daß unser Universum in der Tat nichts zu wünschen übriglasse und alles in allem eine ganz vorzügliche Einrichtung sei.
Die Beklommenheit des Kindes beschränkt sich auf seltene Stunden und auf jene kurzen Augenblicke des Schauderns zwischen Schlaf und Wachen, wenn plötzlich die Ur-Angst, das Grauen der verlassenen Kreatur die junge Seele anfällt. Aber wie sterbensbange dir auch in dieser dunkelsten Minute gewesen sein mag – der frühe Morgen wird dich wieder heiter finden. Du bist ausgeruht; das kalte Wasser, das du dir ins Gesicht spritzst, läßt dich vor Wonne jauchzen; das Frühstück wird dir zum Fest. Ein neuer Tag! Dein Tag! Deine Sonne! Dein Hunger. Und hier hast du dein Butterbrot, dein Müsli, deinen Apfel, womit du ihn wohlig stillst …
Das Kind ist dem primitiven Menschen verwandt – unschuldig und gierig, ohne Arglist und ohne Gnade, unwissend und schöpferisch. Wie der Mensch der frühlingshaften Urzeit, so wertet und ordnet das Kind alle Phänomene neu, gleichsam zum ersten Male. Naiv und realistisch, immer nur am Nahen und Faßbaren interessiert, errichtet es seine eigene Hierarchie und schafft sich seine Mythen aus dem, was es sieht, hört, schmeckt, berührt. Nichts existiert außerhalb der Sphäre seiner direkten Interessen und unmittelbaren Wahrnehmungen. Wie könnte es an der absoluten Gültigkeit seiner individuellen Erfahrungen zweifeln? Der kindliche Geist vergleicht nicht, sondern nimmt jedes Ding und jedes Ereignis als etwas Einmaliges, Erstmaliges, Absolutes.
Ein Regentag, eine Reise, die physischen Sensationen von Kälte, Hunger, Fieber, Zahnweh oder Müdigkeit; die Wirkung von Melodien oder Liebkosungen – die ganze Skala unseres emotionellen und somatischen Erlebens ist mit Erinnerung belastet. Unvermeidlich kommt der Tag für uns alle – früher vielleicht, als man glauben möchte! – da es keine »neue Erfahrung« mehr gibt, sondern nur noch die Variationen vertrauter Muster. Nach einer langen Zeit intensiven und bewußten Lebens mag man sogar den Punkt erreichen, da man die allgemein menschlichen Charakteristiken in den besonders geprägten Zügen eines geliebten Menschen wiedererkennt. Dann ist man wohl so weit, hinter dem vertrauten Gesicht der eigenen Mutter das Drama und die Schönheit der Mutterschaft zu sehen. Dem reifen, erfahrenen Geist wird der »Typus« wesentlicher als der zufällig-individuelle Repräsentant. Das Kind hingegen verwechselt den zufälligen Vertreter mit der Gattung. Ihm gilt es für ausgemacht, daß alle Mütter seiner Mutter gleichen. Wie der primitive Mensch früher Kulturepochen die Impulse und Elemente, die sein persönliches Leben beherrschten – Liebe, Sturm, Wasser, Krieg, Fruchtbarkeit – personifizierte und deifizierte, so ist es für das Kind die Mutter, der Hund, der Garten, die Milch, die Krankheit.
Sogar die Kosenamen, die das Kind für seine Nächsten erfindet, scheinen ihm die ganze Spezies, den Typ zu bezeichnen. Da wir unsere Mutter »Mielein« nannten, fanden wir es äußerst schrullenhaft von anderen Kindern, sich so ulkiger und ausgefallener Anreden wie »Mutti« und »Mama« zu bedienen. Gibt es irgend jemand, der nicht weiß, wer »Offi« und »Ofey« sind? Man könnte ebensowohl fragen, wer ein gewisser Jupiter war und was er mit einer Dame namens Juno zu tun hatte. Offensichtlich ist Ofey Mieleins Vater, folglich Offis Mann; denn Offi, ganz natürlich, ist Mieleins Mutter, unsere glanzvolle Großmama mit ausdrucksstarker, theatralisch geschulter Stimme, perlendem Gelächter und schönen, kurzsichtigen Augen, vor die sie meist eine Lorgnette hält. Die Lorgnette ist aus goldbraunem Schildpatt und hängt an einer langen Silberkette. Die alte Dame – uns schien sie schon uralt, als sie erst fünfzig war und sich noch sorgfältig die Haare färbte – hat eine unbarmherzige Manier, den Gesprächspartner durch ihre Gläser zu mustern. Nervöse Menschen wurden unruhig unter ihrem durchbohrenden Blick, nicht aber wir. Natürlich nicht! Sie ist ja »unsere« Offi, und die Lorgnette gehört zu ihr wie die Eule zur Pallas Athene oder der Blitz zum Zeus.
