Josephine Becker

Rakna


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der Menge herum. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie stand wie angewurzelt da, als Rakna sie erblickte.

      „Der Kampf war ...“ Rakna schnitt ihr augenblicklich das Wort ab.

      „Ich habe gehört, wie dunkel es in deiner Seele ist. Spar dir die Erklärungen, sie sind doch nichts als leeres, unehrliches Gefasel. Wird mir noch einmal zugetragen, dass du Helgi oder irgendein anderes Kind, wegen ihres Aussehens quälst, dann sage ich dir, wirst du ein ernstes Problem bekommen. Haben wir uns verstanden?“ Bearna stolperte einige Schritte rückwärts, während sie mit zusammengekniffenen Lippen nickte. Die Angst stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, aber das war Rakna egal. Aus der Masse drängelte sich eine weitere Person hervor. Mit barschem Ton schimpfte er auf Rakna ein.

      „Was fällt dir ein, meine Tochter zu bedrohen, Rakna Wolfshaut?“ Der Vater des ungezogenen Mädchens stellte sich ihr mit verschränkten Armen in den Weg.

      „Du wirst mir zustimmen Barbas, wenn ich dir sage, dass deine Tochter andere Kinder herumschubst, nur weil ihr deren Gesicht nicht gefällt.“

      „Was kümmert es mich. Die Bälger müssen in diesem Alter lernen, sich durchzusetzen. Deshalb solltest du dich, als fast Erwachsene, aus solchen Kleinigkeiten raus halten. Was würde die Älteste dazu sagen, wenn sich unsere Hauptmännin um Kinderkram kümmert und ihre wahren Aufgaben vernachlässigt?“

      „Ich finde nicht, dass es belanglos ist. Alle Kinder in diesem Dorf sind unsere Zukunft und sind die Voraussetzung für ein einvernehmliches Zusammenleben. Wir sind keine Barbaren, die sich gegenseitig abschlachten, nur weil die Nasenspitze nicht an der richtigen Stelle sitzt, Barbas.“

      „Es sind nur Kinder und ich denke, das wird unser Oberhaupt, die Älteste, genauso sehen. Ich werde sie davon unterrichten.“ Mit ausgestrecktem Finger zeigte er drohend auf Rakna. Sie hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als ihr jemand anderes zuvorkam.

      „Ich glaube, ich entscheide selbst, was für mich wichtig ist Barbas, danke ...“ Die Älteste hatte alles aus den hinteren Reihen beobachtet und mitgehört. Rakna war froh, dass sie ihre Meinung teilte, auch wenn sie es für unnötig hielt, dass sie ihr zur Hilfe eilte. Ein kurzer Blick, der eindeutig bedeutete: - misch dich nicht ein - ließ Rakna verstummen.

      „Sie hat Recht. Wir sind ein Volk, und das sollten wir nicht vergessen. Die Kinder müssen rechtzeitig lernen, wem ihre Gunst zusteht. Sie sind genauso Teil unseres Volkes. Selbst das kleinste Mitglied, wird mit Respekt behandelt. Rakna ist bald Eure Hauptmännin. Ihr solltet Euch an ihre Art, wie sie die Dinge regelt, gewöhnen. Das gilt für alle!“, dann wandte sie sich direkt an Rakna und sagte leise:

      „Beeil dich! Es ist nicht mehr lange bis zur Zeremonie.“ Mit diesen Worten durchquerte sie die Menge und marschierte davon. Barbas schubste seine Tochter brummelnd vor sich her und verließ die Szenerie. Er kochte vor Wut. Das würde noch ein Nachspiel haben, dessen war Rakna sich sicher.

