Klaus Mann

Der Wendepunkt


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Der Vater spricht eher langsam, mit einer gleichmäßigen und sonoren Stimme; die Redeweise der Mutter ist geschwind, und ihre Stimme springt vom tiefsten Baß zu überraschenden Höhen. Sie ißt gern die bitterste Schokolade, trinkt den Tee ohne Milch und Zucker; er hat ein Faible für süße Suppen, Reisbrei und Hafergrütze, lauter Dinge, die sie perhorresziert. Mielein ist praktisch, aber unordentlich; der Zauberer ist weltfremd und verträumt, aber ordentlich bis zur Pedanterie. Der Mutter macht es nichts aus, wenn man sie um drei Uhr morgens stört, aber sie ärgert sich, wenn man die neuen Handschuhe verliert oder zu spät zum Zahnarzt kommt; der Vater weiß nicht einmal, daß man Handschuhe besitzt und daß unsere Zähne ärztliche Behandlung nötig haben, aber er mißbilligt es, wenn wir beim Essen schmatzen oder den schönen neuen Treppenläufer mit schmutzigen Schuhen betreten.

      Sie sind so, wie sie sind – sehr liebenswert, sehr gewaltig, aber nicht ohne ihre kleinen Grillen und Tücken. Der Vater, zum Beispiel, legt Wert darauf, daß man ihn ab und zu auf ausgedehnten Spaziergängen begleitet, was um so lästiger ist, als wir bei solchen Gelegenheiten paarweise vor den Eltern wandeln müssen. Die Mutter hat eine sehr unangenehme Art, einen am Ohrläppchen zu ziehen, wenn sie findet, daß man ernstliche Strafe verdient – es tut fast ebenso weh wie die Bohrmaschine des Doktor Cecconi.

      Zahnarzt Cecconi (übrigens der Gatte der deutschen Dichterin Ricarda Huch, was uns aber damals keinen Eindruck machte) nimmt in der Hierarchie keine unbedeutende Stellung ein, wenngleich er natürlich nicht zu den zentralen Mythen gehört, wie etwa die Affa. Muß ich wirklich erklären, wer die Affa ist? Ja, es empfiehlt sich wohl in Anbetracht der allgemeinen Uneingeweihtheit, um nicht zu sagen Unbildung. Die Affa also ist die Perle, das Faktotum, das muntere Zimmermädchen mit dem roten, lachenden Gesicht, dem stolzen Busen und den flinken Fingern. Beim Servieren trägt sie ein weißes Spitzenschürzchen; wenn Gäste da sind, schmückt sie sich mit einem steifen Häubchen. Je mehr Besuch kommt, desto animierter erscheint die Affa. – »Sie ist eine geborene Festordnerin«, sagt der Zauberer von ihr. Wenn die Eltern verreist sind, ist es die Affa, die den Haushalt führt; sie hat eine »Vertrauensstellung«. Sie gehört zur Familie. Köchinnen kommen und gehen (sie heißen meistens Fanny, aber es sind doch immer wieder andere); Hausmädchen kündigen. Aber die Affa bleibt. Es hat sie immer gegeben. Sie ist seit Menschengedenken bei uns. Fast so lang wie der Motz.

      Wie, auch der Motz darf nicht als bekannt vorausgesetzt werden? Es ist peinlich, einer erwachsenen Leserschaft die Grundtatsachen des Lebens explizieren zu müssen. Der Motz ist eine Grundtatsache. Er hat ein schwarzes, seidiges Fell mit einem hübschen weißen Flecken auf der Brust. Die Erwachsenen sagen, er sei ein schottischer Schäferhund, ein »Rassetier«, etwas überzüchtet. Aber das sind lauter Redensarten. Der Motz ist eben der Motz, ein unentbehrlicher, gar nicht wegzudenkender Bestandteil des Kosmos, wie Zauberer, Mielein und Offi.

      Das Seltsame an Kindern ist, daß sie die Notwendigkeit und Richtigkeit der Erscheinungen, die sie umgeben, niemals in Frage stellen, dabei aber alles ungemein komisch finden. Onkel Cecconi ist komisch, weil er mit einem fremden Akzent spricht und Grimassen schneidet. Affa ist zum Totlachen mit ihren grünen, glitzernden Augen, ihrer dynamischen Tüchtigkeit und den imposanten Linien ihrer Figur. (»Die Affa hat so eine große, weiche Brust«, bemerkte ich als Fünfjähriger. Woraufhin man mich fragte, ob ich das schön oder garstig fände. »Schön find ich's grad nicht«, erwiderte ich sinnend. »Aber ich seh's gern.«)

       Der Motz ist über alle Begriffe drollig, wenn er sich in einen tobenden Teufel verwandelt, was fast immer geschieht, wenn man sich mit ihm auf die Straße wagt. Sanft und folgsam zu Hause, fängt er draußen prompt zu rasen an, erregt vom Geruch der Freiheit. Es ist ein wahres Delirium, in das er verfällt; er geifert, heult, tanzt, springt, dreht sich krampfhaft im Kreise, außer Rand und Band, von Sinnen vor Wonne oder vor Wut – wer weiß es.