Die großen Würdenträger der Hierarchie sind über Kritik erhaben – was aber nicht heißen soll, daß sie Angst und Schrecken einflößen. Sie sind so, wie sie sind und müssen mit schonungsvollem Respekt behandelt werden. Dann kommt man mit ihnen aus. Der Vater zum Beispiel kann sehr generös und scherzhaft sein, wenn man auf seine kleinen Schwächen die gebührende Rücksicht nimmt. Er hat etwas gegen schmutzige Fingernägel und kann es nicht leiden, wenn man sich bei Tische des Daumens zum Aufschieben bedient. »Um Gottes willen, nicht den Daumen!« ruft er dann wohl aus und schneidet eine angewiderte Grimasse. »Wenn schon aufgeschoben werden muß, dann tu's mit der Nasenspitze oder der großen Zehe! Alles ist besser als der abscheuliche Daumen!« Seine Aversionen sind meist von dieser irrationalen und schrullenhaften Art. Von neun Uhr morgens bis zwölf Uhr mittags muß man sich still verhalten, weil der [Vater] arbeitet, und von vier bis fünf Uhr nachmittags hat es im Hause auch wieder leise zu sein: es ist die Stunde der Siesta. Sein Arbeitszimmer zu betreten, während er dort mysteriös beschäftigt ist, wäre die gräßlichste Blasphemie. Keines von uns Kindern hätte sich dergleichen je in den Sinn kommen lassen. Schon mit geringeren Verfehlungen kann man den Vater erheblich irritieren. Es ist quälend, bei ihm in Ungnade zu sein, obwohl, oder gerade weil sein Mißmut sich nicht in lauten Worten zu äußern pflegt. Sein Schweigen ist eindrucksvoller als eine Strafpredigt. Übrigens ist nicht immer leicht vorauszusehen, was er bemerken und wie er reagieren wird. Die Mutter zankt, wenn man Ungezogenheiten begeht – von der Marmelade nascht, die für die Erwachsenen reserviert ist, oder die frisch gewaschene Matrosenbluse mit Tinte beschmiert. Der Vater ist dazu imstande, so eklatante Übeltaten zu ignorieren, während scheinbar ganz harmlose Irrtümer ihn überraschend verdrießen können. Die väterliche Autorität ist unberechenbar.
Ich schreibe diese traditionellen Formeln hin: »Vater«, »Mutter«, »väterliche Autorität« – und finde sie ungenau, beinah irreführend. Was haben diese Clichés mit einer Wirklichkeit zu tun, die sich aus tausend einmaligen, unwiederholbaren Nuancen zusammensetzt? »Vater« …: das ist die kitzelnde Berührung eines Schnurrbartes; der Duft von Zigarren, Eau de Cologne und frischer Wäsche; ein sinnendes, zerstreutes Lächeln, ein trockenes Räuspern, ein zugleich abwesender und durchdringender Blick. »Vater« bedeutet eine freundliche, sonore Stimme; die langen Bücherreihen im Arbeitszimmer – feierliches Tableau voll geheimnisvoller Lockung! –; der wohlgeordnete Schreibtisch mit dem stattlichen Tintenfaß, dem leichten Korkfederhalter, der ägyptischen Statuette, dem Miniaturporträt Savonarolas auf dunklem Grund; gedämpfte Klaviermusik, die aus dem halbdunklen Wohnzimmer kommt.
Ja, die Musik, mehr als irgendein anderes Attribut, scheint essentiell zu seinem Wesen zu gehören. Früher einmal hat er Violine gespielt; aber das war vor unserer Zeit, in einer prähistorisch-legendären Epoche. Indessen bezweifelt niemand, daß er auch jetzt noch reizend fiedeln könnte, wenn er Lust dazu hätte. Manchmal pfeift er uns ein Liedchen vor. Keine Geige hat einen reineren Klang. Und nach dem Abendspaziergang, vor dem Nachtmahl der Erwachsenen, zieht er sich gerne in den dämmrigen Salon zurück. Dort sitzt er dann am großen Bechsteinflügel, halb versteckt hinter der schweren dunkelroten Samtportiere, und läßt die väterliche Melodie ertönen. Wir hören zu, auf der Diele oder im ersten Stock, wo wir mit dem Fräulein essen.
»Er spielt so schön«, sagt eines von uns vier Kindern. »Übt er an seinem Schreibtisch zwischen neun und zwölf Uhr vormittags?«
Aber das Fräulein lacht. »Er übt überhaupt nicht«, erklärt sie uns, etwas schnippisch. »Er kann eigentlich gar nicht spielen. Er improvisiert nur ein bißchen.«
Aber was er da in der schattigen Einsamkeit des Salons dem Klavier anvertraute oder sich von diesem künden ließ, war kaum als »Improvisation« zu bezeichnen. Es war immer der gleiche Rhythmus, zugleich schleppend und drängend, immer das gleiche chromatische Crescendo, das gleiche Werben und Locken, die gleiche Erschöpfung nach todestrunkener Ekstase. Es war immer »Tristan«.
Wenn es eine schwere und delikate Aufgabe ist, das Wesen des väterlichen Mythos zu definieren, um wie vieles dunkler und zarter ist das Geheimnis der Mutter! Denn sie ist uns näher als der Vater, der dem Sohne ein Fremder bleibt. Sie ist die vertrauteste Figur, die unentbehrliche. Sie lehrt uns, zu beten und zu schwimmen und uns die Zähne zu putzen; sie macht den Speisezettel, kauft die Geburtstagsgeschenke, sieht die Schulaufgaben durch, geht mit uns zum Rodeln und zum Schlittschuhlaufen. Das mütterliche Haar ist weich und dunkel; die mütterlichen Augen sind goldbraun; die mütterlichen Hände sind zugleich zart und tüchtig: sie können das Loch in deinem Hemd stopfen und, wenn es not tut,