meine Hand ihr Gesicht freigab, entdeckte ich große dunkle Augen, die verschlafen zu mir aufblickten. Ich lächelte. „Schlaf weiter, mein Schatz“, flüsterte ich und umgehend fielen ihre Augen wieder zu. Ich lehnte mich zu ihr hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Hab dich lieb, Mommy“, nuschelte meine Tochter.
„Ich dich auch, Prinzessin, ich dich auch“, hauchte ich.
So leise wie möglich öffnete ich die Tür. Ein Lichtstreif, der breiter wurde, als ich sie weiter aufschob, erhellte Michaels und mein Schlafzimmer. Mein Blick fiel auf das große Bett, das den meisten Platz des kleinen Raumes einnahm. Ich musste schmunzeln, als ich Michael darin liegen sah. Er lag auf dieselbe Weise in den Decken und Kissen wie seine Tochter. Es fehlte nur das schlappohrige Stofftier, aber selbst das hätte ihn nicht weniger sexy gemacht. Ich schaltete die Lampe im Flur aus und trat in das dunkle Zimmer. Meine Augen brauchten einen Moment, um sich an die neuen Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Dank des anbrechenden Morgens erkannte ich die einzelnen Gegenstände im Zimmer und schlüpfte zwischen Kleiderschrank und Bett hindurch. Ich gab mir reichlich Mühe, meine Waffen ohne jegliches Geklirre und Geklapper abzulegen, doch je mehr ich mich anstrengte, desto lautere Geräusche verursachte ich. Nicht viel besser stellte ich mich beim Verstauen meines Arsenals an. Ständig stieß ich irgendwo an. Ich wollte es vermeiden, Michael wach zu machen, hatte deswegen extra das Licht ausgelassen –
„Ada?“ Verflucht! „Wieso tappst du im Dunkeln herum?“ Das frage ich mich auch.
„Ich wollte dich nicht wecken“, sagte ich und wandte mich um. Bei seinem Anblick stockte mir der Atem: die zerwühlten Haare, die halb geschlossenen Augen, die nackte Haut seines Oberkörpers, die gut definierten Muskeln. Er war so schön und begehrenswert – mir war zum Weinen zumute.
„Das musst du noch ein bisschen üben.“
Das Weinen? Ach so, das mit dem nicht wecken. Ich lächelte und nickte. „Da hast du wohl Recht.“
„Komm ins Bett. Dann kriegst du wenigstens noch ein bisschen Schlaf“, meinte er nach einem Blick auf den Wecker.
„Gleich. Ich will nur noch schnell ins Bad, mich waschen“, teilte ich ihm mit.
Mit verschlafener Miene musterte er mich von oben bis unten. „Brauchst du Hilfe?“ Ich verneinte. „Gut“, sprachs und tauchte wieder in die Kissen ab. Ein kurzer Schnarcher dröhnte aus den Federn. Dann kehrte Ruhe ein. Es ist noch gar nicht so lange her, da war er die ganze Nacht aufgeblieben und hatte im Mittelschiff der St. Mary’s Kirche sehnsüchtig und voller Sorge auf meine Rückkehr gewartet. Wo ist diese Zeit hin? Was war passiert? Ich verdrehte die Augen und zwang mich dazu zu denken: Schön und begehrenswert, schön und begehrenswert.
5. Kapitel
Anstrengende Nächte waren nichts Neues. Auch Schlafmangel war mir nicht fremd. An den kurzen Wechsel von Samstag auf Sonntag hatte ich mich aber immer noch nicht gewöhnt. Schon morgens um zehn Uhr, was für meine Verhältnisse mitten in der Nacht war, läutete es an der Tür. Während ich meine Augen noch mit zwei Fingern zwingen musste offen zu bleiben, waren meine Tochter und Michael bereits hellwach und begrüßten seine ehemaligen Gemeindemitglieder. Nach langen Diskussionen hatte er sich dazu breitschlagen lassen, in unserer Wohnung Gottesdienste für diejenigen zu halten, die ein Problem mit dem neuen Gemeindeleiter hatten. Da es mehr als erwartet waren, gab es drei Gottesdienste über den Tag verteilt. Sie alle wollten Michaels ermutigende Worte hören, die sie aus den guten alten Zeiten kannten. Zunächst war es befremdlich für mich und auch unsere direkten Nachbarn gewesen, so viele Menschen im Haus zu haben. Mittlerweile hatten wir uns alle daran gewöhnt. Selbst Misses Winston schaute, wenn auch unregelmäßig, vorbei. Nicht, weil sie gläubig war. Nein, nein. Es war vielmehr die Neugierde oder auch Besorgnis. Sie konnte oder wollte nicht wahrhaben, dass Michael Priester war. Weder sah er aus wie der Durchschnittskleriker noch benahm er sich wie einer, von wegen Spritztouren auf Motorrädern und flotte Nummern im Fahrstuhl. Misses Winston wollte sich nur davon überzeugen, dass nebenan keine Sekte Dämonen anbetete. Oh, sie hatte ja keine Ahnung, was in der Welt vor sich ging. Wie gerne würde ich doch ihr Gesicht sehen bei der Neuigkeit, dass blutsaugende Wesen unsere Straßen des Nachts unsicher machten.