      Wir sind eine Sensation, wenn wir uns mit dem Motz in der Öffentlichkeit zeigen; übrigens fallen wir auch ohne ihn auf, allerdings nicht so heftig. Gassenkinder haben eine gewisse Neigung, uns Unartigkeiten nachzurufen. »Langhaarete Affen!« oder »Narrische Bagasch!« Erwachsene hingegen bleiben stehen und lächeln, was auf seine Art auch recht lästig ist. Sie meinen es wohl nicht schlecht; manchmal bieten sie uns sogar etwas an, einen Apfel oder ein Stück Schokolade. Dagegen hätten wir an sich nichts einzuwenden, wenn die Spender nur den Mund halten wollten! Leider traktieren sie uns nicht nur mit Süßigkeiten, sondern auch mit Geschwätz. »Was für niedliche kleine Racker ihr seid!« schwätzt die alte Dame, die sich im Englischen Garten unaufgefordert auf der Bank neben uns niederläßt. »Alle vier so drollig und apart! Wer ist denn euer Pappi?«

      Natürlich antworten wir nicht, sondern kichern nur und zucken die Achseln. »Na, was gibt's denn da zu lachen, mein Junge?« Die Urschel, ein wenig pikiert, wendet sich mit ihrer Frage an das größte Kind – nämlich an Erika, die sie, in echt urschelhafter Verblendung, für einen Buben hält. Dies kleine Mißverständnis scheint uns dermaßen ulkig, daß uns gar nichts anderes übrigbleibt, als jubilierend davonzulaufen.

      Noch ganz atemlos vor Heiterkeit gesellen wir uns zu unserem Fräulein, das inzwischen, mit einer Kollegin plaudernd, voranspaziert ist. Wir bestürmen sie mit erregten Fragen. Warum will die fremde Urschel wissen, wer unser Vater ist? Und warum nennt sie ihn »Pappi«, wo er doch Zauberer heißt? Und wie, um Gottes willen, kommt sie dazu, uns »niedlich« und »apart« zu finden? Was bedeutet »apart«? Ist es ein Schimpfwort oder das Gegenteil?

      »Eher das Gegenteil«, bedeutet uns das Fräulein. »Die Dame wollte nur sagen, daß ihr ein bißchen anders ausseht als die andren Kinder.« Sie prüft uns mit nachdenklichem Blick, um dann, mehr für sich selbst, hinzuzufügen: »Es liegt wohl vor allem am Haarschnitt und überhaupt an der künstlerischen Aufmachung.«

      Unsere »künstlerische Aufmachung«, das sind die Leinenkittel mit den hübschen Stickereien aus den Münchener Werkstätten. Mielein hat sie selber ausgesucht, rote Kittel für die Buben, blaue für die Mädchen, wie es sich gehört. Was soll daran nun »apart« sein? Und warum verhöhnen uns die Gassenkinder, wenn wir uns in unseren schmucken Wämsern auf der Straße zeigen, zwei adrette Pärchen (Erika und ich; Golo und Monika), gefolgt von der Gouvernante, beschützt vom hysterisch kreiselnden Schäferhund?

      Wie töricht die Fremden sind! Begreifen sie denn nicht, die frechen Buben und verschrobenen Urscheln, daß wir durchaus in Ordnung sind, weder »apart« noch »narrisch«? Zugegeben, Monika ist noch ein bißchen klein und unbeholfen; aber so gehört es sich eben für das jüngste Schwesterchen. Was den Golo betrifft, ein Jahr älter als Monika, so ist er auch nicht viel größer, aber entschieden ernster und gesetzter, fast gravitätisch. Ohne Frage, der Golo ist das Muster und Vorbild eines kleinen Bruders, das Brüderchen par excellence. – Was gibt es da zu lachen? Oder lassen die fremden Toren es sich gar einfallen, die beiden »Großen«, Erika und mich, ridikül zu finden? Das wäre ja noch schöner! Das ahnungslose Pack sollte sich doch lieber der eigenen eklatanten Dummheit schämen, anstatt über uns die Nase zu rümpfen! Denn schließlich, wir sind »echt«, sind »wirklich«, während die Wirklichkeit der anderen problematisch bleibt. Die anderen sind nur »Leute«; wir sind – wir.

      Unser Leben ist vorbildlich, comme il faut, da es eben einfach Leben ist, das einzige, das wir kennen. Das Leben bedarf keiner Rechtfertigung, keiner Erklärung. Was bliebe denn übrig von der Welt, wenn es »unsere« Welt nicht gäbe? Ein Nichts, ein Vakuum …

      Glücklicherweise können die Fremden uns nichts anhaben mit ihrem Unverstand. Wir brauchen sie nicht; was hätten sie uns zu bieten? Sie sind »affig«, »blöd«, »falsch« und »eingebildet«. Wir kommen ohne sie aus; in unserem eigenen Bereich finden wir alles, was uns wichtig ist. Wir haben unsere eigenen Gesetze und Tabus, unseren Jargon, unsere Lieder, unsere willkürlichen, aber intensiven Vorlieben und Aversionen. Wir genügen uns; wir sind autark.

      Die Fanny kocht die Suppe, die Affa deckt den Tisch. Die Fanny ist weniger wichtig als die Affa, aber beide sind unentbehrlich. So auch die dritte Magd, das Hausmädchen. Sie mag noch so häufig kündigen: die kosmische Ordnung sorgt für eine Nachfolgerin, die mit der Vorgängerin fast identisch scheint. Es ist immer das gleiche plumpe Ding vom Lande, aus Passau oder Ingolstadt, die unsere Betten macht. Sie hat große, rote, etwas aufgesprungene Hände, wäßrige, helle Augen