Georg von Rotthausen

Mannesstolz


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über 1,90 m groß werden würden, hatte man ihnen schon mit 14 gesagt. Kennengelernt hatten sie sich mit 11 Jahren, beim Wechsel auf das Barlach-Gymnasium in Kiel. Ihr erster Klassenlehrer hatte sie in die letzte Reihe gesetzt, da sie schon recht groß für ihr Alter waren und den kleineren Schülern die Sicht nach vorn nicht verstellen sollten. Eine dumme Entscheidung; man hätte sie ebenso vorn an eine der Ecken setzen können, aber die beiden fühlten sich „hinten” ganz wohl. Und als die Pubertät auch bei ihnen die Macht übernahm, konnten sie ungestört unter dem Tisch den jeweils anderen stimulieren, denn es machte ihnen bald Spaß, herauszubekommen, wie schnell der andere durch Hosereiben „groß” wurde. Geschickterweise machten sie das aber erst, wenn mindestens einer von ihnen bereits an die Tafel gerufen oder etwas abgefragt worden war; in ihrer Klasse war es noch üblich, bei einer Lehreransprache aufzustehen. Einmal war es aber schiefgegangen und Malte II, sie wurden zur Unterscheidung Malte I und Malte II gerufen, hatte Pech, mußte an einer Landkarte etwas zeigen, dabei „zeigte” er, gekleidet in eine enge, aber dehnbare Leinenhose, mehr als ihm damals lieb war − und das Gelächter der Klasse war niederschmetternd. Auch Malte II, ein hübscher blonder Junge mit stahlblauen Augen, sportlich und ein freundlich-lieber Typ, hatte kein Glück bei den Mädchen, obwohl ihm schon mal eine nachsah, aber vor beiden Maltes hatten in einer Beziehung alle Angst, denn ihre verstörende „Größe“ war natürlich durch den Sporthallentratsch und den Schwimmunterricht bekannt. Da sie aber endlich wissen wollten, wie es ist, wenn man es nicht selber macht, kam was kommen mußte und sie entjungferten sich auf ihre Weise gemeinsam. Da waren sie 16 und fanden es irgendwie obercool und einfach geil. Und danach trieben sie es miteinander, so oft sie nur konnten, fragten sich aber immer wieder, wie es wohl mit einem Mädchen sei, denn im Internet sahen sie sich zur „Vorbildung”, wie sie es nannten, gemeinsam einschlägige Pornos an. Dann kam die Trennung. Malte I’ Eltern hatten seine Verlegung auf ein renommiertes Internat in Bayern beschlossen und es hieß, Abschied zu nehmen. Sie schickten sich noch ein Jahr E-Mails und SMesse, aber dann kam der Entfernungseffekt: aus den Augen, aus dem Sinn. Malte lernte in Bayern seine erste Freundin kennen. Sie verließ ihn, als sie bemerkte, daß er bemerkte, daß die Mädchen nun doch auf ihn flogen, was Malte weidlich ausnutzte, da er einiges nachzuholen hatte, wie er meinte. Dann kam seine erste große Liebe, die bei ihm blieb.

      „Woran denkst Du gerade?”

      Malte zuckte zusammen und sah sich um. Neben ihm hatte Andreas unbemerkt die Dusche angestellt und drehte sich mit erhobenen Armen unter dem erfrischenden Brausestrahl.

      „Woran soll ich denken?”

      „Na, darum!”

      Andreas zeigte durch Kopfnicken die Blickrichtung an: Maltes Erregung war nicht zu übersehen. Andreas’ Mimik ließ seine Bewunderung erkennen. „Spannendes Kopfkino?”

      „Kann man sagen.”

      „Muß ein tolles Mädchen sein.”

      „Warum ein Mädchen?”

      „Na, ein Typ wie Du …”

      „Ja und? Du bist auch ein geiler Typ, aber mit einem Mädchen habe ich Dich noch nie gesehen, wenn man von der Süßen in Deinem Spind absieht.” „Laß sie aus dem Spiel!”

      „Ah, sind wir da empfindlich?”

      Andreas drehte sich weg und gab keine Antwort.

      „Und was haben Sie danach gemacht?”

      „Na, es war Feierabend.”

      Andreas sieht Malvoisin mit einem „Was-willst-du-eigentlich-von-mir-Blick” an.

      „Waren Sie allein oder sind Sie noch fortgegangen?”

      „Ich habe einen Kumpel besucht.”

      „Und wer ist das?”

      „Rudolf Hartmann.”

      „Und wo finden wir den?”

