Josephine Becker

Rakna


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Aber das Schlimmste und Gefährlichste, war ihr Geflüster, welches die schrecklichsten Dinge passieren ließ. Kamen sie einmal ins Dorf, war alle Hoffnung vergebens. Sie haben die Kinder zu sich geholt und keines von ihnen wurde je wieder gesehen. Deswegen ist es uns verboten, dort zu spielen. Meine Mutter würde verrückt vor Sorge, wenn sie wüsste, dass wir alleine im Wald herumspazieren. Die Erwachsenen haben alle Angst, dass sich das Tor erneut öffnet und die Geschöpfe uns mit sich nehmen.“ Mit jedem Wort seiner Schwester hatte sich der Atem des Jungen beschleunigt und seine Augen waren nun groß wie Murmelsteine.

      „Dann lasst uns schnell nach Hause rennen! Was ist, wenn es heute Nacht passiert, wenn sie jetzt kommen?“ Er stand hastig auf und während er es aussprach, stolperte er einige Schritte rückwärts.

      „Aber wieso sind unsere Eltern noch da, wenn sie alle Kinder aus dem Dorf geholt haben? Das ist doch merkwürdig, oder?“, meldete sich das Mädchen mit dem hellbraunen Locken. Marthas Blick wurde hinter ihren blonden Haaren kurze Zeit starr und sie wirkte für den Moment entwaffnet. Dann schien sie neuen Mut gefasst zu haben, denn sie erwiderte:

      „Das ist doch klar, Rakna. Sie haben sich nur bestimmte Kinder ausgesucht, um sie in eines von ihnen zu verwandeln.“ Während sie es aussprach, war in der Nähe ein leises Rascheln zu vernehmen und die Köpfe der Drei zuckten in Richtung des Geräusches. Sofort schnellte der Junge herum und schrie seine große Schwester an:

      „Ich will Heim, Martha! Jetzt gleich! Lass uns verschwinden.“ Getrieben von ihrer eigenen Schauergeschichte schaute Martha ebenfalls mit bangem Blick zu der Stelle. Ein weiteres lautes Scharren ertönte, und alle drei waren auf den Beinen. Vollkommen überstürzt rannten sie in verschiedene Richtungen.

      Eigentlich hatte Rakna nie an die Geschichten von Martha geglaubt. Denn sie hatte eine blühende Fantasie und nutzte sie gern, um anderen Angst einzujagen. Aber es hatte sich auch noch nie Etwas so lautlos an sie herangeschlichen, ohne dass sie es bemerkt hätte. Raknas Gehör war ausgesprochen fein ausgebildet, was ihr schon oft den Hals gerettet hatte. Einmal schlich sich Ulrich, ein Junge, der mit seiner Familie in dem prachtvollen Langhaus im Dorf lebte, von hinten an sie heran, um ihr Froschlaich über den Kopf zu schütten. Doch sie hatte die plumpen Schritte längst aus der Ferne vernommen und sich blitzschnell umgedreht. Mit einem gezielten Schlag stieß sie das Glas weg, sodass sich der gesamte schleimige Inhalt auf die Hose des Jungen ergoss. Obwohl Rakna normalerweise mutig war, erschreckte sie die Vorstellung eines bösartigen Geschöpfes mit langen spitzen Ohren dennoch. So rannte sie, ohne sich umzudrehen oder einen Moment innezuhalten. Erst als das Dickicht des Waldes kaum noch Licht hindurch ließ, und ihr immer wieder Äste ins Gesicht schnippten, verlangsamte sie ihren Schritt. Schließlich blieb sie stehen und wandte sich zögerlich um. Nichts war zu sehen. In tiefen Zügen strömte kalte Waldluft in ihre Lungen und ihre Brust schmerzte bei jedem Atemzug. Sie wusste nicht wie weit und wohin sie gerannt war. Von der Sonne sah sie nur noch einen schmalen roten Streifen am Himmel. Sonst waren da nur Bäume und Sträucher. Panik kroch in ihr hoch. Hektisch sah sie umher, in der Hoffnung Martha oder ihren kleinen Bruder Tharas zu erblicken. Sie lauschte, doch da war nichts, außer Stille. Durch die Zweige der Fichten erkannte Rakna in der Ferne, eine Lichtung. Sie lag auf einem Hügel und der Weg dorthin war lang, sogar länger als sie vermutet hätte. Immer wieder war sie gezwungen innezuhalten, um sich zu vergewissern, ob sie in die richtige Richtung lief. Langsam, aber allmählich wurde es dunkler um sie herum. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie ihr Ziel. Doch ihre Hoffnung wurde jäh zerschlagen, denn auch von der Lichtung aus, war nichts als Blattwerk und Nadelbäume zu sehen. Ein dicker Kloß schnürte Rakna die Kehle zu. Ihre Lippen zitterten wie Espenlaub. Sie wagte es nicht, nach ihren Freunden zu rufen, aus Angst, Feinde auf ihre Fährte zu locken. In Gedanken versuchte sie sich, zu beruhigen. Immer wieder sagte sie zu sich selbst:

