Nadja Losbohm

Die Jägerin - In Alle Ewigkeit


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Gestalt zusammen, und seine heitere Maske brach auseinander und die Traurigkeit, die er verborgen hielt, trat an die Oberfläche. Niemand bemerkte, dass in Wirklichkeit er derjenige war, der eine starke Schulter benötigte, auf die er sich stützen konnte. In einem solchen Moment entdeckte er mich dabei, wie ich ihn besorgt musterte. Sofort knipste er den Schalter für Fröhlichkeit an: Er nahm Haltung an und lächelte. Es war alles wieder gut. Aber ich ließ mich nicht täuschen. Etwas stimmte nicht mit ihm.

      „Er ist wankelmütig wie ein Schiff auf hoher See.“

      Ich fuhr zusammen und fasste mir ans Herz. „Du hast mich erschreckt. Hättest du nicht einen Mucks von dir geben können?“, blaffte ich Alex an.

      „‘Tschuldigung.“ Er hob beschwichtigend die Hände.

      „Und woher kommt diese philosophische Ader plötzlich? Du hast nicht etwa ein Buch gelesen, oder doch?“, piesackte ich ihn.

      Mein Bruder zuckte mit den Achseln. „Ich hatte ein bisschen Zeit zwischen zwei Dates.“ Natürlich. Alex, der Casanova.

      „Es ist dir also auch aufgefallen?“, lenkte ich das Gespräch wieder auf das Wesentliche. Seine Augenbrauen wanderten auf seine Stirn. „Das mit dem wankelmütigen Schiff“, half ich nach. Offenbar waren ihm meine Sprünge zwischen unseren Gesprächsthemen zu rasant.

      „Wem das entgeht, der muss blind sein. Ich dachte, nachdem er neulich bei der St. Mary’s Kirche war, hätte sich seine Trübsal gegeben. Anscheinend ist dem nicht so“, sagte Alex.

      „Mhh“, machte ich. Moment mal! Sagte er gerade, Michael war bei der St. Mary’s Kirche gewesen? Ich packte ihn am Schlafittchen und zerrte ihn in den Flur, weg von den Zeugen, fort von Michael. „Sag das nochmal!“, zischte ich. Mit weit aufgerissenen Augen stierte ich ihn an. Ich bebte vor unterdrückter Wut. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

      Mein Bruder ließ sich durch mein aggressives Verhalten nicht beeindrucken. Er löste meine Finger vom Stoff seines Hemdes und strich die Falten glatt. „Ich habe Stunden damit verbracht, es zu bügeln.“

      „Alex!“ Ich schnipste ihm mit dem Finger gegen die Stirn.

      „Hey, lass das gefälligst! Ich habe nichts gemacht. Ich habe Michael vor zwei oder drei Nächten auf einer meiner nächtlichen Streifzüge dort stehen sehen. Wir haben kurz geredet. Er sagte, du wüsstest Bescheid, dass er dorthin ging, und wärest einverstanden gewesen. Ich habe das nicht in Frage gestellt. Er ist schließlich Michael. Ich hatte keine Ahnung, dass er mir glatt ins Gesicht lügen würde, was mich schon ein wenig verletzt, wenn ich ehrlich sein soll“, lamentierte er und sah in Richtung Wohnzimmer, aus dem fröhliches Gelächter drang. Ich hörte auch Michaels heraus.

      Es war nicht nur so, dass er gelogen hatte. Wenn er sich nachts heimlich davon geschlichen hatte, während ich auf der Jagd war, hatte er auch unsere Tochter allein zuhause gelassen, unbeaufsichtigt. Ich schnappte nach Luft. Wie konnte er so nachlässig sein? Das passte ganz und gar nicht zu ihm. Was alles hätte passieren können! Mir wurde ganz schwindelig bei dem Gedanken. Ich hielt mich an Alex‘ Schulter fest. „Ist das schon öfter vorgekommen? Hast du ihn schon einmal dort gesehen?“, fragte ich ihn.

      „Was weiß ich. Bin ich sein Babysitter?“

      Ich schüttelte den Kopf. „Nein, aber sein Adrenalin-Dealer.“

      Alex‘ Mund klappte vor Empörung auf. „Willst du etwa mir die Schuld geben? Was kann ich dafür, dass der Mann sein Leben -“

      „- aufs Spiel setzt“, beendete ich den Satz für ihn. „Wenn er ungeschützt rausgeht, ist das wie eine Einladung für den Tod, ihn sich zu holen.“ Alex wollte darauf etwas erwidern. Tief in seinem Innern wusste er, dass ich Recht hatte. Somit schwieg er. „Ab sofort hältst du die Augen offen und wirst den Babysitter für ihn spielen. Wenn du ihn noch einmal dort siehst oder auch irgendwo anders in der Stadt zu einer Uhrzeit, in der er eigentlich zuhause sein sollte, gibst du mir sofort Bescheid.“

      Alex schluckte schwer und nickte. „Und was dann?“

      Ich seufzte. „Dann bekommt er gewaltigen Ärger.“

      „Wer bekommt gewaltigen Ärger? Derjenige tut mir jetzt schon leid“, sagte jemand nicht unweit von uns entfernt.

