man es wirklich? Würde man mit ihnen tauschen?
Es hängt vom individuellen Fall ab, welches Element in diesem Gefühlskomplex die Oberhand gewinnt: die Sehnsucht oder die Verachtung. Beim jungen Heinrich Mann dominierte der künstlerische Stolz; seine Geringschätzung des Philisters – wenngleich zunächst durchaus vom Ästhetischen her bestimmt – hatte von Anfang an die gesellschaftskritisch-revolutionäre Nuance. So unbedingt und intensiv war diese Idiosynkrasie gegen den deutschen Spießer, den »Untertan«, daß sie zum Ausgangspunkt, zur Basis einer politischen Gesinnung werden konnte. Der soziale Radikalismus seiner Reifezeit entspringt, scheinbar paradox und doch logisch, dem radikalen Ästhetizismus jener frühen Epoche.
Der jüngere der beiden Brüder hingegen war geneigt, die sehnsüchtige Zärtlichkeit für die Blonden und Lachenden inniger zu betonen als die sinnlich-übersinnlichen Ekstasen des Künstlertums. Er war ein Bohémien mit schlechtem Gewissen, voll Heimweh nach den »Wonnen der Gewöhnlichkeit«, dem Paradies des wohlbehüteten Bürgerhauses. Und während Heinrich Mann, der Schüler Stendhals und D'Annunzios, den deutsch-bürgerlichen Geschmack durch den nervösen Elan seiner frühen Prosa befremdete und verletzte, warb der andere, an Fontane, Storm und Turgeniew erzogen, mit diskreteren und delikateren Mitteln. Der wehmütig-humoristische Ton, das Lächeln einer Ironie, die aus Verzicht und Verlangen kommt, wird zum besonderen Kennzeichen, zur stilistischen Spezialität des jungen Autors.
Sie lebten und reisten zusammen, ein ungleiches und doch so brüderliches Paar. Nach längerem Aufenthalt in Italien ließ man sich in München nieder, wo die Mutter mit den drei jüngeren Geschwistern schon seit geraumer Weile ihren Haushalt hatte. Heinrich und Thomas logierten nicht mehr zusammen; vielmehr bezog jeder eine Junggesellenwohnung in Schwabing, das damals noch ein wirkliches Zentrum geistigen Lebens und zudem ein Tummelplatz exzentrischer Originale war.
Frau Julia Mann wohnte mit den zwei Töchtern und dem halbwüchsigen Viktor nicht weit von ihren beiden Ältesten. Die brasilianische Schöne hatte sich unversehens, gleichsam über Nacht, in eine schlichte Matrone verwandelt, als hätte sie Schönheit, Anmut und Lächeln wie Juwelen oder kostbare Andenken ihren Kindern zum Opfer gebracht. Das ältere der beiden Mädchen, Lula, war von scheuem Liebreiz, wart und reserviert; die jüngere, Carla, beeindruckte die Herrenwelt durch sensuellen Charme und leicht gewagte Manieren. Sie wollte Schauspielerin werden, trug kecke Hüte und rauchte Zigaretten. Ihr Bruder Heinrich betete sie an und porträtierte sie später in vielen seiner Bücher. Aber da war es schon zu Ende mit ihren Kapricen und Extravaganzen; die zu tief dekolletierten Abendkleider, die hektischen Flirts, die Bohème-Alluren – sie hatte einen hohen Preis für alles dies bezahlt. Die letzte Szene ihres Dramas spielte sich hinter verschlossenen Türen ab. Sie nahm Gift im Hause ihrer Mutter, die auf dem Korridor zuhören mußte, wie ihr Kind in der verriegelten Stube röchelte und verschied. Die Schauspielerin Carla Mann beging Selbstmord, ehe ihre theatralische Karriere eigentlich begonnen hatte, vielleicht, weil sie im Grunde ihres Herzens wußte, daß ihr Talent für eine Karriere großen Stils wohl kaum ausgereicht hätte. Mit etwas Geringerem aber fand sie sich nicht ab.
Die beiden älteren Brüder dieses reizenden und bemitleidenswerten Geschöpfes begannen ihre künstlerische Laufbahn in aller Ruhe und mit Selbstgewißheit. Heinrichs kühnes und provokantes Talent wirkte zunächst nur auf eine kleine Gruppe eingeweihter Connaisseurs, während die Arbeiten von Thomas schon anfingen, bei einem breiteren Publikum Aufsehen zu machen. Heinrich, stolz und gehemmt, beschränkte seine gesellschaftlichen Kontakte beinahe ausschließlich auf die Schwabinger Bohème; Thomas fand seinen Weg zu einigen der exklusiveren Münchener Salons. Und während Heinrich sich im Literatencafé mit der befangenen Würde eines verirrten Prinzen bewegte, blieb Thomas in der »großen Welt« stets ein intellektueller Außenseiter, hinter dessen verbindlich-urbanem Auftreten sich Schüchternheit verbarg. Der junge Poet mochte sich in den Häusern der Kommerzienräte und Barone als Zigeuner empfinden; aber er war ein Zigeuner mit untadeligen Manieren – zu höflich und diszipliniert, um seine Verlegenheit oder seinen Spott zu zeigen, wenn eine der mondänen Gastgeberinnen ihn mit jubilierender Herzlichkeit begrüßte: »Ich bin ja so glücklich, daß Sie gekommen sind, mein lieber junger Freund! Gerade haben die Gräfin und ich uns über Ihren Roman unterhalten – wie heißt er noch? Budden …? Mein armes Gedächtnis! Helfen Sie mir doch, liebster Herr Mann! Ist es Buddenbrooks …?«
Die schönste und geistvollste femme du monde der bayerischen Kapitale, Frau Hedwig Pringsheim-Dohm, sollte eine entscheidende Rolle in der Biographie des jungen Hanseaten spielen; denn in dem Renaissance-Palast der Pringsheims gab es, neben vielen anderen Kostbarkeiten, ein höchst liebliches und besonderes Mädchen, namens Katja – die einzige Tochter, Schwester von vier Brüdern, deren jüngster ihr Zwilling war.
