Vielmehr überlegte sie fieberhaft, was sie Grace alles erzählt hatte. Nichtsahnend, dass sie die Direktorin der Privatbank war. Das konnte auch nur ihr passieren!
„Schön, dass Sie meinen Rat befolgt haben“, lobte Grace sie im nächsten Moment und taxierte Maggie von Kopf bis Fuß. „Trotz Ihres verkümmerten Daseins sehen Sie ganz passabel aus und von der Schneise Ihrer Tränenflut ist auch nichts mehr zu sehen.“
„Danke … äh … tja … dann werde ich mal wieder“, murmelte Maggie.
„Warum?“ Grace verengte die Augen. „Ich dachte, Sie hätten ein Ziel. Oder sollte ich mich in Ihnen getäuscht haben? Schließlich beschrieben Sie sich in beruflicher Hinsicht als zielgerichtet und nicht als zarte Blume, die beim geringsten Widerstand einknickt, was Ihrer privaten Natur entsprechen mag. Aber Mimosen kann ich nicht brauchen. Wäre mir das bereits gestern klargewesen, hätte ich mir tatsächlich ein Messer geholt, um Ihren schrecklichen Monolog zu beenden.“ Maggies Gesicht brannte mittlerweile wie Feuer. „Sie wollten eine Chance, Sie kriegen eine. Möchten Sie sie oder nicht?“
„Natürlich, Mrs. Lynch … mehr als alles andere.“ Maggie strich sich hastig einige Strähnen hinter das Ohr.
„Dann straffen Sie die Schultern“, kommandierte Grace wie ein Offizier, „und sprechen Sie verdammt noch mal in ganzen Sätzen. Gestern ist Ihnen das ja auch gelungen.“ Alle gafften sie an und Maggie überlegte, ob sie türmen sollte, solange Mrs. Lynch Luft holte. „Mein Name ist übrigens Grace Ricarda Lynch und eigentlich sollte ich für meine Ratschläge allmählich Geld von Ihnen verlangen, aber diesen bekommen Sie noch gratis: Das oberste Prinzip jeder Bewerbung ist es, schneller als andere zu sein. Das hatten Ihnen einige voraus, weshalb ich die Assistenz-Stelle soeben besetzt habe. Nur der frühe Vogel fängt den Wurm.“ Hanks Lieblingsspruch! Er würde jetzt sicher schallend über sie lachen. „Sie hätten eher kommen müssen, Maggie.“
Gerade hatte diese Frau noch von einer Chance gesprochen! „Aber Sie wussten, dass ich …“ Nicht gut. Gar nicht gut! Grace schaute sie an wie eine Kannibalin, die beim Anblick ihres Gegenübers jeglichen Appetit verlor. „Ich würde Ihnen gerne meine Kontaktdaten hierlassen“, riss sich Maggie zusammen. „Sollte eine ähnliche Stelle frei werden, käme ich dafür sogar mitten in der Nacht vorbei.“
„Ja, ja, ersparen Sie mir das Gesülze“, stoppte Grace ihren Eifer. „Wären Sie für den Anfang mit einem anderen Job zufrieden?“
Maggies Herz machte einen Sprung. „Ja, Mrs. Lynch, natürlich.“
„Iris, hol Humpie!“ Die Angesprochene eilte davon. Zeitgleich hob Grace die rechte Hand. Ihre goldenen Armreifen klimperten. In schneller Abfolge schnippte sie mit den manikürten Fingern. Sofort schwirrte ihr Gefolge in alle Richtungen aus. Wie Erdhörnchen, die eine drohende Gefahr witterten. „Wenn es um Geschäftliches geht, brauche ich keine Zuhörer“, erklärte Grace und bedachte Maggie mit einem strengen Blick. „Sie fangen ganz unten an. Und mit ganz unten meine ich ganz weit unten.“ So schnell konnte ein Hoch verfliegen.
„Was heißt das?“ Toilettenkraft?
„Poststelle.“ Gut, das war um Längen besser, auch wenn der Job ebenfalls meilenweit von Maggies Vorstellungen entfernt war. „Nur wer ein Unternehmen in- und auswendig kennt, jede Abteilung und jeden Mitarbeiter, weiß, wovon er spricht. In der Schreinerei haben Sie vielleicht mit sechsstelligen Beträgen zu tun gehabt, bei uns werden täglich Milliarden umgewälzt, demnach sind Sie ein absolutes Greenhorn. Nun, Sie bekommen diese eine Chance. Mit mir als Mentorin. Ich werde Sie unter meine Fittiche nehmen und wenn Sie ausgebacken sind, wird sich der Markt förmlich um Sie reißen. Jetzt liegt es an Ihnen, ob Sie mein Angebot annehmen oder nicht.“ Iris kam zurück. Ausgerechnet mit Mister Nadelstreifen im Schlepptau, der vermutlich Humpie sein musste. Die Wanze. „Ich warne Sie allerdings vor“, flüsterte Grace ihr zu, „in den nächsten Jahren werden Sie so gut wie kein Privatleben haben und sollten sich ein dickes Fell zulegen.“ Kurz vor Grace machte Iris kehrt und ließ Humpie die letzten Schritte alleine gehen. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. „Mein Sohn wird Sie in alles einweisen“, erklärte Grace lauter. „Und notfalls feuern, wenn Sie nicht die gewünschte Leistung bringen.“
„Immer diese Alleingänge, Mutter.“ Sein genervter Blick streifte Maggie.
