Josephine Becker

Rakna


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sagte:

      „Beeil dich, der Weg hinter mir ist frei.“ Was sie da hörte war unfassbar. Nie hätte sie gedacht, dass Dior dazu im Stande war, etwas gegen die Regeln ihres Dorfes zu tun und auf eigene Faust über richtig und falsch zu entscheiden. Nach ihren letzten Gesprächen hatte sie immer geglaubt, er wäre eine abgerichtete Wache, die von der Obrigkeit gesteuert wurde. Doch jetzt stand er da und rettete ihr das Leben. Sie nickte ihm zu und drückte dankbar seine Hand, dann rannte sie, so schnell sie konnte.

      Sie floh vor ihrem eigenen Volk. Es war schon paradox, eben noch wollten sie ihr den zweithöchsten Ehrentitel verleihen und jetzt war sie eine gesuchte Verbrecherin. Doch die junge Frau hatte keine Zeit sich Gedanken darüber zu machen. Sie musste fliehen. Eilig stürzte sie vorwärts, durch Büsche und Zweige bis zum Gartenzaun, der an den Wald grenzte. Mit einem kräftigen Sprung hatte sie den kleinen Zaun überquert und erblickte das schützende Wäldchen, in welches sie sich jetzt flüchtete. Von dort aus hatte sie einen leichten Blick auf das Geschehen und konnte alles, was um das Langhaus der Ältesten stattfand, beobachten. Mit Fackeln leuchteten sie hinter jeden Busch und erhellten jeden Winkel. Sie sah auch Dior, der jetzt in die entgegengesetzte Richtung von Rakna deutete. Sie war ihm wahrlich zu Dank verpflichtet, doch im Moment war es ihr nicht möglich, sich zu revanchieren. Für einen winzigen Augenblick überlegte sie, was geschehen wäre, wenn sie sich Dior anvertraut und ihn nicht abgewiesen hätte. Rakna stand ratlos da. Was war nun zu tun? Nach Hause konnte sie nicht. Sicher suchten sie dort als Erstes nach ihr. Aber wohin sollte sie ohne Waffe, Proviant oder passende Kleidung fliehen? Der einzige geschützte Ort, der ihr einfiel, war die alte Trauerweide. Als Kind hatte sie unter ihr Schutz gesucht, vielleicht gab er ihr auch heute Sicherheit. Vielleicht öffnete sich das Tor erneut? Es blieb ihr keine Wahl, eine andere Idee hatte sie nicht. Also begab sie sich auf den Weg durch das dichte Geäst. Es war dunkel und beschwerlich den richtigen Pfad zu finden, doch Rakna kannte sich in diesem Wald so gut aus, dass sie ihn auch blind erspürte. Es dauerte nicht lang, bis sie die große Lichtung, die von der alten Trauerweide gekrönt wurde, erreicht hatte. So nah am Ziel, setzte sie schon dazu an, auf den Baum zuzustürmen, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Ruckartig drehte sie sich herum, um ihren Verfolger zu erblicken, und sie erkannte vor sich Thorgard, die Älteste. In ihrem Gesicht stand der blanke Hass. Mit vor Wut zitternder Stimme sprach sie zu Rakna.

      „Ich wusste es! Die Verbrecherin kehrt an den Ort des Vergehens zurück. Du wagst es, dich in unsere Mitte einzuschleichen. Wie konntest du glauben, dass du damit durchkommst? Du bist wahrhaftig ein Monster. Jetzt wirst du für deine Arroganz sterben.“ Mit einem kraftvollen Satz, den Rakna der alten Frau gar nicht zugetraut hätte, sprang diese auf sie zu. Doch Rakna glitt zur Seite und flüchtete sich hinter einen nahe stehenden Baum.

      „Woher wusstet Ihr, dass ich hier bin?“

      „Glaubst du, ich erkenne diesen Dreck unter deiner Haut nicht? Für so töricht hätte ich dich nicht gehalten, Rakna Wolfshaut. Ich weiß was dich gebissen hat und wenn es noch keinen Besitz von dir ergriffen hat, dann wird es nicht mehr lange dauern.“

      „Thorgard, du verstehst das nicht. Es ist versiegelt, ich bin die Gleiche wie zuvor.“