      Alex und ich blickten in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war, und entdeckten Michael, der Rosalie an der Hand hielt und mit ihr auf uns zukam. Hilfe suchend wandte ich mich an meinen Bruder. Nie um eine Ausrede verlegen, sagte er: „Der Hundebesitzer, der seinem Köter nicht beigebracht hat, an den Rand des Weges, sondern immer mitten auf ihn zu schei -“

      Ich trat ihm fest auf den Fuß, was ihm den Atem raubte. „Keine Kraftausdrücke vor Rosalie!“

      In den folgenden Tagen behielt ich Michael genau im Blick. Es wurde zu einer regelrechten Obsession. Stand ich in der Küche mit dem Rücken zu ihm, nutzte ich einen Löffel als Spiegel, um über die Schulter zu blicken und herauszufinden, ob er hinter mir vor Kummer das Gesicht verzog. Ich lauschte an der Badezimmertür, ob von drinnen Geräusche von jemand drangen, der weinte. Ich rief sogar Grady an, der Teil des Aufräumkommandos in Zeiten der Krallen- und Pockenmonster gewesen war, um zu fragen, ob er mir Überwachungskameras versteckt in Broschen, Haarnadeln oder Knöpfen a là James Bond besorgen konnte. Immerhin hatte er schon einmal weiß Gott woher einen Haufen der feinsten Waffen beschafft. Ich wollte doch nur herausfinden, ob Michael heimliche Nervenzusammenbrüche erlitt, wenn ich nicht anwesend war, oder ob er die Wohnung verließ, ohne mich in Kenntnis zu setzen. Zu meinem Bedauern lehnte Grady es ab, mir zu helfen. Ich wollte ihm nicht die wahren Gründe nennen und andere stichhaltige hatte ich auch nicht. Als ich sagte, es sei privat, lachte er und unterstellte mir, ich könne nicht genug von meinem Herzallerliebsten bekommen. Gut, das stimmte schon, aber in diesem Fall lagen die Dinge etwas anders. Der Blick auf das Handy wurde in dieser Zeit zu einem Zwang, der mich besonders bei der Jagd behinderte. Ich konnte mich nur schwerlich auf mein Handwerk konzentrieren. Mir unterliefen gravierende Schnitzer, die mich fast den Kopf kosteten. Nicht nur wenn ich in der Nacht auf Patrouille ging, machte ich mir Sorgen, dass Michael wieder ohne mein Wissen loszog und der Vergangenheit hinterherjagte. Auch wenn ich zuhause war, in der Morgendämmerung neben ihm lag, kreisten meine Gedanken unaufhörlich um dieses Thema, und ich wurde vom Schlaf abgehalten. Meine Augen waren zwar geschlossen, aber meine Ohren gespitzt, ob sie das unverkennbare Rascheln der Bettdecke hörten, das verriet, dass Michael aufstand, oder ob die Wohnungstür ging, weil er sich davonschlich. Mein Kopf wollte, konnte nicht schlafen. Mein Körper aber schrie nach Ruhe und – gewann. Wenn ich dann Stunden später aufwachte, das Bett neben mir leer vorfand, sprang ich panisch auf und raste durch die Wohnung wie eine Verrückte und suchte nach Michael. Fand ich ihn zusammen mit unserer Tochter oder auch einen Zettel mit einer Nachricht, sie wären hierhin oder dorthin gegangen, atmete ich erleichtert auf. Hätte mir vorher jemand gesagt, dass das Zusammenleben in der Nullachtfünfzehn-Welt so sein würde, ich hätte dankend abgelehnt. Bei anderen Paaren hatte es immer so einfach ausgesehen. Mir fielen Aidan und Lainey ein, bei denen wir einige Zeit verbracht hatten. Sie waren ein Traumpaar und schienen ihr Leben mit Leichtigkeit zu führen, selbst mit einem so besonderen Kind wie ihrer Tochter Mailin. Entsprach der äußere Anschein der Wirklichkeit oder war es nur Fassade so wie Michaels Lächeln bei den Gottesdiensten? Bei all der Grübelei, der ständigen Unsicherheit, ob Michael Rosalie abermals unbeaufsichtigt zurückließ, war es geradezu eine Erleichterung, als etwa eineinhalb Wochen später Alex‘ Name auf dem Display aufleuchtete, während ich durch eine dunkle Gasse schlich.

      6. Kapitel

      „Der Hase hat den Bau verlassen“, sagte Alex.

      „Hä?“

      „Der Fuchs liegt auf der Lauer.“

      „Ich verstehe kein Wort.“

      Ein Seufzen drang aus dem Handy. „Michael steht vor der St. Mary’s Kirche und schmachtet ihre Überreste an.“ Warum denn nicht gleich so? „Jeder andere hätte den Code geknackt. Wieso du nicht?“, beschwerte sich mein Bruder.

      „Ich