Josephine Becker

Rakna


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hölzerne Leiter, welche nach unten führte.

      „Steh auf. Uns bleibt keine Zeit mehr.“ Sie half Rakna auf die Beine und stütze sie, bis sie die Leiter erreicht hatte. Beide stiegen die vielen Stufen bis zum Boden hinab. Niemand konnte sie von hier aus sehen, denn dickes Blattwerk umgab sie, wie eine schützende Wand. Lynthriell schlich voraus und schaute, ob die Luft rein war. Dann wies sie Rakna mit einem Wink an, ihr zu folgen. War es klug einer Fremden nachzulaufen? Doch welche Wahl hatte sie sonst? Sie hatte die Möglichkeit ihr zu vertrauen und tiefe Enttäuschung zu erfahren, oder sie wurde gleich vom Rest des Elfenvolkes abgeschlachtet. Ihre letzte, verbleibende Hoffnung lag darin, dass die freundliche Art der fremden Frau keine Täuschung war. Also folgte sie ihr und sie liefen am Waldrand entlang, durch das schützende Dickicht der Blätter. Rakna spürte, angesichts des schnellen Rennens, wie ihr die Sinne wieder schwanden. Sie blieb an einem großen Stein gestützt stehen. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Die Gefährtin bemerkte ihre Schwäche, sie umfasste das kleine Mädchen an der Hüfte und trug sie vorwärts. Zurück auf der riesigen Blumenwiese, mit den herrlich duftenden Blumen, entdeckte Rakna etwas, das sie zuvor nicht gesehen hatte. An die Wiese schloss sich ein weites Feld aus dichtem hohen Schilf an. Es war dunkler als in der Menschenwelt und deutlich enger. Direkt davor war das geöffnete Tor zu sehen. Hinter den Beiden waren laute Stimmen und schnelle Schritte zu vernehmen. Lynthriell drehte sich nicht um, beschleunigte ihren Gang und zog Rakna jetzt geradewegs über die offene ungeschützte Wiese in Richtung des Tores. Erstaunlich rasch erreichten sie das Portal. In der Ferne waren die ersten Elfen zu erkennen, doch diese schienen sie nicht zu sehen. Lynthriell umklammerte fest den Arm des Mädchens. Bevor sie Rakna durch das Tor schob, sprach sie noch einmal im ernsten Ton:

      „Sprich mit keinem über das, was heute passiert ist. Zeige niemandem das Mal der Dämonin! Halte es immer bedeckt, sonst werden die Menschen dich jagen. Vertraue keiner Menschenseele! Hier ...“ Mit diesen Worten streckte Lynthriell Rakna ihrer Handfläche entgegen.

      „Nimm meinen Ring. Es liegt ein Zauber darauf. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, egal ob wegen eines Menschen oder etwas anderem, reibe an dem eingelassenen weißen Stein und es wird Hilfe zu dir eilen. Das Leuchten, welches erscheint, gibt dem Träger des zweiten Ringes das nötige Zeichen, um dir Beistand zu leisten.“ Lynthriell hob ihre Hand und Rakna sah genau denselben goldenen Ring an ihrem Finger.

      „Jetzt geh.“ Die Elfenfrau versuchte Rakna durch das Portal zu schieben, als sich das kleine Mädchen nochmals zu ihr umdrehte.

      „Ich heiße Rakna. Ich bin aus dem Hause Wolfshaut, das ist der Name meiner Familie.“ Zum ersten Mal sah sie Lynthriell lächeln. Es ließ sie umso strahlender erscheinen.

      „Ich hoffe, wir treffen uns eines Tages abermals, Rakna aus dem Hause Wolfshaut.“ Somit schritt das Mädchen durch das goldene Portal und fand sich unter den geschwungenen Ästen des Weidenbaumes wieder. Erneut dämmerte es zur Nacht, aber dieses Mal erhellte der Mond den Himmel. So schnell sie ihre zitternden Beine trugen, rannte sie den vom Vollmond erleuchteten Weg nach Hause.

      Als sie endlich die Brücke zu ihrem Dorf erreichte, schlich sie sich auf leisen Füßen bis zur Tür ihres Heimes und öffnete sie lautlos. Es brannte Licht im Inneren, aber niemand war zu sehen. Sie durchquerte den Hauptraum und spähte in die längliche Küche. Ein warmes Feuer loderte in der Feuerstelle und der angenehme Duft einer Gemüsesuppe hing in der Luft. Rakna konnte ihr Glück kaum fassen. Nachdem sie geglaubt hatte, nie wieder ihr Dorf zu sehen, geschweige denn ihren Vater, war sie jetzt in ihrem vertrauten Heim und alles würde so sein wie früher. Wie sehr sie sich irrte. Hinter ihr schlug die Tür zur Schlafkammer auf und Burk stand auf der Schwelle. Rakna stieß einen lauten Freudenschrei aus und rannte auf ihren vollkommen schockierten Vater zu. Sie umarmte ihn stürmisch. Zuerst kam keine Reaktion. Plötzlich packte er sie grob am Handgelenk und zog sie vom Fenster weg, in den Schatten des Hauses. Er begann mit zutiefst besorgter Stimme zu sprechen:

      „Rakna? Wo kommst du her? Wo bist du gewesen?“ Seine Worte klangen hart und doch angsterfüllt, wie sie es niemals zuvor von ihm erlebt hatte.

