stammt oder aus dem Fränkischen, sie ist eine Sängerin und Gesangspädagogin. Von ihr lernen wir all die schönen, rührenden Balladen von verlassenen Bräuten, treulosen Matrosen, gebrochenen Schwüren und Herzen. Wir verstehen nicht ganz, worum es sich eigentlich handelt, aber die Augen werden uns doch naß, wenn wir dem Hausmädchen mit feierlichen Mienen nachsingen: »Mariechen saß weinend im Garten – im Grase lag schlummernd ihr Kind; – mit ihren schwarzbraunen Locken – spielt' leise der Abendwind …« Wie süß und traurig tönt Mariechens Klage! Sie beschwert sich darüber, daß der Liebste nie schreibt. Hat er sie ganz vergessen? Ja, das hat er wohl, und da die Schwarzbraune es sich nun eingesteht, zieht sie auch gleich die einzig logische Konsequenz – kurz entschlossen, ohne übrigens viel Aufhebens davon zu machen. Hinein in den See mit dem Bankert! – Und hinterdrein springt die gelockte Mama.
Wir finden den Schluß etwas jäh, vor allem tut es uns um das Baby leid: was kann das arme kleine Ding dafür, daß der Matrose so vergeßlich ist? Aber dieses etwas irritierende Detail kann uns doch nicht die Freude an dem schönsten Lied verderben. Wir singen es im Chorus, zweistimmig, mit Gefühl.
»Ich verstehe wirklich nicht, warum meine Tochter ihren Kindern erlaubt, so greuliches Zeug zu singen!« Dies ist Offis Stimme: sie ist zum Tee gekommen, nun unterhält sie sich mit dem Kinderfräulein. Das Kinderfräulein, man weiß ja, wie sie sind, ist nur zu entzückt, Offi beipflichten zu können. »Wie recht Frau Geheimrat haben!« ruft sie schrill. »Es ist das Hausmädchen, die Luise, eine ganz ordinäre Person, die gnädige Frau sollte einschreiten, aber auf mich wird hier ja nicht gehört …«
Mielein ist in solchen Fällen geneigt, unsere Partei zu ergreifen. Nicht zu offen natürlich. »Ihr dürft dem Fräulein Betty nicht widersprechen!« ermahnt sie uns etwas vage. »Es kann ja sein, daß sie gerade etwas nervös war. Wahrscheinlich, weil sie sich so viel über euch ärgern muß … Singt uns das Lied doch mal vor, nur, damit wir uns ein Urteil bilden können. Wenn es ein garstiges Lied ist, sollt ihr es nicht mehr singen.«
Mariechen ist ein durchschlagender Erfolg; Mielein und der Zauberer ersticken fast vor Lachen. Endlich bringt der Vater hervor, daß dies, seiner Meinung nach, ein ungewöhnlich rührendes Lied sei; wir sollten es jedoch nicht zu häufig vortragen, teils aus Rücksicht auf Fräulein Bettys Nerven, teils weil die Ballade wirkungsvoller bleiben würde, wenn wir sie für besondere Gelegenheiten aufsparten. Weihnachten wäre vielleicht eine solche Gelegenheit, schlägt einer von uns vor; und die Eltern stimmen lachend bei.
Fräulein Bettys Miene ist säuerlich, um nicht zu sagen bitter, da wir sie von dem elterlichen Entscheid unterrichten.
Das Fräulein kann uns nicht viel anhaben, solange Mielein da ist, um unsere natürlichen Rechte zu schützen. Aber die Lage wurde alarmierend, als die Mutter einen Winter in Davos verbringen mußte, wegen des Hustens und weil sie oft ein bißchen Fieber hatte. Sie schrieb uns drollige und lange Briefe, was es im Sanatorium zu essen gebe, und wie langweilig es für sie sei, jeden Tag so viele Stunden auf dem Balkon zu liegen. Sie schrieb uns, daß sie Sehnsucht nach uns habe und daß wir brav sein sollten. Es waren sehr schöne Briefe, aber doch kein Ersatz für Mieleins Gegenwart. Wenn sie nicht da war, hatten wir niemand, der abends mit uns betete (denn vor dem Fräulein mochten wir unsere Gebete nicht sagen); niemand, der zur Spitze der Hierarchie und zugleich zu uns gehörte, Affa, Fanny, das Hausmädchen, der Motz und wir vier waren schon recht; aber es fehlte uns an Macht und Würde. Der Zauberer und Offi hatten zwar sehr viel Macht; aber letztere erschien doch nur für kurze Inspektionsvisiten, während ersterer, obwohl er mit uns lebte, an unserem alltäglichen Leben kaum Anteil nahm. Wir waren dem Fräulein ausgeliefert, auf Gedeih und Verderb. Sie hatte beinah unumschränkte Machtbefugnis; ihre Herrschaft nahm vorübergehend den Charakter einer Diktatur an.
