenn wir Landlose sind.«

      Bestürzt sehe ich die Tränen des Jungen, der mir über die Monate, seit dem er bei mir ist, nicht nur zum Freund und Begleiter wurde, sondern wie mein eigener Sohn erscheint, den ich mir immer gewünscht hatte. Jetzt ist er wieder zwölf Jahre alt.

      »Armedus,