Josephine Becker

Rakna


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Und damit war das Thema endgültig abgehakt. Martha wurde plötzlich still. Jetzt war der Augenblick gekommen, der Moment ihrer Offenbarung. Rakna hatte, trotz der Sticheleien ihrer Freundin, Mitleid mit ihr. Denn es war nicht leicht, seine schlimmsten Geheimnisse preiszugeben und mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Martha senkte ihren schönen Kopf, der mit den weißen Blüten und den roten Bändern geschmückt war. Als sie ihn nach wenigen Sekunden wieder hob, waren ihre Augen mit Tränen gefüllt. Die Beiden ließen sich auf den weichen Waldboden sinken und mit stockender Stimme begann sie zu sprechen.

      „Es gibt da etwas, das ich dir erzählen möchte. Es sind nur Kleinigkeiten, bis auf eine Sache. Wegen dieser habe ich dich erwählt, meine Beichte, abzunehmen.“ Rakna versuchte sie zu trösten, doch Martha sträubte sich.

      „Nein, bitte, hör einfach zu. Du weißt, bevor es Erik gab, war da noch ein Anderer, ein geheimer Verehrer. Ich habe nie jemandem gesagt, wer es war. Ich rechtfertigte mich damit, dass es nichts Ernstes war. Doch das ist nicht wahr. Er hat mir oft geschrieben und ich wusste zuerst nicht, von wem die Briefe waren. Aber eines Nachts haben wir uns getroffen. Ich war so gespannt zu erfahren, wer es ist. Wir haben uns an den Ställen kurz nach Sonnenuntergang verabredet und er ist dort tatsächlich erschienen! Rakna, es war Dior!“ Abrupte Stille trat ein. Es verschlug ihr den Atem und dennoch wollte sie wissen, was dann passiert war.

      „Aber das war nicht alles. Er hat mir in dieser Nacht meinen ersten Kuss genommen. Ich sagte ihm, dass wir uns nicht mehr wiedersehen können. Ich habe mich so geschämt, er war doch dein Freund. Er hatte schon um dich geworben. Wenige Tage später hast du dich dann von ihm abgewandt. Bitte sag mir, wusstest du es? Sag die Wahrheit.“ Rakna unterdrückte augenblicklich ein Lächeln. Natürlich hatte sie nichts davon gewusst, aber das war auch egal. Sie hatte bereits festgestellt, dass er nicht würdig war, ihr Geheimnis zu erfahren. Marthas Erzählung bestätigte das nur. Rakna nahm ihre Freundin bei der Hand und antwortete mit sanfter Stimme:

      „Ich wusste nichts davon. Ich habe mich von ihm abgewandt, weil er etwas Entscheidendes nicht zu tun vermochte. Ja es stimmt schon, Dior ist stark und schlau, aber er handelt zügellos, ohne über Recht und Unrecht nachzudenken. Martha, wie kann ich mich so jemandem hingeben? Was du mir erzählst, macht mich nicht wütend oder traurig. Es zeigt mir nur, dass ich richtig entschieden habe.“

      Marthas Mundwinkel wandelten sich zu einem schwachen Lächeln. Sie zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase, bevor sie wieder das Wort ergriff:

      „Aber da ist noch etwas. Erinnerst du dich an die Nacht, als du verschwunden bist?“

      „Als wäre es gestern gewesen!“, erwiderte Rakna verdutzt. Sie war gespannt, was jetzt wohl kommen würde. Hatte Martha etwas gesehen und es all die Jahre für sich behalten?

      „Erinnerst du dich an meine Geschichte über die Trauerweide?“

      „Na ja, nicht wörtlich.“, antwortete Rakna und bereitete sich innerlich schon darauf vor, dass gleich die Bombe platze. Doch unerwartet sagte Martha:

      „Es war meine Schuld. Wegen mir sind wir alle aufgeschreckt und weggerannt. Nur weil ich das gesagt habe, wurdest du verschleppt und warst gezwungen wochenlang bei Menschen zu leben, die du gar nicht kanntest. Ich war verantwortlich und nichts was du sagen könntest, macht es ungeschehen oder rechtfertigt es.“ Die Dämme brachen und über Marthas Gesicht flossen die Tränen wie in Strömen. Sie schluchzte und es schüttelte sie vor Reue am ganzen Leib. Rakna nahm sie fest in die Arme und sie war froh, dass ihre Freundin es zuließ. Erst als Martha sich ein wenig beruhigt hatte, antwortete Rakna:

      „Ja, du warst schuld daran, dass wir weggelaufen sind. Aber es war nicht dein Verdienst, dass mich diese Menschen mitgenommen haben. Außerdem bin ich dir dankbar dafür.“ Bei ihren Worten schnellte ihr hübscher Kopf nach oben und Martha sah verwirrt in das ernste Gesicht Raknas.

