ihnen. Herthas Augen waren braun, von einem besonderen Braun, gelblich wie Bernsteine.
Herr Schulte kletterte schwerfällig die Stiegen hinauf. Sie wohnten im dritten Stock. Jetzt war es zu spät umzuziehen. Jahrelang hatten sie davon geredet: Wenn wir mal nicht mehr können, dann sollten wir in eine Parterrewohnung ziehen, oder in ein Haus mit Fahrstuhl. Vor der Haustür ächzte er, rang mühsam nach Atem, seine Hand zitterte, als er den Schlüssel ins Schloss steckte. Es dauerte eine Weile, bis es ihm gelang.
In der Diele lastete eine bedrohliche Stille. Seltsam, dass es ihm so erschien, es war immer still in der Wohnung. Aber irgendein Laut war stets zu hören. Manchmal ließ er das Radio in der Küche laut laufen, damit sie, wenn er fortging, sich nicht so einsam fühlte. Das hatte er heute beim Weggehen vergessen. Es lag wohl daran, dass er es auch versäumt hatte, ein Fenster zum Lüften zu öffnen. Draußen war ein so wunderbarer klarer Wintermorgen, und er hatte keine frische Luft hereingelassen. Sofort plagte ihn das schlechte Gewissen ob all seiner kleinen Unterlassungssünden. Sie war doch auf Gedeih und Verderb auf ihn angewiesen.
Er horchte in Richtung der Stube. Sie lag dort am Tage auf dem Sofa, weich gebettet auf dem Daunenbett mit einem großen Kissen als Stütze im Nacken und einer flauschigen, warmen Kaschmirdecke, in einem warmen Orangeton, zum Zudecken, die er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte.
Herrn Schultes Herz begann aufgeregt zu klopfen. Die absolute Stille war furchteinflößend, und eine Ahnung beschlich ihn, die er nicht zu Ende verfolgen wollte. Als er das Wohnzimmer betrat, wagt er es kaum, die Augen auf die auf dem Sofa Liegende zu richten. Von dort blickte ihn Hertha mit tränennassen, dennoch sehr lebendigen Augen an. Mit einer winzigen Bewegung des Kopfes bedeutete sie ihm, ihrer Blickrichtung zu folgen, hin zum Vogelkäfig, der auf einer kleinen Anrichte vor der Fensterbank stand.
Herr Schulte unterdrückte einen Laut der Erleichterung, um sie nicht zu kränken, und seufzte leise. Es war nur Peter, ihr Kanarienvogel, er war gestorben.
Das Kerzenlicht blakt
eine Rauchfahne mit Schrift
leicht verlösche ich
Einer trage des anderen Last
Er sagte immer Schnucki zu ihr
immer Schnucki, auch mal Mausi, oder Hasi
so von oben herab, tätschtelt ihr die Wange
oder klopfte jovial ihr auf die Schulter: Auch
mal ein Korn gefunden, mein Hühnchen, oder
Püppi, wenn sie sich hübsch gemacht hatte
für ihn. Er liebte den kirschroten Mund und
schwarz umrandet die Augen, ihr Nachtblick
sagte er und hatte es gern, wenn die anderen
Männer ihr nachblickten
Dann legt er besitzergreifend die Arme um
ihr Taille, zog sie näher und küsste sie auf
den Scheitel, so von oben herab, der Herr
und Gebieter schickten die Augenlampen
das Signal an Nebenbuhler
Ihr Benehmen tadellos. Überall konnte mann
sie herzeigen, und sie schwieg, attraktiv und
geheimnisvoll leuchteten ihre grünen Augen
wie Smaragde. Ein Schmuckstück, ja, das war
sie gewesen, bis sie eines schönen Morgens …
aus der Traum, aus dem Haus
war sie mit einem Köfferchen, im Gepäck nur
eine Zahnbürste und ein schwarzes Negligé
aus Seide, als der Pizzabote mit der Vespa
sie abholte, sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm
und in ihrer unvergleichlich
geschmeidigen Art ihm noch zuwinkte
mit ihrer wie ein Vöglein flatternden
Hand ... ein „Good bye“ hauchte und die Lippen
zu einem Kuss spitzte ...