Das Kinderfräulein ist eine der Hauptmythen meiner Kindheit. Sie ist empfindlich, hochmütig und launenhaft, zuweilen liebenswert, dann wieder erschreckend. Wenn sie sich ärgert oder Kopfweh hat, erstarrt ihr Gesicht zu einer aschfarbenen Maske; aber sie kann auch strahlen. Alle scheinen sich ein wenig vor ihr zu fürchten, sogar die Eltern. Ihre vorwurfsvolle Miene gemahnt uns daran, daß sie im Hause des Baron Tucher wie eine Prinzessin gehalten wurde, die Zöglinge folgten aufs Wort, dort war das Fräulein glücklich. Der Baron (er war blind, wie das Fräulein sich mit respektvoller Rührung erinnert) verzog mit seinen Mustersöhnchen nach Kanada nicht ohne die unschätzbare Gouvernante aufs herzlichste zum Mitkommen aufzufordern. »Wär ich doch mit den Tuchers gegangen!« seufzt sie nun. Wir haben es wohl wieder einmal an der nötigen Ehrerbietung fehlen lassen. »Dann müßt ich mich nicht so viel kränken …« Sie weint ein bißchen, und auch uns werden die Augen feucht. Wir begreifen, daß die Gute uns ein großes, schweres Opfer bringt, indem sie auf Kanada verzichtet und bei uns bleibt »in diesem saloppen Künstlerhaushalt«. Keine andere würde es bei uns aushalten. – Dies wird uns immer wieder aufs eindrucksvollste versichert. »Wenn ich einmal nicht mehr da bin«, sagt das Fräulein (man weiß nicht ganz, ob sie an ihren Hintritt denkt oder nur an einen Stellungswechsel), »dann werdet ihr ja sehen, was aus euch wird. Die nächste hält es hier keine vierundzwanzig Stunden aus. – Oder sie sorgt dafür, daß ihr Disziplin lernt. Dann ist Schluß mit der Schlamperei! Ihr werdet Augen machen …« Uns wird bange ums Herz. Wir flehen das Fräulein an, uns doch bitte ja nicht zu verlassen. Sie ist mild und weise; ihre Nachfolgerin wäre vielleicht ein Drache, ein wahrer Ausbund an Tücke und Grausamkeit …
Sie waren sich alle gleich. In imposanter Parade folgten sie einander, von der legendären Blauen Anna bis zu jenem hochbeinigen, spleenigen Geschöpf, das wir »Betty-Lilie« nannten, wegen ihres delikaten Teints und Charakters. Die Chronik unserer Kindheit ließe sich in fünf bis sechs Perioden einteilen, nach den wechselnden Regimes der Gouvernanten; man könnte von einer »Blauen-Anna-Periode« oder einer »Betty-Lilie-Ära« sprechen wie von der Elisabethanischen Zeit oder der Victorianischen Epoche. Natürlich unterschieden sich die hohen Frauen in Einzelheiten voneinander, aber was sie gemeinsam hatten, war tiefer und wesentlicher. Alle schwelgten sie in der Erinnerung an einen idealen Haushalt, dem sie einst in führender Stellung angehört hatten, das Palais eines ehrwürdigen Barons oder Kommerzienrates, wo es zugleich sittsam und lustig zugegangen war. Alle bemerkten sie mit demselben gönnerhaften Lächeln, daß unsere Eltern »sehr interessante Menschen« seien, wobei sie diskret auf den Unterschied anspielten, der zwischen unserer Bohemewirtschaft und dem tadellosen Haushalt des Kommerzienrates nun einmal leider bestand. »Andere Kinder« waren kräftig, brav und wahrheitsliebend, im Gegensatz zu uns wilden und heuchlerischen Schwächlingen. »Andere Kinder« verstanden Spaß und wußten eine Tracht Prügel einzustecken; sie putzten sich die Zähne mindestens dreimal täglich, gingen zur Kirche, aßen angebrannten Grießbrei ebenso gern wie Schokoladentorte und waren ihrem Fräulein zärtlich-ehrerbietig zugetan.
Wir konnten andere Kinder nicht leiden. Es war erst viel später, als ich etwa zwölf Jahre alt war, daß wir anfingen, Freunde zu haben. Anfangs hatten wir durchaus an uns selbst genug.
Erika und ich wurden in eine Privatschule geschickt – ein etwas prätentiöses kleines Etablissement von altmodisch-muffiger Gediegenheit, wo die Sprößlinge der Münchener beau monde die Kunst des Lesens und Schreibens erlernten. Schule, in diesem vorbereitenden Stadium, bedeutete weder Spaß noch viel Plage. Das bißchen Wissenschaft – Alphabet, Einmaleins, die Geschichte vom Herrn Jesus – war leicht genug zu begreifen. Die Lehrerin, eine alte Jungfer mit glattem grauem Scheitel und säuerlich-pedantischer Miene, konnte als komische Figur aufgefaßt werden. Was unsere Mitschüler betraf, so hatten wir nur wenig Kontakt mit ihnen. Sie waren nicht eingeweiht in die Geheimnisse unserer Spiele; sie schienen eine andere Sprache als wir zu sprechen.
Unsere Spiele waren komplizierter als die Fibel, aufregender als die groben Belustigungen, die unter Kindern sonst wohl üblich sind. Es waren eigentlich keine »Spiele«; vielmehr handelte es sich um eine großangelegte, sorgfältig ausgesponnene Phantasmagorie, ein mythisches System innerhalb des Kindheitsmythos. Es beruhte auf zwei verschiedenen Sagenkreisen, die ineinander griffen und allmählich miteinander verschmolzen. Der erste Kreis umfaßte unsere eigene Welt – das Haus, den Garten, die Eltern, das Kinderfräulein –, während der zweite das Reich der Puppen und der Hunde in sich schloß.
Das erste Spiel ging auf einen sentimentalen Schmöker zurück, den Fräulein