      Sie hatte wahnsinnig viel Zeit verloren. Erst die Rettung von Helgi, der Kampf und jetzt die unerwartete Diskussion mit Barbas über seine unredliche Tochter. Sie musste dringend aus den nassen Sachen raus und ihr Festgewand anlegen. Normalerweise wäre das rasch vonstattengegangen, doch da war ihr Mal, was niemand sehen durfte. Kaum, dass sie zu Hause war, zog sie hastig die tropfenden Kleider aus. Sie klebten an ihr und erschwerten es, sie herunterzuziehen. Mit schnellen Bewegungen befreite sie ihr Gesicht und ihre Arme vom geronnenen Blut. Dann nahm sie das Ritualgewand aus dem Schrank. Es bestand aus einer engen braunen Hose, deren Beinaußenseiten grüne Einsätze zierten. Das obere Gewand war ebenfalls aus demselben derben Stoff gewoben. Es war lang und reichte weit über die Hüfte. Oberhalb der Brust waren zusätzliche moosgrüne Applikationen angebracht, welche von der Schulter, bis zur Wirbelsäule rankten. So sah es aus, als ob frische grüne Zweige an ihrem Körper hochwuchsen. Auf Raknas Wunsch war das Gewand am Hals höher geschnitten. Gewöhnlich hatte es keine Ärmel, doch hier hatte Rakna eine Änderung vornehmen lassen. Als sie das Kleidungsstück ausbreitete, um es überzuziehen, entdeckte sie etwas, das ihr Herz still stehen ließ. Für einen Moment verharrte sie reglos und starrte auf den Stoff, den sie in den Händen hielt. Der hoch geschnittene Kragen war von der Näherin des Dorfes einwandfrei angesetzt worden, doch die verlängerten Ärmel fehlten. Sie endeten knapp über der Schulter und als Rakna das Gewand anzog, bedeckte es nicht das gesamte Mal. Die schwarze Zeichnung ragte einen Daumen breit unter dem Gewebe hervor. Ihr wurde schwindelig und sie war sich sicher, dass ihr Gesicht bleich geworden war. Was sie da sah, erschien unglaublich. Schon vor Tagen hatte sie das Gewand anfertigen lassen und war extra zum Abmessen gekommen, was sie sonst vermied. Doch aus Angst, ihr Dämonenmal könnte entdeckt werden, hatte sie dieses Mal eine Ausnahme gemacht. Nur Gudrun, der Näherin, war es erlaubt an Raknas bestehenden Kleidern Maß zu nehmen. Anfangs hatte sie seltsam dreingeschaut, aber schließlich nicht nachgefragt, und ging einfach ihrer Arbeit nach. Nun sah es jedoch so aus, dass Gudrun vergessen hatte, die Ärmel anzunähen. Sie fehlten und in der kurzen Zeit war es nicht möglich, Neue anzubringen. Fieberhaft rannte Rakna zum kleinen Fenster ihrer Hütte und schaute panisch in Richtung Himmel. Die Sonne sank immer tiefer und berührte schon sanft die hohen Baumwipfel. Es blieben ihr nur wenige Augenblicke, um sich etwas einfallen zu lassen. Sie rannte zum Schrank und riss alle ihre Hemden und Blusen aus dem obersten Fach. Hastig durchwühlte sie die durcheinandergeratenen Sachen nach Etwas, was unter Raknas Gewand passte. Irgendwie musste sie die fehlenden Ärmel ausgleichen. Schließlich fand sie eine braune Leinenbluse, die sie vor einigen Jahren zu einer Feierlichkeit getragen hatte. Sie war etwas eng um die Brust geworden, doch sie reichte hoffentlich aus. Warum hatte sie die Näharbeiten nicht kontrolliert. Blind hatte sie vertraut, dass alles in Ordnung sei. All die Jahre war Gudruns Arbeit tadellos. Doch Rakna hätte sich nicht blindlings darauf verlassen dürfen. Irgendwann musste der Tag kommen, an dem es nicht passte. Aber warum passierte es ausgerechnet an dem Tag der Verleihung des Ehrentitels? Die finsteren Gedanken, die in ihr aufkamen, erleichterten es nicht. Sie musste sich schnell entscheiden, denn ihr Haar war vom Schwimmen zerzaust und es dauerte nicht mehr lange, bis Helgi kam, um ihr eine Frisur zu flechten. Bis dahin lag es an ihr, sich umzuziehen und zu kämmen. Sie überschlug sich fast, als sie in ihre Hose schlüpfte und die Bluse überwarf. Sie war vor Langem zu klein geworden, doch ihr blieb nichts anderes übrig und sie musste damit vorliebnehmen. Jetzt war da nur noch die traditionelle Tunika zum Überziehen, um den Anforderungen des Rituals gerecht zu werden. Nun trug sie die doppelte Schicht an Kleidung. Das Provisorium reicht nur knapp über das Mal. Aber es war verdeckt. Rakna durfte nicht vergessen vorsichtig zu sein, dann würde nichts geschehen.

      Kaum, dass sie ihre Kleidung angezogen hatte, klopfte es bereits an der Tür. Helgi, dachte sie. Ihr Bauch war halb zu sehen, als sie die Tür aufriss. Sie setzte schon an, auf das kleine Mädchen einzureden, als Rakna erschrocken feststellte, dass nicht sie vor der Tür stand, sondern ein großer, braungebrannter Mann. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und deshalb kurz. Mit verwundertem, aber amüsierten Blick, wanderten jene braunen Augen an Raknas Taille entlang, nach oben. Ein leichtes Lächeln zuckte über das Gesicht und offenbarte all seinen Charme. Hastig zupfte sie ihre Garderobe zurecht und begrüßte ihren unerwarteten Gast.

      „Hallo Dior, ich hatte nicht mit dir gerechnet.“

      „Das habe ich gesehen, hast du etwas dagegen, wenn ich rein komme?“

      Rakna war zwar in Eile, doch Diors kurzfristiges Auftauchen hatte ihre Neugier geweckt und so bat sie ihn, mit einem Wink, herein.

      „Bitte mach es kurz. Ich habe keine Zeit.“

      „Ja natürlich, heute ist ja dein großer Tag. Ich bin eigentlich nur hier, um dir meine besten Wünsche auszusprechen.“ Seine Worte weckten in Rakna Skepsis. Nach all den Jahren kam er ausgerechnet an diesem Tag auf sie zu? Sie wusste, es gab noch einen anderen Grund, warum er zu ihr gekommen war. Trotz ihres Misstrauens sagte sie freundlich:

      „Ich danke dir, Dior. Das ist wirklich aufmerksam von dir!“ Sie beobachtete jede seiner Regungen und sah, dass da tatsächlich noch etwas anderes dahinter steckte. Er hatte den Blick gesenkt und kaute unablässig auf seiner Lippe. Die Hand hielt er verlegen im Nacken, als ob ihm etwas unangenehm sei. Rakna sagte nichts, sie wartete ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder zu sprechen begann.

      „Da