Josephine Becker

Rakna


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niemals das Mal an ihrer Schulter. Wenn er ihre geschundene Haut sah, zeichnete sich in seinem Gesicht deutlich Abscheu ab. Doch Rakna konnte es ihm nicht verdenken, die Bissstelle widerte sie ebenfalls an. Einige Male dachte sie sogar, das Mal würde sich unter der Haut bewegen. Meist wenn sie aufgewühlt war. Aber sobald sie nachsah, fand sie keine Veränderung vor.

      Es verblieben nur noch wenige Tage, bis sie endlich zur Hauptmännin ernannt werden würde. Täglich trainierte sie mit den anderen Wachen und oft war sie es, die zur Wachsamkeit aufrief. Aber heute war ihr freier Tag. Heute war sie nur Rakna. Diese Zeit nutze sie, um sich unweit der alten Trauerweide auszuruhen und dabei zu beobachten, ob sich dort irgendetwas regte. Oft hatte sie sich gewünscht, Lynthriell wieder zu begegnen, um sich für ihre Rettung zu bedanken. Insgeheim träumte sie davon, irgendwann in das fremde Land zurückzukehren, um es mit dem schrecklichen Geschöpf aufzunehmen, dem sie das abscheuliche Mal zu verdanken hatte. Oh, wie sie die Dämonen hasste! Doch sie wusste, dass sie als Mensch im Elfenreich nicht willkommen war. Außerdem regte sich unter dem Baum nie Etwas und nichts Seltsames war seit jener Nacht geschehen. Also blieb ihr Wunsch eben nur ein Traum.

      Später an diesem Tag hatte sie eine Verabredung mit Martha. Es war der Abend vor Marthas Heirat und ihre Freundin wirkte seit Wochen schrecklich aufgeregt. Das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein, um für gleich zwei solcher großen Ereignisse hintereinander zu schmücken. Erst die Hochzeit des Sohnes der Ältesten und dann die Ernennung der neuen Hauptmännin. Alle Augen richteten sich auf diese beiden Anlässe. Anders als Martha verspürte Rakna keine Aufregung. Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht ewig an einen Mann binden würde, sondern nur an einen Titel. Leichten Schrittes begab sie sich zum Langhaus ihrer Freundin. In der Nacht vor der Hochzeit war es untersagt, dass sich das zukünftige Ehepaar sah, denn das brachte Unglück, so der Aberglaube. Stattdessen war es Brauch, dass ein Freund der Brautfamilie die Beichte abnahm und sie von ihren Sünden reinwusch. Rakna glaubte nicht an diesen Irrglauben, aber im Dorf war es ein beständiges Ritual und für Martha war es der aufregendste Tag in ihrem Leben. Zuerst würde sie, zusammen mit der Mutter und der Großmutter, das Haar der Braut mit Blumen schmücken, als Zeichen der Fruchtbarkeit und der ewigen Schönheit. Anschließend wandern die beiden Freundinnen zu einer nicht weit entfernten Quelle. An diesem Ort sollte sie dann Marthas tiefste Geheimnisse erfahren und sie mit einer rituellen Waschung von ihren Sünden befreien. Wieder zu Hause angekommen, würde Martha mit ihrer Jungfernrobe, das Mädchensein ablegen und mit dem angelegten Hochzeitsgewand, zur Frau werden. Bis zum Morgengrauen, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über das Gras wandern lässt, warten die beiden Frauen gemeinsam, bis der Bräutigam seine Braut schließlich abholte, um mit ihr das neue Leben zu beginnen. Auch Rakna hatte sich heute, ganz nach dem Brauch, besonders festlich gekleidet. Sie trug seit vielen Jahren erstmals wieder ein Kleid. Extra hoch geschnitten, in einem traditionellen Grün, denn das ist die Farbe der Hoffnung. Es hatte anliegende Ärmel, die bis zu den Handgelenken reichten und einen Kragen, der in einem kurzen V-Ausschnitt endete. Brust und Taille waren mit einer silbernen Knopfreihe verziert und der Saum des Kleides fiel in lockeren Falten über ihr Knie. Darunter trug Rakna dennoch eine Hose. Es war für sie normal geworden sich zu verhüllen. Zum Einen, um den Schein zu wahren, sie sei ein ganz gewöhnliches Mädchen ohne irgendwelche Makel. Zum Anderen, weil sie eine Abneigung gegen ihre Beine hegte. Sie hasste den Anblick ihrer Waden. So viel sie auch trainierte, schaffte Rakna es dennoch nicht, ihre Unterschenkel muskulös aussehen zu lassen. Deshalb war es ihr nur recht, sie zu verhüllen. Ihre Haare waren wie immer zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, doch heute hatte sie, statt eines einfachen schwarzen Bandes, ein passendes grünes Haarband mit weißen Blumen gewählt. Über ihre feinen, braunen Lederschuhe freute sie sich besonders. Sie trug die Schuhe gern, denn sie waren unglaublich bequem und man schwitzte nicht in ihnen. Angesichts der bevorstehenden Feierlichkeiten, war sie heute ausgesprochen guter Laune. Mit federndem Gang durchquerte sie das kleine Dorf. Hier und dort grüßte man sie fröhlich oder nickte ihr zu. Als sie vor der hölzernen Tür ihrer Freundin angekommen war, erhob sich schon ein aus feinen, weißen Rosen geflochtener hoher Bogen. Er war der erste Vorbote, für das, was hier heute Nacht geschehen würde. Aus dem Inneren vernahm man laute Geräusche, die ganz nach Marthas barschen Anweisungen klangen. Rakna trat unter den Rosenbogen und klopfte zwei Mal kräftig. Für einen Moment wurde es still. Die Tür wurde aufgerissen und Martha warf sich in ihre Arme.

