sich vor ihr aus wie eine endlose Tortur und Viktoria schrie immer noch, offenbar fest entschlossen, graue Haare aus dem Kopf ihrer Mutter sprießen zu lassen.
Draußen färbte sich der Nachthimmel allmählich schon grau und die typischen Geräusche des Tagesanbruchs drangen durch die Fenster. Für ein Stadtkind, wie Regina, waren das Getöse eines Müllwagens oder das Wummern von Autoradios so vertraut wie ein Wiegenlied.
Sie öffnete den Küchenschrank und starrte die Gratisproben mit Fertigmilch aus dem Krankenhaus an. Viktoria schrie noch lauter. Regina wusste sich einfach nicht anders zu helfen. Endgültig demoralisiert griff sie nach einem Beutel, schüttete etwas von dem Pulver in ein Fläschchen und gab Wasser dazu, stellte es dann zum Aufwärmen in einen Topf mit heißem Leitungswasser – ein Zeugnis der Niederlage, ein Symbol ihres kompletten Versagens als Mutter.
Viktoria heulte wieder los. Sie fuchtelte, hellauf empört, dass ihre Forderung nicht augenblicklich erfüllt wurde.
Kaum hatte sie der Kleinen das Fläschchen hingehalten, da schlossen sich auch schon die rosigen Lippen fest um den Gummisauger und das Baby begann ebenso genuss- wie geräuschvoll zu trinken. Die Flasche leerte sich rapide. Kein Schreien und kein Zappeln mehr, nur noch zufriedene Babylaute.
Die Augen von Viktoria schienen ein Geheimnis zu bewahren, das sie nicht ergründen konnte.
Wer braucht schon eine Mutter, wenn es Babymilchpulver gibt?
Immer wieder fragte sie sich, ob Viktoria ihre leibliche Tochter war. Vielleicht war ihr eigenes Baby tot und Sascha wollte ihr diesen Schmerz ersparen und hatte ein anderes Kind in ihre Arme legen lassen. Ein gekauftes Kind? Konnte diese unbekannte Frau nicht Zwillinge entbunden haben?
Die Ähnlichkeit der Kinder war verblüffend.
Das Telefon läutete. Regina hörte eine Frauenstimme am anderen Ende der Leitung.
„Mein Name ist Julia. Wir sind uns nie begegnet, aber wir haben vieles gemeinsam. Sagt Ihnen der Name Tatjana Pfeffer etwas?“
Ob jemand, der an einen eine ehrliche, inständige Frage richtet, einem die Antwort glaubt, hängt nicht so sehr davon ab, ob man lügt oder nicht, vielmehr von der Art der Antwort. Je mehr Wörter man antwortet, desto weniger glaubwürdig ist die Antwort. Die Lüge, ein großes Monster, versteckt sich – nimmt der Fragende unbewusst an – am schwersten hinter einem einzigen Wort.
„Nein.“
„Können wir uns sehen?“
Regina liebte Geheimnisse über alles und so stimmte sie einem Treffen zu. „Und wo schlagen Sie vor?“
„Auf dem Spielplatz.“
„Wie erkenne ich Sie?“
„Ich habe einen kleinen Sohn. Er ist im Alter Ihrer Tochter.“
Namenlose Verzweiflung keimte in Regina auf. Unerbittlich, wie eine Maschine, hatte sie sich bereits systematisch und in aller Ruhe, mit Hilfe von Anwalt Pfeffer, darangemacht, der Geschichte auf den Grund zu gehen.
Bisher war sie noch nie die letzte Instanz gewesen.
Daher also rührte ihre instinktive Panik, ein Gefühl, als käme sie gerade vom Jogging – schwitzende Hände, beschleunigter Herzschlag, rascher Atem. Sie konnte dem Problem weder ausweichen, noch jemand anderem die Schuld in die Schuhe schieben. Sie hatte den schwarzen Peter in der Hand.
Eine Menge Geschirr ging zu Bruch, aber Sascha schaffte es, ein letztes Mal, seinen Hals aus der Schlinge zu ziehen.
Er wurde ins Gästezimmer verbannt. Wieder einmal. Alles, um einen erneuten Skandal zu vermeiden, nur kein Dreck aufwühlen.
Regina ließ ihn schon seit längerer Zeit beobachten, unter anderem, auch durch Franky.
Sascha meinte nur kurz und knapp: Er sei ein Mann aus Fleisch und Blut. Regina sollte seine Seitensprünge nicht persönlich nehmen. Liebe würde grundsätzlich überbewertet. Bei diesen Worten entblößte er lächelnd seine gleichmäßigen weißen Zähne – es war ein Lächeln, dem Regina zu misstrauen gelernt hatte.
