Josephine Becker

Rakna


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wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Ihre Arme brannten fürchterlich. Vollkommen aus der Puste taumelte sie auf das kleine Mädchen zu, welches erstmals aufblickte. Ihr Gesicht war rot vom vielen Weinen. Ihre Lippen zitterten.

      „Helgi! Bin ich froh ...!“ Kaum, dass sie ein paar Worte gewechselt hatten, war schon ein leises Rascheln in der Nähe zu hören. Es verriet Rakna, dass sie nicht alleine waren.

      „Schnell komm zu mir, sofort!“ Das zitternde Kind rappelte sich mit wackeligen Beinen auf und kauerte sich hinter ihre Beschützerin. Sie schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass noch jemand Anderes hier war. Rakna schaute sich rasch nach einer Waffe um, mit der sie sich verteidigen konnte. Sie ergriff einen scharfkantigen Stock neben einem großen Stein, direkt vor ihr. Dann hockte Rakna sich schützend hinter den Felsen. Sie spitze ihre Ohren, um etwas wie eine Bewegung oder ein Geräusch aufzuschnappen, aber es war totenstill. Das Geschöpf lauerte im Gebüsch. Mit sanften Druck schob sie Helgi in die Deckung des Steins und schlich vorsichtig um ihn herum in Richtung des Strauches. Langsam bogen sich die Äste zur Seite und eine pelzige klauenbesetzte Pfote zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Darauf folgte eine große aufgerissene Schnauze, mit scharfen weißen Zähnen. Ein grauer Wolf, mit funkelnd gelben Augen, hatte sich aus dem Gebüsch gezwängt und kam langsam lauernd auf Rakna zu. Sein Blick war starr auf sie gerichtet, ohne ihn für eine Sekunde abzuwenden. Schon oft hatten sie mit den Hunden des Dorfes solche Situationen trainiert. Rakna war darauf vorbereitet, aber damals hatte sie eine ordentliche Rüstung und eine solide Axt. Sie nahm eine verteidigende Haltung ein, ihre einzige Waffe, der Stab in der Hand. Genauso lauernd wie der Wolf, lief sie ein Stück weg von der Stelle, an der das kleine Mädchen saß. Rakna wollte um jeden Preis verhindern, dass das Biest auf sie aufmerksam wurde. Ihre List funktionierte und das Tier ließ sich weglocken. Er zog seine Lefzen hoch und ein tiefes Knurren war zu hören. An den Augen erkannte sie, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er zuschlug. Rakna musste aufmerksam sein und durfte sich nicht ablenken lassen. Sie blieb schlagartig stehen, um ihn zum Angriff zu provozieren, dann ... Lautes Geschrei! Von der Stelle aus, an der Helgi gesessen hatte, kam das Brüllen. Das kleine Mädchen lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich und für einen kurzen Augenblick schreckte der Wolf zusammen. Diesen winzigen Moment, der Unachtsamkeit seitens des Tieres, nutze Rakna aus, um zuzuschlagen. Blitzschnell riss sie den Stab hoch und traf das Biest an der Schulter. Doch er hatte ihre Bewegung wahrgenommen, und war ausgewichen, sodass sie ihn nicht in die Flucht schlagen konnte. Er taumelte einige Schritte rückwärts. Dann setzte er zum Gegenangriff an. Mit einem einzigen kräftigen Sprung machte er einen Satz nach vorn und Rakna blieb gerade noch Zeit, ihren spitzen Stock schützend hochzureißen, als der Wolf sie schon mit seinem muskulösen Körper umriss. Zähnefletschend versuchte er, etwas von ihr zwischen die Hauer zu bekommen. Rakna kämpfte, mit alle ihrer Macht, um ihn von sich fernzuhalten. Mit der freien rechten Hand packte sie einen Stein und schlug mit einem festen Hieb gegen den Kopf des Wolfes. Sogleich rollte er von ihr herunter. Leider war er genauso schnell auf den Beinen wie Rakna und abermals standen sie sich gegenüber. Dieses Mal preschte sie zuerst auf ihn zu. Sie würde ihm nicht die Möglichkeit geben, einen weiteren Angriff zu planen. Der Wolf reagierte reflexartig und ihr Schlag ging ins Leere. Das Biest zog sofort nach und Rakna wurde komplett unter dem massigen Körper begraben.

      „Rakna!“, schrie Helgi mit verzweifelter Stimme. Für einen Moment sah es so aus, als würde der Wolf sie zerfetzen. Doch dann war ein gequältes Jaulen zu hören und das Tier rannte mit eingezogenem Schwanz davon. Rakna hatte ihm ihre flache Hand an die Kehle gerammt und ihren spitzen Stock in die Flanke getrieben. Eingeschüchtert zog sich der Angreifer zurück. Als das Trommeln der Pfoten nicht mehr zu hören war, richtet sie sich wieder auf. Eine Kralle des Wolfes hatte ihren Arm aufgeschlitzt, es blutete stark. Aber das war egal, Rakna dachte nur an Helgi. Es war auch noch später Zeit, um sich zu verarzten. Mit den Augen suchte sie das Ufer nach dem Kind ab. Hinter einem großen Stein sah sie ihre weißen Haare hervorschauen. Als Helgi merkte, dass die Luft rein war, rannte diese auf die geschundene Rakna zu. Immer wieder neue Wogen von Tränen sprudelten hervor. Die junge Frau hatte Mühe die Worte des Kindes zu verstehen. Helgis makellos weißes Haar, war an den Spitzen noch immer ganz nass.