      „Ich bin dir dankbar, denn dieses Erlebnis hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Es hat mich früh gelehrt, auf mich aufzupassen, und jetzt bin ich in der Lage, auf dich acht zu geben. Ich habe dich nie als Verantwortliche gesehen und damit werde ich heute bestimmt nicht anfangen.“ Sie lächelte, die vollkommen verdutze Martha an, die vor lauter Verwirrung ganz vergaß, zu weinen. Während sie die junge Braut betrachtete, konnte sie, trotz der Dämmerung, hinter ihr Etwas erkennen. Es war ein leichtes Flackern in der Ferne. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. War es möglich, dass sich ausgerechnet heute Nacht das Tor öffnete? So lang hatte sie darauf gewartet und nichts war geschehen. Martha schien ihre gedankliche Abwesenheit zu bemerken, denn sie sagte jetzt eindringlich:

      „Heißt das, du verzeihst mir?“ Nun war es Rakna, die kurz verwirrt war. Das flackernde Licht hatte sie vergessen lassen, wer da erwartungsvoll vor ihr saß.

      „Natürlich bedeutet es das! Wenn das schon alles war, was du zu bieten hast!“ Sie zwang sich zu einem weiteren Lächeln. Martha schien ihre Antwort nicht merkwürdig zu finden, denn sie erwiderte mit leuchtenden Augen:

      „Nein, mehr ist es nicht. Obwohl! Ich war als Kind immer neidisch auf deine reine, weiße Haut. Aber im Ernst, das war alles.“ Mit diesen Worten beugte sich Martha nach vorne und wusch mit dem kalten Wasser der Quelle ihr Gesicht und ihre Arme. Rakna war dankbar für den kurzen Moment der Ablenkung. So war es ihr möglich, noch einmal einen verstohlenen Blick in Richtung der Trauerweide zu wagen. Das Flackern war erloschen. Enttäuscht wandte sie sich wieder Martha zu und fuhr mit dem Ritual fort. Wie es die Tradition verlangte, träufelte sie eine Handvoll klaren Wassers über Marthas Haupt. Danach erhoben sich die Beiden und nach einem kurzen Blick von Rakna zurück, auf den geheimnisvollen Baum, traten sie den Rückweg an.

      Die restliche Nacht verlief ereignislos. Sie waren allein im Langhaus. Alles war vorbereitet für den morgigen Tag. Es blieb nichts weiter zu tun, als das traditionelle Gewand anzulegen, die vielen Bänder festzuschnüren und auf das Morgengrauen zu warten. Die Zeit schien wie im Fluge vorbeizuziehen. Obwohl sie überwiegend geschwiegen hatten, erschien es wie ein Wimpernschlag, als es schließlich an der Tür klopfte und Erik hereintrat. Die Luft wirkte wie elektrisch aufgeladen, als sich die Blicke des Brautpaares trafen. Er betrachtete seine Zukünftige von oben bis unten, nahm sie dann fest in die Arme und schritt mit ihr nach draußen in den Sonnenaufgang. Die Tür schloss sich hinter den Verliebten und Rakna war wieder allein. Das Paar, bei so einem intimen Moment zu beobachten, hatte sie nachdenklich und auch etwas traurig gestimmt. Würde sie jemals jemanden finden, der sie genau so begehrte, trotz ihrer Geschichte und der Zeichnung durch den Dämon? Schnell versuchte sie, die dunklen Gedanken abzuschütteln, und begab sich auf den Heimweg. Heute stand ihr letztlich die Hochzeitszeremonie bevor. Zuvor jedoch gab es da noch ihren eigenen großen Moment. All die harte Arbeit würde sich nun auszahlen. Natürlich konnte sie sich den neuen Ehrentitel und die damit verbundenen Vorzüge zu Nutzen machen und hier und da auf den Adel und das Oberhaupt einwirken. Rakna überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, um sich darauf vorzubereiten, als eine Stimme hinter ihr, sie aus ihren Gedanken riss.

      „Rakna! Es gibt ein Problem!“ Als sie sich umwandte, erkannte sie Tharas, der eilig auf sie zustürzte.

      „Meine Mutter, sie sucht nach dir. Es ist etwas Schreckliches passiert!“ Als sie das gequälte Gesicht des Jungen sah, schwante ihr schon Schlimmes.

      „Bring mich zu ihr.“ Ohne zu zögern, spurteten sie los. Sie fanden seine Mutter Maidread am Seeufer. Es wirkte, als würde sie auf Etwas warten, während sie über das raue Wasser hinweg spähte. Kaum dass sie Rakna erkannte, warf sie sich in ihre Arme. Durch ihr lautes Schluchzen waren ihre Worte nur schwerlich zu verstehen.

      „Helgi, sie ist aufs Wasser raus geschwommen und jetzt sitzt sie auf der Insel fest. Ich glaube, sie schafft es nicht mehr zurück. Rakna die Tiere! Du weißt doch, was da haust! Sie wird kaum einen Abend dort überleben!“

      „Sie hat sich mit Bearna gestritten!“, warf Tharas in diesem Moment ein. Als Maidread das hörte, schrie sie noch lauter nach ihrer Tochter. Dann fiel sie vollkommen entkräftet auf die Knie. Rakna zögerte nicht lang. Einzig und allein ihre Schuhe zog sie aus, anschließend sprang sie mit all ihren Kleidern in das kalte Wasser. Mit kräftigen Zügen teilte sie die raue Oberfläche des Sees. Immer wieder tauchte sie auf und spähte nach