      „Endlich! Ich warte schon seit Stunden und bin fürchterlich aufgeregt. Schick siehst du aus, konntest dich wohl doch nicht von deinem Hosenboden trennen. Na ja, so bist du eben. Immer anständig.“ Martha lächelte kokett und winkte ihre Freundin zu sich herein. Im Haus liefen die Vorbereitungen schon auf Hochtouren. Einige Leute flitzten eilig umher, um etwas zu holen, zu bringen oder anderes zu erledigen. In der Küche befanden sich so viele Menschen, dass kein Zentimeter Platz mehr war, um irgendetwas abzustellen. Und so schubsten und drängelten sich die Leute aneinander vorbei und nicht selten hörte man etwas auf dem Steinboden zerschellen. Martha rief aus einem der hinteren Zimmer nach Rakna und sie beeilte sich ihrer flinken Freundin hinterherzukommen. Sie betrat das Schlafgemach der Eltern. Ein großer Spiegel war hier aufgestellt worden. Weitere weiße Blumen standen auf dem Boden, um sie gleich in das Haar der Braut einzuflechten. Jetzt erschienen Marthas Mutter und Großmutter, mit Bändern so rot wie Blut. Diese waren Bestandteil ihrer Brautfrisur. Rakna hielt sich, beim Flechten, zum größten Teil zurück. Sie war ausgezeichnet darin die Axt zu schwingen oder drei Männer gleichzeitig abzuwehren, aber Flechtarbeiten hatte sie seit Kindertagen nicht mehr ausprobiert und es lag ihr fern, die Frisur ihrer Freundin zu ruinieren. Martha war doch so leicht zu erschüttern.

      Als sie endlich fertig waren, begaben sich die beiden Frauen, laut plaudernd, auf den Weg. Sie sprachen über Erik, wie liebevoll er um Marthas Hand angehalten hatte. Martha berichtete über die große Freude ihrer Eltern in Bezug auf die bevorstehende Hochzeit und auch von dem hohen Titel von Rakna. Ein weiteres Thema kam zur Sprache. Ganz zu Raknas Leidwesen. Immer wieder ärgert Martha sie damit, dass sie sich absolut nicht auf einen Mann einlassen wollte. Mit fast neunzehn Lebensjahren war Rakna im heiratsfähigen Alter. Es hatte schon einige Verehrer gegeben, doch sie lehnte alles Werben ab. Es gab niemanden, dem sie genug vertraute, um ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, und somit hatte sie beschlossen sich Keinem aus dem Dorf anzuvertrauen. Dies war der Grund, warum sie hoffte, dass sich das Tor an der Weide erneut öffnete. Hier gab es niemanden, der das Mal nicht verabscheute. Würde hier irgendjemand davon wissen, was sie unter ihrer Kleidung versteckte, wäre sie dem Tode geweiht. Wahrscheinlich wurde sie von dem eigenen Ehemann schneller hingerichtet, als dass sie ihre Geschichte erzählen könnte. Doch im Elfenreich gab es Jemanden, der Rakna geholfen hatte, obwohl sie das Mal trug. Sie dachte an Lynthriell.

      Allerdings hatte es einst einen Jungen aus ihrem Dorf gegeben, den sie einmal gern gehabt hatte. Dieser war ebenfalls an ihr interessiert. Dior wurde zusammen mit ihr als Wache ausgebildet. Eine Zeit lang verbrachten sie jeden Tag miteinander. Bis er irgendwann, ehrlich um sie warb. Er war der erste Junge, der es versuchte. Am Anfang hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, sich ihm anzuvertrauen und einzuweihen. Andererseits hatte sie die Warnung von Lynthriell nicht vergessen und sich eine Prüfung für ihn ausgedacht. Eines Abends lud sie ihn ein, sie zur Trauerweide zu begleiten. Zusammen hatten sie sich auf dem Waldboden, nicht weit entfernt, niedergelassen. Sie erzählte ihm eine Geschichte, in der sich ein geheimnisvolles Tor unter der Weide öffnete und ein fremdartiges Wesen daraus hervor trat. Dann hatte sie ihm folgende drei Fragen gestellt.

      Würdest du diesem Geschöpf in Not helfen?

      Lieferst du es an die Anderen aus?

      Tötest du es sofort?

      Die Antworten des Jungen waren ehrlich, aber eine große Enttäuschung für Rakna. Wäre sie ihm in der fremden Welt über den Weg gelaufen, hätte er sie verraten und auf der Stelle ermordet. Wie würde er erst auf ihr Dämonenmal reagieren? Ihre Zuneigung war an diesem Abend erloschen und seine Chance vertan. Es war kein Geheimnis geblieben, dass ihre anfänglichen Gefühle mit einem Schlag abgeklungen waren. Besonders Martha war an den Gründen interessiert, doch Rakna hatte sich dazu nie geäußert.

      In der Zwischenzeit erreichten die jungen Frauen die Quelle und Martha versuchte, das alte Thema wieder aufzunehmen. Sie war sich sicher, heute, an diesem rührseligen Tag, Rakna endlich eine Antwort zu entlocken. Die ahnte jedoch schon die Absichten ihrer Freundin