Der Vampir zerfiel vor meinen Augen zu Staub. Ebenso wie der Traum vom Kaffeekränzchen. Ich schnaubte durch die Nase. So weit kommt’s noch. Nie und nimmer. Ich bückte mich und sammelte die Kleidung des Untoten auf, um sie in den nächstbesten Mülleimer zu befördern. Eine kräftige Windböe fegte über mich hinweg und trieb mir den Staub, der aus den Stoffen herausrieselte, in Nase und Augen. Ich hustete und würgte. Igitt! Ich habe Vampir eingeatmet! Ich ließ Hose, Jacke und Hemd, einfach alles von seinen Klamotten, fallen, streckte die Zunge raus und wischte mir mit den Händen über sie. Sie fühlte sich danach ganz trocken und pelzig an, ebenso wie die Innenseite meiner Nase. Ich überlegte für einen Moment, ob ich mit den Fingern in sie – ich blickte mich um, ob mich jemand beobachtete. Niemand da. Puh! Trotzdem hielt ich mir eine Hand vor das Gesicht, um fremde Blicke abzuwehren, und hob die andere Hand an meine Nase. Plötzlich traf mich etwas im Rücken. Völlig unvorbereitet fiel ich zu Boden. Die schiere Kraft, mit der man mich geschlagen oder getreten hatte, ließ mich mehrere Meter weit über den Asphalt rollen. Ich fühlte mich wie in einem Karussell. Als ich schließlich mit dem Rücken gegen ein geparktes Motorrad prallte, das daraufhin krachend umfiel und seine Alarmanlage aufheulte, stoppte ich, der lebende Brummkreisel. Ich kullerte zurück auf meinen Bauch und blieb ächzend liegen. „Aua“, jammerte ich. Was war passiert? Womit hatte ich das verdient? Was hatte mich umgehauen oder – wer? Oh Mann! Das Adrenalin schoss durch meine Blutbahnen. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Nun setzte auch meine persönliche Alarmanlage ein. Ich muss aufstehen, dachte ich und stützte die Hände auf die Straße. Meine Arme zitterten, als sie meinen Körper hochstemmten.
„Hey, Finger weg von meinem Bike, du Arschloch!“, rief eine fremde Stimme. Dem Jargon nach zu urteilen, gehörte sie einem Mann. Doch dem war nicht so. Ich hatte diese Erkenntnis noch nicht verdaut, da traf mich erneut eine ungeheure Kraft, die mich in einer Millisekunde von der keifenden Motorrad-Besitzerin weg beförderte. Mein Angreifer war stark, schnell und sehr darauf bedacht, nicht entdeckt zu werden. Das konnte nur eines bedeuten.
„Ich hasse euch“, stöhnte ich, auf allen vieren seiend.
„Sei getrost, kleine Jägerin, wir mögen dich auch nicht“, drang eine eisige Stimme an meine Ohren. Dann schlossen sich Finger von hinten um meinen Hals und übten genügend Druck aus, dass mir die Luft wegblieb, aber nicht so sehr, dass es mich umbrachte. So, so. Also erst ein bisschen Folter, bevor die Lichter völlig ausgehen, ja? Von mir aus. Das kannst du gerne haben. Ich legte meine ganzen schauspielerischen Fähigkeiten an den Tag, gab ein überzeugendes Röcheln von mir und ließ theatralisch die rechte Hand an meine Seite fallen. „Machst du etwa schon schlapp? Ich hatte erwartet, dass du mehr wegstecken kannst.“ Ich antwortete ihm mit einem weiteren Röcheln, ließ meine Zunge aus dem Mund hängen und gab vor, den Kampf aufzugeben. Der Griff des Vampirs lockerte sich. Er lehnte sich vor, um sich mein Gesicht im Todeskampf anzusehen. Da feuerte ich die Pistole ab und – traf ihn mitten ins Auge. Der Vampir ließ schreiend von mir ab. Selbst für ihn mussten es höllische Schmerzen sein. Ich nutzte die Situation, sprang vom Boden auf und brachte so schnell wie möglich Abstand zwischen uns. Ich wirbelte herum und brachte mich mit gezogener Waffe in Angriffsposition. Der Blutsauger stand in gebeugter Haltung etwa fünf Meter von mir entfernt. Er hielt sich das Gesicht und fluchte in einem fort. „Du dämliches Miststück! Hast du eine Ahnung, wie weh das tut?“ Er richtete sich auf und nahm die Hände herunter.
Ich verzog das Gesicht. „Nein, aber es sieht echt übel aus. Ich glaube, da kann dir nicht einmal ein plastischer Chirurg helfen“, antwortete ich. Um ehrlich zu sein, wurde mir von dem Anblick schlecht. Jetzt bloß nicht kotzen, jetzt bloß nicht kotzen, dachte ich. Wie gut, dass mir Mister Fledermaus entgegenkam, indem sich die Wunde vor meinen Augen schloss und sich sein Gesicht in weniger als einer halben Minute regeneriert hatte und aussah, als hätte soeben nicht ein Geschoss seinen Augapfel und das, was dahinter lag, zerfetzt. „Mit der Nummer solltest du auf Halloween-Partys auftreten. Du würdest damit sicher eine Menge Kohle machen“, sagte ich flapsig.