      „Halte deine spitze Zunge zurück! Ich werde meinen Verstand nicht von diesen Lügen vergiften lassen.“ Die Älteste rannte um den Stamm herum und holte weit aus, um Rakna niederzustrecken. Ein neuerliches Mal schaffte sie es, erfolgreich auszuweichen, aber der Schlag prallte an der Rinde des Baumes ab und federte zurück. Die zweischneidige Klinge des Schwertes traf Rakna brutal am Arm. Sie spürte, wie warmes Blut an ihrem Unterarm herunterlief. Nun hatte sie Gewissheit, dass mit ihrer Anführerin nicht zu reden war. Ohne Waffe oder Rüstung ergriff Rakna die Flucht. Sie nutzte den Moment, in dem die Älteste erneut zum Schlag ausholte um durch die entstandene Lücke zu fliehen. Den einzigen Gedanken, den sie hatte, war so schnell wie möglich unter die Zweige der bejahrten Trauerweide zu verschwinden. Hinter sich hörte sie den Schlachtruf vieler Männer des Dorfes. Thorgard war offensichtlich nicht mehr allein. Einen Spurt würde sie nicht durchhalten und verletzt, ohne Waffe, gewann sie keinen Kampf. Hastig zwängte Rakna sich zwischen den Zweigen hindurch. Dabei peitschten ihr die Äste ins Fleisch, doch Rakna nahm es kaum wahr. Überleben war ihr einziges Ziel. Abrupt erreichte sie das Zentrum und den Stamm des Baumes. Es war stockdunkel hier. Durch das Laub waren die Geräusche dahinter nur schwach zu hören, aber Rakna wusste, dass sie näher kamen. Was sollte sie nur tun? War es schlau, wieder durch das Tor zu schreiten? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Ring! Sie hatte ihn heute zur Feier des Tages angesteckt. Lynthriell sagte damals, sie solle nur an dem kleinen eingelassenen Stein reiben, wenn sie in Schwierigkeiten steckte und es würde Hilfe herbei eilen. Es war ihre letzte Hoffnung und was hatte sie denn zu verlieren? Mit zitternden Händen streckte sie ihren dünnen Finger aus und betrachtete den Ring. Der Stein war winzig, es war unvorstellbar, wie ihr das helfen sollte. Dennoch rieb sie an dem weißen Steinchen und sofort leuchtete er in einem hellen Blau. Das Licht pulsierte leicht, aber sonst geschah nichts. Die Stimmen wurden lauter und sie vernahm, wie hin und wieder ihr Name gerufen wurde. Die Anderen hatten sie fast erreicht und waren sie erst einmal da, schütze Rakna nur die Angst der Menschen vor diesem verfluchten Baum. Langsam kam Panik in ihr auf. Seit Jahren hatte sie kein Angstgefühl mehr verspürt. Selbst ihre erste Jagd auf einen Mörder hatte sie nicht so erschüttert. Doch heute war es anders. Es war, als wäre sie wieder das kleine Mädchen, ungeschützt und hilflos. Sekunden vergingen und nichts passierte. Sie hatte keine Ahnung, wie die Hilfe aussah, nie zuvor hatte sie von dem Ring Gebrauch gemacht. Wer oder was würde kommen, um ihr zu helfen? Stürzte vielleicht ein großes Tier in die Menge und zerriss ihre Verfolger? Sollte dem so sein, dann hätte sie das nicht gewollt. Auch wenn ihr Volk sie verstoßen hatte, so war es dennoch ihre Heimat. Oder würde der Ring sie mit einem Schleier umhüllen, der sie für die Augen der Anderen unsichtbar machte? Ihre blasse Haut leuchtete förmlich in dem wenigen Licht des Steins. Was richtete dieser magische Ring aus? Rakna wusste es nicht und da er keine weiteren nennenswerten Kräfte zeigte, außer dass er verräterisch leuchtete, sah sie sich schon aufgespießt auf einem Schwert. All ihre Hoffnung hatte sie in Lynthriell gesetzt. Jetzt kam sie sich dumm vor, auf Wesen zu vertrauen, die sie zuvor nur einmal gesehen hatte und von denen sie nicht wusste, was sie im Schilde führten. Rakna bestrafte sich selbst in Gedanken, als plötzlich Schritte direkt vor ihr zu hören waren. Die Füße zweier Männer erschienen zwischen den Ästen. Sie sprachen hastig miteinander.

      „Die Älteste hat gesagt, dass sie zum Stamm der Weide vorgedrungen ist. Wir sollen sie schnappen, bevor sie etwas anstellt.“, sagte einer der Männer mit zitternder Stimme.

      „Sie ist unter dem Baum? Wer holt sie da raus? Ich werde mein Leben nicht für eine Verräterin aufs Spiel setzen!“ Kaum, dass die empörten Stimmen verklungen waren, hörte Rakna weitere Schritte, und ein dritter Mann sagte verächtlich:

      „Ihr Feiglinge seid zu nichts zu gebrauchen! Euer Aberglaube hat euch völlig verweichlicht.“ Daraufhin wurden rechts von Rakna, mit harten Hieben, die Äste zerfetzt und sie sah eine silberne Rüstung aufblitzen. Darauf war ein Eberkopf abgebildet, hinterlegt mit einer Sonne. Barbas machte ebenfalls Jagd auf Rakna und er war nur jämmerliche fünf Meter von ihr entfernt. Im Inneren wusste sie bereits, dass keine Hilfe kam. Es blieb zu wenig Zeit, um sie zu retten. Gleich würde Barbas ihr gegenüber stehen und Rakna entweder entzweihacken oder sie gefangen nehmen. Dann war sie dem Hass ihres Volkes ausgesetzt. Sicher verbrannten sie Rakna als Hexe auf dem Scheiterhaufen, andernfalls warfen sie sie den Hunden zum Fraß vor. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stand er schon in voller Größe vor ihr. Ein gehässiges Grinsen breitete sich über sein grausames Gesicht aus und er begann mit geschwollener Brust zu sprechen:

      „Na? Wer ist jetzt der Überlegene? Hättest dich nicht so aufblähen sollen. Kein Wunder, dass du die Missgeburt verteidigt hast, bist ja selbst eine. Nun wirst du sterben, Rakna Wolfshaut.“ Mit diesen Worten hob er seinen schweren Morgenstern, ihr blieb nichts, als ihre Hände schützend über ihren Kopf zu halten. Sie schloss die Augen und erwartete schon den dumpfen Aufprall der Waffe zu verspüren, doch stattdessen merkte sie einen starken Arm, der sich von hinten um ihre Taille legte. Die vollkommen verwirrte Rakna hatte das Gefühl, als würde sie durch das Erdreich fallen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch einen goldenen Schimmer und das Gesicht des entsetzten Barbas. Dann verschwand