Klaus Mann

Der Wendepunkt


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Sie hatte die dunklen Augen der Mutter. Der junge Vater war über die Maßen stolz auf sie.

      Und bevor Erika noch ihr erstes »Papa« stammeln lernte, traf ein Bruder und Gespiele ein – am 18. November 1906. Zwei seiner Onkel – der Zwilling der Mutter, Klaus, und der ältere Bruder des Vaters, Heinrich – standen Pate bei ihm. Sein voller Name war Klaus Heinrich Thomas Mann.

      Mythen der Kindheit

      1906-1914

      ... a stone, a leaf, an unfound door; of a stone, a leaf, a door. And of all the forgotten faces.

       Thomas Wolfe

      La réalité ne se forme que dans la mémoire.

       Marcel Proust

      Erinnerungen sind aus wundersamem Stoff gemacht – trügerisch und dennoch zwingend, mächtig und schattenhaft. Es ist kein Verlaß auf die Erinnerung, und dennoch gibt es keine Wirklichkeit außer der, die wir im Gedächtnis tragen. Jeder Augenblick, den wir durchleben, verdankt dem vorangegangenen seinen Sinn. Gegenwart und Zukunft würden wesenlos, wenn die Spur des Vergangenen aus unserem Bewußtsein gelöscht wäre. Zwischen uns und dem Nichts steht unser Erinnerungsvermögen, ein allerdings etwas problematisches und fragiles Bollwerk.

      An was erinnern wir uns? An wieviel? Nach welchen Prinzipien bewahrt unser Geist die Spuren gewisser Eindrücke, während wir andere in den Abgrund des Unbewußten versinken lassen? Gibt es irgendeine Identität oder authentische Verwandtschaft zwischen meinem gegenwärtigen Ich und dem Knaben dessen Lockenkopf ich von vergilbten Photographien kenne? Was wüßte ich von jenem goldhaarigen Kinde ohne die Andenken und Erzählungen, die vom kollektiven Familien-Gedächtnis – das heißt also von Augenzeugen der älteren Generation – überliefert werden? Wie mag es gewesen sein, die seidige Last dieser Locken zu tragen? Wenn ich versuche, die vergangene Sensation in mir wachzurufen, finde ich mich immer in einem bestimmten Zimmer unseres Münchener Hauses, dem Salon meiner Mutter, den wir Kinder übrigens nur selten betraten. Dort gab es auf einem runden kleinen Marmortisch eine flache Silberschale, in der eine Kollektion alter Photographien aufbewahrt wurde. Es mag unter diesen Familienreliquien gewesen sein, daß ich das Porträt meines ehemaligen Selbst entdeckte. Wahrscheinlich war ich erst sechs oder sieben Jahre alt, als ich, ein pausbäckiger kleiner Narziß, mein eigenes Bildnis zum ersten Male bewunderte. Der Knabe, der Mutters Andenken in der verlassenen Wohnstube durchstöberte, hatte sein goldenes Gelock schon verloren: er trug eine schlichte Pagenfrisur, mit Fransen, die ihm tief in die Stirne hingen. Der Blick, mit dem er das lächelnde Antlitz seiner Vergangenheit betrachtete, war schon von Heimweh erfüllt.

      An was also erinnere ich mich? Wer ist der Knabe, den ich im Dämmerlicht jenes Salons wiedererkenne? Ist es der, der die seidenen Locken trug? Oder ist es schon sein »alternder« Bruder, der sehnsüchtig auf eine Lieblichkeit schaut, die einmal die seine war? Erinnere ich mich der Locken oder nur der Erinnerung, die sie im Gemüt des lockenlosen Kindes zurückließen?

      Unser Unterbewußtsein reagiert auf gewisse Zeichen, geheime Winke und Stichworte, die herbeigeweht kommen – niemand weiß, woher. Da ist ein Aroma, schwach und doch unverkennbar – ein Gemisch aus Gummi und lackiertem Holz, mit einer ganz leichten Beimischung von Kattun, dem Stoff, aus dem Vorhänge gemacht sind: die Vorhänge eines Kinderwagens. Aber ist es mein Kinderwagen, von dessen sanftem schwingendem Rhythmus ich mich jetzt wieder geschaukelt fühle? Oder täuscht mich die Erinnerung? Was ich jetzt für mein Erlebnis halte, gehört vielleicht in Wirklichkeit meinem jüngeren Bruder Golo. Schon immer hatte ich eine gewisse Neigung, ihm sein Eigentum wegzunehmen – Bonbons, Spielsachen oder die bunten Steine und Schneckenhäuser, die wir aus dem Garten ins Haus schleppten; denn ich war älter und größer als er – so mußte er sich's wohl gefallen lassen. Versuche ich nun, ihm den seligen Schlummer seiner ersten Kindheit zu stehlen? Ich mußte schon aufrecht gehen, mühselig, Schritt für Schritt, als er noch das Vorrecht genoß, herumgefahren zu werden. Kein Zweifel, der Kinderwagen, an den ich mich erinnere, ist eben der, um welchen ich Golo damals beneidete. Wie innig wir uns auch bemühen mögen, uns zurückzuversetzen in das Paradies vollkommener Wunschlosigkeit – das Gefühl, dessen wir uns wirklich entsinnen und welches uns zu jeder Zeit beherrscht zu haben scheint, ist immer nur die Sehnsucht nach einem Glück, das mit dem Beginn unseres bewußten Lebens verlorenging.