Die Pringsheims waren eine ungewöhnliche Familie, auffallend sogar in dem bunt gemischten Milieu der Münchener Gesellschaft vor dem ersten Weltkrieg. Der Professor und seine Gattin stammten beide aus Berlin: er, jüdischer Herkunft, Erbe eines großen Vermögens, das während der sogenannten »Gründerjahre« von seinem Vater im Schlesischen erworben worden war. Sie, aus unbemitteltem, aber gesellschaftlich prominentem Hause. Madame Pringsheims Vater, Ernst Dohm, gehörte zu den Gründern der satirischen Wochenschrift »Kladderadatsch«, die in der Bismarck-Zeit einen nicht unerheblichen politischen Einfluß ausübte. Ihre Mutter, Hedwig Dohm, war eine führende Frauenrechtlerin und übrigens auch literarisch erfolgreich. Ihre Romane, die um die Jahrhundertwende viel gelesen wurden, handelten meist von unverstandenen Frauen, die unter ihren banausischen Gatten litten, Nietzsche lasen und das Wahlrecht verlangten. Der Salon der Frau Hedwig Dohm gehörte zu den angeregtesten intellektuellen Treffpunkten des alten Berlin. Franz Liszt, mit dem die alte Dame übrigens eine auffallende Ähnlichkeit hatte, war einer der regelmäßigen Besucher.
Die Dohms hatten mehrere Töchter; eine von ihnen, Hedwig, fiel durch Schönheit und Anmut auf. Sie wurde Schauspielerin und spielte Shakespearesche Heldinnen in Meiningen. Als der große Joseph Kainz dort als Romeo gastierte, war sie seine Julia und sah so unwiderstehlich aus, daß einer der jungen Kavaliere in der Proszeniumsloge, Dr. Alfred Pringsheim aus Berlin, prompt beschloß, sie zu ehelichen. So geschah es. Der junge Gatte baute seiner geliebten Hedwig ein fürstliches Haus in der feinsten Gegend der schönen Stadt München.
Er sammelte Gemälde, Gobelins, Majolikas, Silbergerät und Bronze-Statuetten – alles im Renaissance-Stil. Seine Kollektion war so bedeutend, daß Kaiser Wilhelm II. ihm als Zeichen seiner Anerkennung dafür den Kronenorden zweiter Klasse verlieh. Das Palais in der Arcisstraße wirkte wie ein Museum, war aber mit allem Komfort der Neuzeit ausgestattet. Die Pringsheims waren unter den ersten, die sich in München ein Telephon und elektrisches Licht zulegten. Ihr Haus wurde bald zu einem Zentrum der intellektuellen und mondänen Welt.
Es war übrigens keineswegs nur sein Reichtum, dem der Professor sein soziales Prestige verdankte. Weit davon entfernt, sich mit der Position eines wohlhabenden Dilettanten und Müßiggängers zufriedenzugeben, nahm er seinen Beruf äußerst ernst und machte sich einen Namen in der Gelehrtenwelt. Er war Mathematikprofessor an der Universität München – geachtet als Dozent und Theoretiker. Seine vierte Passion – neben der Mathematik, der schönen Frau Hedwig und den italienischen Altertümern – war die Musik Richard Wagners: der junge Professor gehörte zu den ersten finanziellen Förderern der Bayreuther Festspiele und blieb sein ganzes Leben lang ein enthusiastischer Anhänger des Wagner-Kultes. Sein persönlicher Kontakt mit dem Meister freilich kam zu einem etwas abrupten Ende, als sich der Meister in Gegenwart seines »nicht-arischen« Bewunderers eine antisemitische Bemerkung entschlüpfen ließ. Das Genie war taktlos und undankbar, und der Professor hatte ein reizbares Temperament.
Der gesellschaftliche Stil des Hauses war zugleich zwanglos und opulent. Die berühmtesten Maler, Musiker und Dichter der Epoche trafen sich dort mit Prinzen vom Hause Wittelsbach, bayrischen Generälen und durchreisenden Bankiers aus Frankfurt und Berlin. Die Wirtin – eine verführerische Mischung aus venezianischer Schönheit à la Tizian und problematischer grande dame à la Henrik Ibsen – beherrschte die in unserem Jahrhundert so seltene Kunst vollendeter Konversation, wobei sie ihre geübte Beredsamkeit gerne mit Kaskaden perlenden Gelächters begleitete. Sie wußte immer amüsant und originell zu sein – ob sie nun über Schopenhauer und Dostojewski plauderte oder über die letzte