„Dir bin ich zuletzt Rechenschaft schuldig.“
„Wo hast du sie aufgegabelt?“ Erneut nahm er Maggie in Augenschein.
„Auf einer Parkbank, wo sonst?“ Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn schien schwieriger zu sein, als Maggie angenommen hatte, und sie befand sich mitten in der Schusslinie. Wobei sich ihr Mitleid für Humpie in Grenzen hielt.
„Schön, Mutter, dann hast du ja endlich jemanden, den du herumkommandieren kannst.“
„Oder jemanden, der bessere Arbeit leistet als du“, erwiderte Grace süffisant.
Humpies Kieferknochen mahlten aufeinander. „Diese junge Dame ist keine Konkurrenz für mich.“ Sein Blick glich einer Kampfansage. Sie stand schon jetzt auf seiner Abschussliste. „Montag früh, pünktlich um sechs Uhr in meinem Büro“, ordnete er knapp an. „Bringen Sie die erforderlichen Papiere mit. Alles Weitere besprechen wir dann.“ Er eilte davon.
Maggie fing Graces Blick auf. „Sind Sie bereit für die Höhle des Löwen?“
„Ja, und ich werde Ihnen beweisen, dass ich ein guter Dompteur bin.“
Mrs. Lynch hob die rechte Augenbraue. „Sie gefallen mir immer besser. Aber wenn Sie in diesem Zirkus mithalten wollen, müssen Sie knallhart sein. Ich wiederhole das nur, damit Ihnen klar ist, worauf Sie sich einlassen. Das hier ist nämlich nicht das beschauliche Cornwall, wo sich Fuchs und Henne gute Nacht sagen. In diesem Unternehmen müssen Sie ständig hinter sich blicken, damit Sie keinen Feind übersehen. Unter ihren Stuhl schauen, der laufend angesägt werden wird und vor allem sollten Sie nach einer Devise leben: In der Citizen-Welt regiert ausschließlich Geld, nicht das Herz.“
Eine harte Aussage, die Maggie noch beschäftigte, nachdem sie sich längst in ihrem Pensionszimmer befand. War sie tatsächlich dazu gemacht, die Ellenbogen zu benutzen? Sich gegen alle Widerstände zu behaupten und Gefühle außen vor zu lassen?
Zweifel, die sich verstärkten, als sie einen Anruf von Minnie erhielt. Finleys Tante setzte sie über Randalls Tod in Kenntnis. Maggie sank weinend auf das Bett, nachdem sie aufgelegt hatten, und dachte an das letzte Gespräch mit ihm. Dieser Mann war ein außergewöhnlicher Mensch gewesen, dessen Tod sie tief traf. Dabei hatte sie ihn kaum gekannt, trotzdem fühlte es sich anders an. Und wie schlimm musste sein Tod für Annie sein. Es wäre schön gewesen, sie zu kennen. Ob sie ihr schreiben sollte?
Maggie blickte aus dem Fenster und hatte plötzlich St. Agnes vor ihrem geistigen Auge. Die Bank vor Randalls Geschäft. Alecs und Harrys Grab. Die Klippen, den rauschenden Ozean und Kraniche, die ihre Kreise am Himmel zogen …
♥♥♥
Dublins Brücken spiegelten sich in der ruhig dahinfließenden Liffey, die auch die gepflegten Häuserreihen auf ihrer Oberfläche tanzen ließ. Besonders im Merrion Square fanden sich viele entzückende Gebäude im Georgianischen Stil mit ihren weiß verputzten Ornamenten und den Backsteinen. Über teils feudale Eingangsportale spannten sich Ziergiebel und viele verfügten über romantische Freitreppen.
Gedankenvoll schlenderte Maggie an der Nationalgalerie vorbei, stand ehrfürchtig vor der Börse Irish Stock Exchange und fuhr mit der Stadtbahn in die Nähe von Temple Bar. Das kulturelle Viertel am Südufer der Liffey platzte beinahe aus allen Nähten, denn die ganze Welt schien an diesem Wochenende dasselbe Ziel zu haben, oder es ging allen ähnlich wie ihr: Sie mussten sich beschäftigen, um auf andere Gedanken zu kommen. Wobei Dublin durchaus sehenswert war.
Am besten gefielen Maggie die engen Gassen mit den Kopfsteinpflastern, die den Straßenzügen ein mittelalterliches Flair einhauchten. Hochmodern wirkte dagegen der Spire, eine über hundertzwanzig Meter lange Edelstahl-Säule, die nach oben hin schmaler wurde und von vielen scherzhalber