      „Aber Vater, freust du dich gar nicht, dass ich wieder da bin?“ Als sie in das bestürzte Gesicht schaute, bemerkte sie erstmals, dass er schrecklich alt geworden war. Tiefe Augenringe umgaben seine braunen Augen und Furchen von Sorge zeichneten die Stirn.

      „Wir dachten alle, du seist tot, Rakna. Seit einigen Monden hat dich niemand mehr gesehen. Wir haben gedacht, du wärst wilden Tieren zum Opfer gefallen oder Schlimmeres. Keiner wusste, wohin du verschwunden bist. Jetzt, nach so langer Zeit, kommst du plötzlich wieder? Ohne einen Kratzer? Sag mir Rakna, wo bist du gewesen?“ Die ernsten und eindringlichen Worte ihres Vaters bereiteten ihr mehr Angst als all das, was sie bisher erlebt hatte. Seit vielen Monden schon, sagte er? Wie war das möglich? Sie hatte sich ihres Wissens nach, nur einen Tag in der Elfenwelt aufgehalten. Burk, ihr Vater, war so besorgt und entgeistert über ihr plötzliches Erscheinen, dass sie das Gefühl hatte, es wäre besser gewesen, sie wäre auf ihrer Reise gestorben. Diese Erkenntnis traf sie so hart, dass ihr urplötzlich die Tränen kamen. Sie erzählte in Begleitung von markerschütterndem Schluchzen, was passiert war. Wie sie sich in den Wald geschlichen hatten, wie sie überrascht worden waren und davon gelaufen sind. Wie sie Zuflucht unter dem Baum gesucht hatte und angezogen durch das Licht, in die andere Welt gekommen war. Sie erzählte von dem Biss der Dämonenfürstin und dass ein weiteres, gutartiges Wesen sie heilte und wieder hier her zurückbrachte. Nur den Ring erwähnte sie nicht. Rakna schaffte es keinen Augenblick länger, ihre Gefühle zu verbergen, und sie weinte sich an der Schulter ihres Vaters aus. All ihr Leid, was sich bis dahin aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus. Er streichelte tröstend ihr Haar und hielt sie ganz fest, sodass sich Rakna beruhigte. Dann sagte er mit unumstößlichen Willen:

      „Ich werde mir etwas ausdenken, was wir den Anderen erzählen. Mach dir keine Sorgen. Niemand wird dir ein Leid antun.“

      Von Menschen und Kindern

      Fast acht Jahre waren nach diesen Geschehnissen vergangen. Das kleine Dorf hatte sich kaum verändert. Noch immer leuchtete es jeden Abend in den orangenen Strahlen der untergehenden Sonne. Die Trauerweide bäumte sich, nicht weit von der Brücke entfernt, auf der großen Lichtung, ausladend in die Höhe. Die Menschen, die in diesem Dorf lebten, hatten sich jedoch deutlich gewandelt. Einige Zeit war vergangen und die kleine Martha war fast volljährig. Ihre Hochzeit mit Erik Ebertöter stand kurz bevor. Auch Rakna war erwachsen geworden. Sie hatte allerdings andere Pläne als ihre Freundin. Seit der Nacht, in der Rakna dem Tode so nahe gestanden hatte, schwor sie, zu lernen, wie sie sich selbst verteidigte. Und genau das hatte sie in den letzten Jahren umgesetzt. Da war keine Zeit für Liebesgeschichten. Sie wusste ohnehin nicht, wie sie jemals das Mal an ihrer Schulter erklären sollte. Ihr Vater schaffte es durch gute Verbindungen, wie er es immer nannte, ihr eine Ausbildung zur Wache zu verschaffen. Aber Rakna hatte sich fast bis zur Hauptmännin hochgearbeitet. Bald würde ihr von der Ältesten, mit dem entscheidenden Ritual, der neue Ehrentitel verliehen werden. Rakna war jetzt kein Kind mehr und ihre Ängste hatte sie längst abgelegt. Auch wenn diese Nacht vor acht Jahren ihr die Kindheit nahm, brachte sie ihr einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Doch das Meiste verdankte sie ihrem Vater. Er zog sie nicht nur nach dem Tod ihrer Mutter allein groß, sondern erdachte eine lückenlose Geschichte, wie Rakna es zwei Mondzyklen lang auf sich alleingestellt im Wald überlebt hatte. Er überzeugte alle, dass sie von einem kleinen Wandervolk festgehalten und versorgt worden war. Später gelang ihr die Flucht und sie war mit Reisenden ins Dorf zurückgekehrt. Keiner zweifelte bis heute an dieser Geschichte und niemand, außer ihr und ihrem Vater wusste, was in Wirklichkeit geschehen war. Das Mal auf ihrer Schulter verdeckte sie immer gewissenhaft. Doch das war nicht so leicht, denn es hatte sich von der Bissstelle aus, in dicke dunkle Streifen gespalten und in alle Richtungen ausgebreitet. Fast wie eine Ranke. Die Stelle war handgroß und hob sich deutlich von ihrer weißen Haut ab. Der viele Stoff, den sie deswegen meist trug, war bis zum Hals hoch geschnitten und ließ sie zugeknöpft und streng wirken. All das war ihrem Plan, Hauptmännin zu werden, durchaus zuträglich. Wegen all dieser Geschehnisse genoss sie heute hohes Ansehen im Dorf. Ihre vernünftige, strebsame Art gefiel den Leuten und doch wusste keiner, was der wirkliche Grund dafür war. Ihre Vorsicht und Distanz hatte