... Das war die Mär von dem
sich in Sicherheit wiegenden
Teil der Gesellschaft
Lebensentwürfe
Es ist doch so ... hier das eine, dort das andere, dort die Dreizimmerwohnung mit der Kochnische, das durchgesessene Sofa aus dem Recyclinghof, aus den Mauerfugen Durchwachsenes, graugrüner Schimmel korrespondiert mit dem abblätternden Orange der Tapete, begleitet vom Geschrei grölender Gören, versucht der arbeitslose Hausherr seinen Rausch von vorgestern auszuschlafen, vergeblich, die Hausfrau halblind stolpert im depressiven Wachkoma und sucht nach den Baldriantropfen, dahingegen,
… froh und glücklich die Begnadeten, die eines solchen Standes nicht würdig befunden wurden, in schnuckeligen Villenvororten, auf der geglätteten Oberfläche eines grüngrünen Rasens, da liegen in Schaukelstühlen, die exquisite Lektüre griffbereit, wohlgefällige Kind- und Kindeskinder erfreuen mit sauber geputzten und gerichteten Zahnreihen ihre ästhetischen Vorstellungen von einer Welt, in der die Abstände geregelt sind.
Eine Tee-Geschichte
Das Wasser brodelt im Heißkocher − gleich den Tee in die weißblaue Kanne mit Zwiebelmuster gehäufelt − first flush darjeeling, auf den Nachbars Ilse einen jeden Meineid schwört als Allheilmittel, mit der Katerstimmung ihres Hans-Ottos nach einer durchzechten Nacht rechnend oder einkalkulierend die verquollenen Augen, den schlechten Atem, sein müdes bemühte Grinsen der eigenen Schuldzuweisung im Gesicht, um die Ecke in die Küchenzeile schlurfend, blinzelnd Verzeihung erheischend und Ermunterung durch ein gnädig gewährtes Lächeln, ebenso wie Erfrischung durch die morgendliche, kochend heiße Tasse Tee, zerknautscht in der Hosentasche bereits die Morgenzeitung, ohne die der Tag nicht beginnen kann. All dies vorausschauend und Sorge tragend, dass der Büßer im Hemd alles so vorfindet wie gewohnt, ihr Griff nach der Teedose und das darauf folgende Entsetzen:
Die Dose ist leer! Von den fruchtigen Teeblättern aus dem Land des bengalischen Feuers war nur ein geringfügig kleines staubiges Häuflein zurückgeblieben, und sie hatte versäumt, sich um Nachschub zu kümmern. Nun ist Not am Mann, der erwartungsvoll, die Beine übereinanderschlagend, die Zeitung öffnend, über den Rand sie anblickt und: „Na, Ilse“, sagt.
Der Schreck sitzt in den Gliedern. Ilse muss sich setzen.
„Ist dir nicht gut?“, fragt er ... „doch, doch“, beschwichtigend der Ton, erhebt sich Ilse geistesgewärtig, macht ihren schmalen Rücken so breit wie möglich, als sie die Küchenschranktür öffnet und aus dem heimlichen Vorrat an Tütentee eine Tüte Darjeeling, Marke Bünting, fingert und unbemerkt in die Kanne fallen lässt. Sie gießt das kochende Wasser auf und schiebt die butterbeschmierten Brötchen mit Weichkäse, Erdbeermarme-lade und einer Scheibe Bierwurst in seine Richtung, der trotz seiner Bewusstseinseintrübung etwas Beunruhigendes an seiner zuverlässigen und unerschütterlichen Ilse zu bemerken glaubt, dann aber kopfschüttelnd: „Hirngespinste“, murmelnd den Kopf wieder zwischen die Seiten des Morgenblattes steckt und behauptet:
„Einen richtigen Hunger hab ich ja nicht“, und, „ist der Tee bald fertig?“ Ilse gießt herzklopfend den Darjeeling in die Tasse, immerhin h „first flush“, so steht es auf der Verpackung.
„Nur aus der Tasse, bitte keinen Becher, das ist so eine Unsitte“, lautet eine seiner Devisen, „und immer nur schwarz.“ „Vorsicht, ist noch heiß“, warnt sie ihn.
„Au, verdammt, hättste ja auch eher sagen können“, sagt er, beißt vom wurstbelegten Brötchen ein ordentliches Stück ab und schlürft nun vorsichtiger den Tee hinterher.
„Ach, Ilse“, seufzt Hans-Otto,