Aber er musste vorsichtig sein. Der Begriff Hölle würde eine völlig neue Bedeutung erhalten. Niemand kannte Regina so wie er sie kannte. Sie war mittlerweile zu allem fähig. Sie würde ihn vernichten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, würde ihn zum Clochard machen, einer jener traurigen Gestalten, die in Lumpen auf den Straßen von Paris nächtigen. Sein Leben hatte sich von jetzt auf gleich in einen Regen von Scheiße verwandelt.
Drachenbootrennen
Frankys Horoskop: Ausgelaugt und schlaff? Die Sterne schenken Ihnen reichlich Energie – und Herzklopfen. Sie haben eine grandiose Idee und Sie sind diszipliniert genug, sie in die Tat umzusetzen. Glückwunsch! Sie strotzen vor Tatkraft. Nutzen Sie diese, um lange Aufgeschobenes zu erledigen.
„Und wie läuft das Ganze jetzt ab?“ Franky blieb abrupt stehen. Er hatte einen Cent gefunden, bückte sich und hob ihn auf.
Uwe zündete sich eine Zigarette an, inhalierte tief, atmete aus. „Nun, es verhält sich folgendermaßen: Wenn wir Glück haben, liegt das Boot schon aufgebockt auf dem Kopf am Mainufer.“ Er tippte die Asche ab.
Franky fummelte an seiner Sonnenbrille herum. Uwe nahm das missvergnügt zur Kenntnis. Franky, von Natur aus eine Nachteule, konnte mit dem verheißungsvollen, jungfräulichen Tageslicht nur wenig anfangen.
… er hatte einen routinemäßigen Arztbesuch. Alles war in Ordnung. Nur sollte er sich, laut seinem Doktor, der auch sein Schwager Leander war, der Bruder seiner geschiedenen Frau Chantal, mehr an der frischen Luft bewegen. Lange Spaziergänge im Grünen und so weiter. Vielleicht sollte er sich einen Hund zulegen, riet er. Leander, selbst leidenschaftlicher Golfspieler, kam dann zu dem Schluss: Rudern wäre eine ideale Kombination aus gesunder Bewegung und gemeinschaftlicher Freizeitgestaltung in der freien Natur. Der traditionsreiche Wassersport fördert Kraft und Ausdauer, trainiert Herz und Kreislauf. Bei kaum einer anderen Sportart werden nahezu alle Muskeln so gefordert wie beim Rudern. Zudem zeichnet sich der Rudersport durch ein äußerst geringes Verletzungsrisiko aus.
In der Hoffnung auf eine Erleuchtung durchforstete Franky die vollgestopfte Rumpelkammer seiner Erinnerungen, doch vorerst vergebens.
Seit drei Monaten war Franky jetzt bereits Privatier – auf gut deutsch: Rentner. Und er hatte viel Zeit und war deshalb schnell für alles mögliche zu begeistern.
Nach diesem sehr aufschlussreichen Gespräch kehrte er noch in eine Gaststätte in Sachsenhausen ein und nahm eine Kleinigkeit zu sich, traf ein paar Freunde und die Stunden vergingen wie im Flug. Für den folgenden Tag verabredete er sich mit seinem Freund Uwe zu einem Probetraining. Schnell brach die Nacht herein. Es wurde getrunken und gelacht.
Als er sich auf den Nachhauseweg machte, und zu seinem Fahrzeug kam, stellte er fest, dass man ihn eingeparkt hatte. In der zunehmenden Dunkelheit gab es wenig, was seine Aufmerksamkeit verdient hätte.
Eine paar Ringeltauben zog am Himmel ihre Kreise, auf ihrem Weg zu den Schlafplätzen, dunkle Umrisse vor einem grauen Himmel. Tauben? Um diese Uhrzeit? Da musste er sich wohl irren. Vielleicht brauchte Franky eine Brille? Schemenhaft flatternd verfolgte eine Fledermaus im Zickzackkurs ihr Abendessen. Das war eindeutig.
Er beschloss kurzerhand, im Auto zu warten, eventuell ein bisschen zu schlafen, bis der Parksünder auftauchte.
Ein Gruppe angetrunkener, unglaublich schöner herausgeputzter Frauen, kam ihm schwankend, lachend und singend entgegen. Franky fragte sich, ob er träumte. Kurze Röcke, tiefes Dekolletee, lange, von platinblond bis pechschwarze Haare, Stöckelschuhe die sie am Riemchen in der Hand trugen. Ein Paar davon hatten als Absatz die Beine einer Balletttänzerin. Allein beim Anblick dieser Schühchen taten Franky schon die Füße weh. Die Damen liefen barfuß.
„Wo Du gehen hin?“, fragte ihn eine der Frauen, eine geöffnete Flasche Champagner in der Hand.
„Nach