Ich zwickte mir in die Wangen, was mich wach machte und meiner blassen Haut ein bisschen Farbe verlieh. Ein letzter Blick in den Spiegel. Die roten Haare trug ich hochgesteckt. Ein paar Strähnen hatte ich nicht erwischt. Sie umspielten sanft mein Gesicht. Meine Augen, die der türkisen Farbe des Wassers der Südsee in nichts nachstehen, waren etwas rot vor Übermüdung, dennoch leuchteten sie hervor. Ihr Ton passte hervorragend zu dem Kleid in Ultramarin, das ich ausgewählt hatte. Ich trat ein Stück von dem großen Spiegel an der Schlafzimmerwand zurück. Ich drehte mich davor und nahm mein Äußeres unter die Lupe. Ich fand mich selten hübsch, aber heute – ja, doch. Ich gefiel mir. „Du bist heiß“, säuselte ich meinem Spiegelbild zu und warf ihm eine Kusshand zu, „ein echter Blickfang.“
„Und total selbstverliebt und durchgeknallt.“
Ich wirbelte herum und starrte entsetzt zur Tür. „Du hast ein Talent zu den unpassendsten Momenten aufzutauchen, weißt du das?“
„Ich wünsche dir auch einen guten Morgen, Schwesterherz“, sagte Alex und zwinkerte mir zu. Auch er gesellte sich hin und wieder zu uns. Nicht, um den Herrn zu loben und zu preisen oder die Beichte abzulegen. Dafür würde vermutlich ein Tag auch nicht ausreichen. Alex‘ Motivation war das Essen. Er schaute nur vorbei, um sich bei uns durchzufuttern. Der zweite Grund, der weit abgelegen hinter dem ersten lag, war Rosalie, der er bei seinen Besuchen immer jede Menge Unfug beibrachte, den wir ihr nur mit Mühe wieder abgewöhnen konnten. Mein Bruder wusste eben, wie man Prioritäten setzte. „Bist du fertig damit, deinen Prachtkörper zu bewundern, du heißer Blickfang?“, fragte er viel zu laut.
Ich durchquerte blitzschnell das Zimmer und verpasste ihm eine Kopfnuss. „Schrei es doch noch lauter. Ich glaube, am Nordpol hat man dich noch nicht gehört!“, zischte ich ihm zu. Wieso musste er mich immer in Verlegenheit bringen? Ungeachtet des Schlags, den ich ihm gegeben hatte, amüsierte sich Alex köstlich über meine Reaktion, was mich nur weiter auf die Palme trieb. Mein Bruder fing mich mit seinen Armen ein, zog mich an seine Brust und drückte mich fest an sich. „Ich habe dich lieb, kleine Schwester“, sagte er über mir.
Wer’s glaubt?! Ich konnte nur daran denken, dass sein Gefühlsausbruch mein Kleid zerknitterte, meine Frisur ruinierte und ich gleich erstickte, da meine Nase halb in seiner Achsel klemmte. Ich stemmte mich gegen ihn, brachte etwas Abstand zwischen uns und sah zu ihm auf. „Heute ist Sonntag, Alex. Du hättest ruhig duschen können.“ Er runzelte die Stirn. „Unter deinen Achseln riecht es nach Schweiß“, erklärte ich ihm. Durch die Blume zu sprechen war nicht so mein Ding – zumindest nicht, wenn es ihn betraf.
Alex riss schockiert Augen und Mund auf und fasste sich ans Herz. „Du verletzt mich, Ada, ehrlich.“
„Du hast mein Styling zerstört. Jetzt muss ich es wieder in Ordnung bringen. Schönen Dank auch“, rechtfertigte ich meine verbale Retourkutsche und stieß ihn von mir fort.
Alex schnaubte durch die Nase. „Sag mir nicht, das ärgert dich. Immerhin kannst du mehr Zeit mit deinem tollen Spiegelbild verbringen.“
Ich sah ihn zornig an und machte einen Satz nach vorn. Mein Bruder sprang zurück in den Flur und verschwand. „Bleib bloß weg!“, rief ich ihm nach, streckte den Kopf aus der Tür, um nachzusehen, ob er sich in der Nähe aufhielt. Es war keine Spur von ihm zu sehen, dafür aber begrüßte mich Misses Winston, die soeben ihren Sonntagshut abnahm und an einen Haken an der Wand gegenüber von der Schlafzimmertür hängte. Ich nuschelte eine Entschuldigung, als sie mich entrüstet ansah aufgrund meines barschen Tons, und schloss die Tür.
Die Gottesdienste verliefen normal. Alles war wie immer. Doch wer genauer hinsah, dem fielen Unstimmigkeiten auf, Dinge, die nicht ins Bild passten. Als ich es das erste Mal bemerkte, schob ich es auf meine Müdigkeit. Mein schläfriger Verstand spielte mir sicher Streiche. Doch dann gab es wieder etwas, was mir ungewöhnlich vorkam. Es rüttelte mich wach, und