      Der Kinderwagen ist das verlorene Paradies. Die einzig absolut glückliche Zeit in unserem Leben ist die, welche wir schlafend verbringen. Es gibt kein Glück, wo Erinnerung ist. Sich der Dinge erinnern, bedeutet, sich nach der Vergangenheit sehnen. Unser Heimweh beginnt mit unserem Bewußtsein.

      Wie könnte ich jemals das geliebte Bild vergessen, das mir so oft half, Schlaf und Vergessenheit zu finden? Nacht für Nacht beschwor ich den Schatten einer Wiege, mit Segeln versehen – einer Zauberbarke, mich weit forttragend: durch dunkle Wälder, über stille Wasser, geradewegs in die purpurne Tiefe eines unendlichen Himmels. Ich muß wohl die beflügelte Wiege als Kind auf irgendeinem Bild gesehen oder in einem Märchen von ihm gehört haben. Sie verfolgte mich durch Jahre – ein Symbol der Flucht, des seligen Entgleitens. Allmählich jedoch veränderte die Wiege ihre Form; sie wurde länger und enger. Das Schiff, das mich jetzt zum Hafen der Vergessenheit trägt, ist aus härterem Stoff gemacht und von düsterer Farbe. Wiege und Sarg, Mutterschoß und Grab – in unserem Gefühl fließen sie ineinander, werden sich beinah gleich.

      Der Schlaf, den wir ersehnen, der vollkommene Schlaf, ist traumlos. Wir werden von Träumen heimgesucht, sobald wir gelernt haben, uns zu erinnern und Reue zu empfinden. Im Alter von fünf oder sogar früher war ich schon vertraut mit dem bösen Geflüster der Albträume. Die Stube, die ich erst mit Erika teilte, dann mit Golo, füllte sich nachts mit Gespenstern. Wie ich ihn verabscheute, den blassen Herrn, der fast jede Nacht meinen Frieden zu stören kam. Manchmal trug er seinen Kopf unterm Arm, als wäre es ein Blumentopf oder ein Zylinder. Mir brach der Angstschweiß aus angesichts dieser weißen Fratze, die in so ungewöhnlicher Position freundlich nickte und grinste. Mein Grauen erreichte schließlich einen solchen Grad, daß ich es nicht mehr für mich behalten konnte. Ich besprach die Sache mit unserer Kinderfrau. Anna mit den blauen Backen. Die Blaue Anna ihrerseits erörterte das Phänomen mit unserem Vater, der der Ansicht war, es sei höchste Zeit, dem kopflosen Ärgernis ein Ende zu bereiten.

      Er erschien zur Schlafenszeit in unserem Zimmer – was an sich schon ein ungewöhnliches Ereignis bedeutete – und hielt eine strategische Konferenz mit uns ab. Der enthauptete Gast, so meinte er, war eigentlich gar nicht so sehr fürchterlich – wir sollten uns doch nicht von ihm bluffen lassen. »Schaut ihn doch einfach nicht an, wenn er wiederkommt!« riet der Vater. »Dann wird er wahrscheinlich ganz von selbst verschwinden, weil es doch langweilig und sogar etwas peinlich für ihn wäre, so ganz unbeachtet herumzustehen. Wenn ihr ihn aber auf diese Art nicht loswerden könnt, dann müßt ihr ihn eben mit lauter Stimme darum ersuchen, sich zum Teufel zu scheren. Sagt ihm nur, daß ein Kinderschlafzimmer kein Ort ist, wo anständige Geister sich herumtreiben, und daß er sich schämen sollte. Und wenn das immer noch nicht genügt, so tut ihr gut daran hinzuzufügen, daß euer Vater sehr reizbar ist und häßlichen Spuk in seinem Haus nicht duldet. Dann wird er sich bestimmt aus dem Staube machen. Denn es ist eine in Geisterkreisen wohlbekannte Tatsache, daß ich wirklich sehr schrecklich sein kann, wenn ich einmal die Geduld verliere.«

      Wir folgten seinem Rat, und alsbald verging der Spuk. Es war ein durchschlagender Erfolg und bewies uns aufs eindrucksvollste, wieviel der väterliche Einfluß sogar in der Gespenster-Sphäre vermochte. Um diese Zeit begannen wir ihn »Zauberer« zu nennen, zunächst nur unter uns; da wir aber bemerkten, daß der Name ihm nicht mißfiel, kam er bald auch offiziell zur Anwendung.

      Das Leben eines Fünfjährigen ist voll von Problemen und Komplikationen, verglichen mit dem seligen Dämmern der Babyzeit. Es scheint jedoch paradiesisch im Gegensatz zu der Fülle von Konflikten und Heimsuchungen, mit denen der Erwachsene fertig zu werden hat. In einem Fall wie dem meinigen wird dieser Kontrast besonders auffallend; denn der verhältnismäßige Friede und die Geborgenheit, deren das Kind im allgemeinen teilhaftig ist, scheint verdoppelt durch das idyllische Wesen