      „Du musst Ruhe bewahren. Wenn du jetzt den Kopf verlierst, findest du nie mehr nach Hause.“ Und so atmete sie tief durch und richtete ihren Blick in die Ferne. Es war schwer, bei der Dunkelheit etwas zu erkennen. Die Umrisse der Bäume verschmolzen miteinander, sodass sie kaum zu unterscheiden vermochte, was Stamm und was Weg war. Nicht einmal der Mond spendete ihr Licht, denn heute Nacht war das Himmelszelt von einer dichten Wolkendecke verschlossen. Aus dem Nichts heraus, flackerte ein Schimmer am Horizont auf und blieb wie ein Leuchtsignal im Dunkel hängen. Erschrocken und freudig zugleich erspähte sie es. War das jemand aus ihrem Dorf? Suchten sie vielleicht schon nach ihr? Zweifellos war das ihre einzige Hoffnung. Mit strauchelnden Schritten stürmte sie auf den winzigen Punkt in der Ferne zu. Wieder und wieder stürzte sie, wegen des unebenen Bodens, auf die Knie. Jedes Mal rappelte sie sich hoch und stolperte, so schnell sie ihre Beine trugen, vorwärts. Sie flehte zu den Göttern, dass das rettende Licht nicht erlosch, bevor sie es erreichte. Und sie schienen Rakna erhört zu haben, denn es verschwand nicht. Sie schaffte es aus dem Dickicht auf eine weitere, größere Lichtung. Abermals erhob sich ein kleiner Hügel vor ihr. In dem Zentrum, auf der höchsten Stelle, wuchs ein ausladender alter Baum. Seine Äste und Zweige hingen in geschwungen Bögen zu Boden und unter dem Laub flackerte das rettende Licht. Doch der Anblick des riesigen schützenden Baumes, ließ das Mädchen erneut, vor Angst, erschaudern. Es war die Trauerweide mit ihren knorrigen langen Ästen. Rakna dämmerte es, sie war genau auf das verfluchte Gewächs zugelaufen, den Schreckensbaum aus der Geschichte, die Martha vor wenigen Stunden erzählt hatte. Das Licht, das unter den Zweigen hervor strahlte, wirkte nicht bedrohlich. Es leuchtete in einem angenehmen Orange, wie die Flammen einer Fackel. Für einige Augenblicke blieb sie wie angewurzelt stehen. In ihrem Kopf ratterte es. Die Kälte der Nacht kroch ihr langsam an den Beinen hoch und das dünne Leinenkleid schütze sie nur wenig. Vielleicht hatte sich ein Wandersmann in diese Gegend verirrt und genau wie sie Zuflucht vor der Dunkelheit gesucht? So leise es ihr möglich war, schlich sie sich auf ihren nackten Füßen den Berg hinauf und versuchte etwas zu erspähen. Das Wispern des Windes schreckte sie immer wieder auf. Bibbernd vor Kälte entschloss sie sich, einen Blick unter die dicken Äste des Baumes zu werfen. Da sie weit und breit nichts entdeckte und eine wohlige Wärme zwischen den Zweigen hervortrat, schien es ihr letztlich sicherer, inmitten der Blätter Schutz zu suchen. Wohl, war ihr bei dem Gedanken nicht, dennoch schob sie mit ihrer bleichen Hand das Blattwerk zur Seite. Sie musste sich durch das enge Laub zwängen, um den Stamm zu erreichen. Dort war niemand. Das pulsierende Leuchten schien direkt aus den Wurzeln des Baumes zu kommen, als wäre es sein Herzschlag. Erneut kam Furcht in Rakna auf. Sie war schon einige Schritte rückwärts geschlichen, als sich plötzlich ein Rinnsal aus Harz aus dem Stamm ergoss, genau so leuchtend wie die Sonne. Ihr blasses Gesicht wurde von dem gleißendem Licht erhellt und ihre Angst wich. Es wirkte vertraut und spendete Wärme, goldgelb wie ein kleiner Lavastrom. In ihrem ganzen Leben hatte Rakna nie so etwas überwältigend Schönes gesehen. Sie blieb stehen und starrte auf die helle Stelle. Zögerlich wagte sie sich ein paar Schritte an den Stamm heran und streckte eine Hand aus, um das flüssige Gold zu berühren. Ihre schlanken Finger hatten die zähe Masse fast erreicht, als ein Ast der Weide sich schlagartig zu einem hohen Bogen verflocht, und wie ein Torbogen vor ihr aufgerichtet zum Stehen kam. Vor Schreck fiel sie über ihre eigenen Füße und landete auf dem Rücken. Für ein paar Sekunden war sie unfähig, zu reagieren. Vom Boden aus beobachtete sie, wie das flüssige Gold sich wie ein Schleier zwischen dem Bogen ausbreitete und dieser so einem Spiegel glich. Zögerlich stemmte sie sich von der Erde hoch, um in das neue Gebilde zu schauen. Statt sich selbst zu erblicken, wie es bei einem Spiegel üblich war, schaute sie auf eine weite Wiese, die durch und durch vom Sonnenlicht erhellt war. Fremdartige Blumen wuchsen dort in Farben, so vielseitig, dass Rakna sie nicht zu benennen wusste. In der Ferne waren Laubbäume mit tiefen, kräftigen Wurzeln zu erkennen. Zwischen den hohen weiten Baumkronen erblickte sie kleine urige Häuser. Davor erhoben sich Torbögen, lange Treppen und Fenster und das in schwindelerregenden Höhen. Die Häuschen waren reich verziert und die geschwungenen Äste zu feinen Mustern geflochten worden. Es war, als blickte Rakna durch ein Portal in eine unbekannte Welt. Behielt Martha recht und unter dem mysteriösen Baum kamen wahrhaftig Wesen aus fremden Welten hervor? Und waren diese wirklich hinter den Kindern ihres Dorfes her? Dann musste dort oben Jemand leben. Misstrauen hielt sie davon ab, sich an das seltsame Gebilde heranzuwagen. Sie tat nichts weiter, als die Landschaft zu betrachten.

      Unerwartet schoss eine langfingrige Hand, mit dunklen spitzen Nägeln aus dem goldenen Schleier hervor und packte das Mädchen vorne am Kleid. Es spannte sich aschfahle Haut