      „Es tut mir leid! Bearna hat so gemeine Dinge gesagt. Ich bin einfach weggerannt, so weit wie möglich.“ Rakna schaffte es, dass die Kleine sich etwas beruhigte und dann erzählte sie, was passiert war.

      „Tharas und ich haben am Ufer gespielt. Da kam Bearna zu uns. Sie hat mich herumgeschubst und an meinen Haaren gezogen. Sie nannte mich eine Missgeburt, weil ich seit Anfang an weißes Haar habe. Ich wäre eine alte runzlige Kuh und meine Mutter hätte Unaussprechliches mit einem Monster getrieben. Und weißt du, ich glaube, sie hat Recht. Ich bin zu nichts zu gebrauchen und diese Haare, sie sind widerlich.“ Die Worte sprudelten aus dem Kind heraus, als ob sie ihr schon seit Jahren auf dem Herzen lagen und es schüttelte sie vor lauter Schmach. Rakna betrachtete sie für einen Moment und versuchte, ihre Antwort mit Bedacht zu wählen.

      „Helgi, ich kann nicht glauben, dass du das ernsthaft denkst! Alles an dir ist perfekt und weißt du was? Deine Haare sind was Besonderes. Sei dankbar dafür. Außerdem bist du sehr wohl zu etwas nutze. Immerhin hast du den filigranen Torbogen für die Hochzeit deiner Schwester geflochten.“

      „Aber es ist unnatürlich, mit solchen Haaren geboren zu werden. Ich kenne niemanden, der sowas je gesehen hat. Rakna, ich habe Angst, das Bearna Recht haben könnte.“

      „Was meinst du? Etwa dass du von einem Monster abstammst?“ Unwillkürlich lächelte Rakna, doch das bereute sie sofort, denn Helgi schaute sie zornig an.

      „Ich habe von Elfengeschöpfen gehört, die ihre Opfer verschleppen und genau so etwas mit ihnen tun, gegen den eigenen Willen.“

      „Ich verrate dir jetzt mal was, Helgi. Ich war schon an den seltsamsten Orten, mit den merkwürdigsten Geschöpfen und habe mich sogar mit einem Elfenwesen unterhalten. Glaub mir, das ist das Letzte, was sie versuchen. Es gibt dort auch nette Elfen. Von ihnen abzustammen ist, meiner Meinung nach, ein Geschenk und keine Strafe.“ Das andersartige Mädchen hatte so aufmerksam zugehört, dass es ganz vergessen hatte zu weinen. Dann fragte sie mit überraschter Miene.

      „Du bist einem Elfenwesen begegnet? Einer lebendigen Elfe?“

      „Ja, einer echten Elfenfrau und sie war überhaupt nicht bösartig. Sie hat mir sogar das Leben gerettet. Aber das bleibt unser Geheimnis Helgi, ist das klar?“ Mit aufgerissenen Augen nickte sie zustimmend mit dem Kopf. Dabei sah das kleine Mädchen genauso aus wie ihr Bruder Tharas an dem Abend, als sie gemeinsam mit Martha und ihm heimlich in den Wald gegangen war. Rakna stellte fest, dass die beiden Geschwister ein und dieselbe Augenfarbe hatten. Braun, mit goldenen Einschlüssen.

      „Komm, wir gehen! Nicht, dass unser haariger Freund mit Verstärkung wiederkommt.“ Zum ersten Mal lächelte Helgi.

      „Außerdem habe ich mit Bearna ein ernstes Wörtchen zu reden. Ich will wissen, von wem sie abstammt. Immerhin ist ihr Haar fuchsrot.“ Sie grinste das Mädchen verschmitzt an, welche nun laut loslachte. Auf dem Rückweg klammerte sich Helgi an Raknas Rücken fest und gemeinsam schwammen sie zurück zum rettenden Strand. In der Zwischenzeit, während die Beiden auf der Insel waren, hatte sich eine Menschentraube am Rande des Sees angesammelt. Kaum, dass sie das Ufer erreichten, riss Maidread ihr kleines Mädchen an sich und schloss sie fest in ihre Arme. Immer wieder küsste sie ihr kaltes nasses Gesicht und rief schluchzend ihren Namen. Freudentränen überströmten ihr Antlitz. Dann zerrte sie auch Rakna an sich und umarmte sie stürmisch. Verlegen tätschelte Rakna Maidreads Schulter, unfähig etwas zu sagen. Jäh wurde Rakna von gleißenden Sonnenstrahlen geblendet. Die Sonne stand schon hoch am Horizont. Zu hoch. In wenigen Stunden begann die feierliche Verleihung und sie vergeudete hier ihre Zeit, tropfnass, voller Blut und mit zerzausten Haaren. Unauffällig versuchte sie sich, loszueisen. Doch das kleine Mädchen zupfte bereits an ihrer klammen Kleidung.

      „Ich würde dir gerne eine Frisur flechten, Rakna. Als Dankeschön, dass du mich gerettet hast.“, sagte Helgi verlegen.

      „Nichts wäre mir lieber. Aber vorher habe ich etwas zu erledigen.“ Schnellen Schrittes drängte Rakna sich durch die Schar von Menschen, die sich um sie herum versammelt hatte und steuerte auf Bearna zu. Hier und da wurde ihr auf die