      „Wir haben heute gemeinsam Wache auf dem Turm am Südstrand.”

      „Wie lange waren Sie bei ihm, und wo?”

      Andreas „sucht” kurz.

      „In seinem Quartier in der Denkmalstraße. So etwa bis 22 Uhr. Dann bin ich zurück und hier in meine Koje gekrochen.”

      „Wissen Sie, wo Malte Kröger gestern abend war?” „Nein. Ich habe die Dusche vor ihm verlassen. Wir haben uns noch gegenseitig den Rücken abgeschrubbt, und dann bin ich los. Malte setzt sich meist noch an den Boden und läßt sich beprasseln.” „Tja, Herr Asmussen, dann danke ich Ihnen für Ihre Kooperation trotz Ihrer emotionalen Angegriffenheit.”

      Malvoisin erhebt sich und reicht Andreas die Hand, zieht ihn gleichzeitig hoch. Er begleitet ihn zurück zur DLRG-Station.

      „Ihre Stube hier in der Station können Sie vorerst nicht benutzen. Wir müssen sie uns noch genau ansehen, die Spurensicherung muß hinein. Können Sie so lange bei Ihrem Kumpel unterkommen?” Andreas sieht Malvoisin erstaunt an.

      „Aber ich habe doch all meine Sachen hier.”

      „Na ja, nackt sind Sie ja nicht und in Badehose und DLRG-Jacke kann man auch mal durch den Ort laufen, nicht? Und vielleicht können Sie etwas mitnehmen, wenn wir gemeinsam die Besichtigung durchführen. Halten Sie sich bitte bereit. Den Ort dürfen Sie vorerst nicht verlassen. Und jetzt ruhen Sie sich am besten erst einmal aus. Ich rede mit Ihrem Chef. Moin.”

      Andreas setzt sich auf eine Bank vor der Station, lehnt sich an die Wand und schließt die Augen. Eine ältere Dame kommt auf ihn zu.

      „Hallo, junger Mann, sagen Sie mal …”

      Er reagiert nicht. Sie tippt ihn an. Andreas öffnet die Augen.

      „Junger Mann, können Sie mir die Luft- und Wassertemperaturen sagen? Wissen Sie, ich habe meine Brille vergessen, ich kleines Schusselchen, und ich möchte mich nicht erschrecken, wenn ich mich in die wilde See stürze.”

      Die Vorstellung, die weißhaarige Dame „in die wilde See” stürmen zu sehen, bei Windstille und völlig glatter Oberfläche, entlockt Andreas ein erstes Schmunzeln nach den schrecklichen Nachrichten. „26 Grad Luft und 19 Grad Wasser, gnädige Frau, viel Vergnügen.”

      Er setzt sich wieder.

      „Oh, das ist ja wundervoll. Dann will ich mal gleich los.”

      Sie wendet sich ihm nochmals zu.

      „Wissen Sie, seit mein lieber Mann mich samt seiner Leidenschaftlichkeit verlassen hat, sind die Wellen das einzig Wilde, das mich noch umspült. Ein altes Mädchen wie ich muß nehmen, was es kriegen kann. Und im Training muß ich auch bleiben. Schließlich war ich 1943 die letzte Westpreußen-Meisterin im Fünf-Kilometer-Schwimmen. Ich bin zwar erst 92, aber man darf sich nicht aufgeben. Meine liebe Mama …” sie betont das zweite -a, „… war noch mit 104 nicht aus dem Wasser zu kriegen. Trainieren Sie auch jeden Tag, junger Mann?”

      Schlagfertig antwortet Andreas:

      „Aber selbstverständlich. Man muß doch mit Vorbildern wie Ihnen mithalten können.”

      Die alte Dame strahlt ihn an.

      „Das ist die richtige Einstellung, junger Mann, weiter so, und vielen Dank für Ihre freundliche Auskunft.”

      Damit segelt sie davon, und Andreas ist sich sicher, eines der letzten Sportoriginale kennengelernt zu haben. Wenigstens hat er für einige Augenblicke den Schreck um Maltes Tod vergessen.

       *

      Malvoisin fährt an der Wache der Marineunteroffizierschule in Plön vor. Ein Bootsmann, dekoriert mit der Schützenschnur in Gold und dem Militärleistungsabzeichen in Silber kommt heraus. Er tritt an Malvoisins Auto heran, legt die Hand an die Schirmmütze, Malvoisin läßt das Fenster herunter.

      „Guten Morgen! Ihren Ausweis bitte …”

      „Guten Morgen… “ Er hält ihm den Dienstausweis hin.