Der Vampir fauchte. „Du bist unerträglich arrogant, Jägerin! Keiner deiner Vorgänger kann sich darin mit dir messen.“
Ich zuckte mit den Schultern. „Ich fasse das als Kompliment auf.“
„Tu das, solange du noch die Möglichkeit dazu hast“, rief er und machte einen gewaltigen Satz nach vorn. Seine Bewegungen waren für mich zu schnell. Mein Gehirn konnte sie nicht rechtzeitig erfassen und verarbeiten und die nötigen Impulse an meine Hand mit der Waffe weiterleiten. Und ehe ich es mich versah, lag ich auf dem Rücken auf der Erde, und der Vampir hockte auf mir. Ich wand mich unter ihm und suchte fieberhaft nach meiner Pistole. Bei der Attacke hatte ich sie verloren, und nun lag sie mehrere Armlängen von mir entfernt, außer Reichweite für mich. „Na so was. Du hast aber auch ein Pech heute“, meine der Untote und damit begann das Lamentieren. Unentwegt laberte er, ohne dabei Luft zu holen. Das brauchte er ja auch nicht. Immerhin war er bereits tot, während ich mich danach sehnte, das Zeitliche zu segnen.
„Dein Geschwätz geht mir gehörig auf die Nerven. Bitte, bitte, bringe mich um. Erlöse mich. Ich habe keine Lust mehr, noch länger deine Kummerkastentante zu sein“, bettelte ich.
Er lachte. „Du hast eine ziemlich große Klappe, obgleich du keine Waffe mehr hast. Genau genommen hast du gar nichts mehr, nicht einmal ein geschütztes Zuhause.“ Wollte er mich verarschen? Was hatte das eine mit dem anderen zu tun? „Die Vampire haben dieses hübsche Freudenfeuer auf ihre Art gefeiert, wenn du verstehst, was ich meine.“ Er zeigte mir seine spitzen Zähne. Obwohl es dunkel war und die fernen Lichter der Stadt uns nicht viel Licht spendeten, blitzten seine Zähne weiß auf. Wie auch immer er es anstellte – es war ein schöner Trick. Aber was war das? Ich entdeckte vereinzelte Flecken auf ihnen.
„Ist das Zahnstein oder Karies auf deinen Beißerchen?“, fragte ich. Dem Vampir verging schlagartig das Grinsen. Er zog die Augenbrauen zusammen und fuhr sich mit der Zunge über die Zähne, als könnte es helfen, etwaigen Belag oder Löcher zu beseitigen. Er war abgelenkt. Sehr gut. Das verschaffte mir ausreichend Zeit, ein Kruzifix aus meiner Manteltasche zu ziehen. Keine leichte Aufgabe so eingeklemmt zwischen der Straße und dem Vampir. Ihm entging meine Fummelei nicht. Er senkte den Kopf und starrte auf meine Hand. Sein Gesicht verzog sich zu einer grausigen Fratze, und er fauchte. Ich hatte keine andere Wahl und viel Zeit ebenfalls nicht. Ich drückte ihm das Kreuz in seine hässliche Visage. Sofort fing seine Haut an, unter dem Holz zu brutzeln wie ein Stück Speck in einer heißen Pfanne. Er schrie, entriss sich meiner Hand und sprang von mir herunter. Das war meine Chance! Ich rollte mich herum, rappelte mich auf und machte einen Hechtsprung auf meine Pistole zu. Als ich ein markerschütterndes Brüllen hinter mir hörte, riss ich die Augen auf. Mir lief ein eisiger Schauer über den Rücken. Es fühlte sich an, als hätte der einzelne Schrei mein Ende eingeläutet.
„Es ist aus, kleine Jägerin.“ Ein Flüstern in meinem Kopf. Wie damals, als der Vampir die Kontrolle über mich übernommen hatte.
Peng!
Meine Panik, Rosalie und Michael nicht mehr zu sehen, und die Angst vor dem Tod brachten die Reihenfolge der Ereignisse für mich völlig durcheinander. Ich nahm alles verkehrt wahr. Hatte es zuerst geknallt und dann hatte sich mein Körper gedreht oder war es doch anders herum gewesen? Tatsache war, dass ich dem Vampir ein Loch in den Kopf geschossen hatte. Schon wieder. Die Kraft des Schusses aus so geringer Distanz schleuderte ihn von mir fort. Hastig kam ich auf die Beine und lief zu dem auf seinem Rücken liegenden Vampir. Ich brachte mich an seinen Füßen in Stellung, stets die Pistole auf ihn gerichtet. Ein groteskes Lachen drang aus seiner Kehle. Der Blutsauger setzte sich auf und sah mich an. Das schwarze Loch in seiner Stirn schloss sich in einem Nu. „Daneben, Herzblatt“, sagte er.
Peng! Die nächste Kugel saß in seinem Herzen.
„Denkste!“, erwiderte ich und blies den imaginären Rauch vom Lauf meiner Waffe wie die Cowboys in einem Low-Budget-Western. „Ich verfehle niemals mein Ziel.“
Kurz vor Sonnenaufgang traf ich zuhause ein. Das Erste, was ich tat, als ich die Wohnung betrat, war, zu Rosalie zu gehen. Das Licht vom Flur fiel auf sie. Sie lag friedlich schlummernd auf ihrem Bauch, ihr Stoffhase halb unter sich verborgen. Seine flauschigen Ohren verdeckten ihr Gesicht.