Lars Gelting

Tod eines Agenten


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was das ist?“ Sie sah ihn fragend an. „Gut. Also sie hilft dort mit, räumt Waren ein, gibt Waren heraus. So kommt sie unter Menschen. Du wirst sehen, das tut deiner Mutter richtig gut. Weißt du, sie lernt dort Menschen kennen, denen das Leben nach der Wende genau so übel und manchmal noch viel übler mitgespielt hat als ihr. Wir haben das Gefühl, das alles hilft ihr.“

      Draußen tat sich etwas. Die Tür zum Garten schlug an, man hörte rasche Schritte und jemand klappte einen Fahrradständer aus.

      „Oh, das ist Kathrin. Schon?“

      „Du kleiner Satan. Glaub ja nicht, dass du mir davonkommst. Du bist nicht gekommen, um zu fragen, wie es deiner Mutter geht. Ich kenne dich. Ich spüre das.“

      Helga hatte sich mit schelmisch verengten Augen über den Tisch vorgebeugt und ihm diese Sätze zugezischt. Gleich darauf öffnete sich die Tür zum Garten und Kathrin kam herein. Sie war dünn geworden, um nicht zu sagen mager.

      Früher, in Waldheim noch, war Kathrin eine attraktive, sportliche Frau mit fein-krausen blonden Haaren gewesen. Danach hatte der Kummer mehr und mehr auch an ihrem Äußeren genagt. Jetzt, sie war gerade sechzig geworden, sah sie zum Erbarmen aus. Ihr Gesicht wirkte knochig und eingefallen, die schönen blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen und ihr Haar war stahlgrau geworden. Aber sie strahlte, ließ ihren Stadt-Rucksack an der Tür fallen, war mit zwei schnellen Schritten bei ihm. Erik hatte gerade noch genug Zeit, um sich vom Stuhl zu erheben, da schlang sie ihm schon ihre dünnen Arme um den Hals und blieb einen Augenblick so stehen, ihn fest an sich gedrückt.

      „Erik. Ich habe so lange nichts von dir gehört. Ich freue mich, dass du da bist.“ Sie ließ ihn aus den Armen, trat einen Schritt zurück und sah ihn etwas bekümmert an.

      „Ich kann das nicht gut haben, wenn ich so lange nichts von dir höre. Ich male mir dann alles Mögliche aus und sorge mich.“

      „Ich bin schon groß. Hast du das noch gar nicht gemerkt? Und ich bin Unkraut, ich überlebe alles und komme immer wieder hoch. Mache dir um mich keine Sorgen.“ Er setzte sich wieder und zog den nächsten Stuhl heraus. „Komm, setz dich zu uns.“

      „Wie kommt es, dass du schon zurück bist?“ Helga war aufgestanden und nahm eine hohe Tasse aus dem Schrank, einem alten Küchenschrank, dessen Türen im Schrankaufsatz noch Glasscheiben mit Gardinen hatten. Eine moderne Einbauküche wollte Helga nicht in diesem Haus haben.

      „Frau Bredow.“ Kathrin hob ihren Rucksack vom Boden und kam die zwei Schritte wieder zurück. „Das ist die Frau zwei Häuser weiter auf der anderen Straßenseite. Du erinnerst dich vielleicht. Frau Bredow hat Erik kommen sehen. Sie hat es mir gesagt. Ich brauche auch heute nicht mehr hin. Du bleibst doch, oder?“ Sie hatte sich neben ihm auf den Stuhl gesetzt, sah ihn mit bang fragenden Augen an.

      „Ich bin ja gerade erst gekommen. Ich bleibe schon noch.“ Er wandte sich an Helga. „Wie geht es Rudi? Klär mich auf, bevor ich gleich mit ihm reden kann.“

      Sie sah auf die alte Wanduhr neben dem Schrank. Strich sich wieder die Haarsträhne aus dem Gesicht.

      „Ah, das kann schon noch was dauern. Wie soll es ihm gehen? Er ist still geworden. Manchmal reden wir den ganzen Tag über kaum miteinander. Kannst du dir das vorstellen, Rudi und schweigsam?“ Sie blickte von ihrer Tasse auf, Sorge im Gesicht. „Und wenn ich ihm dann mal wegen irgendeiner Nichtigkeit auf die Füße steige, dann explodiert er. Hat er früher nie gemacht.“ Sie sah wieder in ihre Tasse, „Vielleicht ist es das Alter. Manchmal geht er morgens und bleibt den ganzen Tag weg. Ich weiß dann nicht, wo er ist. Niemand scheint das zu wissen. Er ist dann einfach weg. So allmählich wird er mir fremd. Ich bin froh, dass Kathrin bei uns ist.“

      „Trinkt er vielleicht?“

      „Nein! Er trinkt nicht. Und alles andere fällt schon sowieso weg.“

      „Wie alt ist er jetzt?“ Er sah Helga überlegend an. „Achtzig ist er geworden. Und, er hat in den letzten Jahren so einiges wegstecken müssen. Das wird ihm zu schaffen machen.“

      „Erik, wir haben alle ziemlich viel wegstecken müssen. Das bleibt uns allen nicht in der Büx hängen. Aber deswegen kann man sich doch nicht einfach ausklinken. Wir haben in allen Zeiten immer zusammengehalten. Er kann das jetzt doch nicht einfach aufkündigen.“

      „Ich gehe mal runter zum Bodden. Mal sehen, wie es dem alten Eisenbahner so geht.“ Er erhob sich, sah, wie Helga ihre Augen etwas zusammenkniff.

      „Ja, geh nur. Vielleicht findest du ihn. Sag ihm dann, dass wir hier auch noch da sind. Und wenn ihr wieder zurück seid, dann habe ich mit dir auch noch etwas zu besprechen, du Geheimniskrämer. Geh nur.“

      „Geheimniskrämer? Was für ein Geheimnis?“ Kathrin sah verunsichert von ihm zu Helga und wieder zurück.

      „Ach, Helga wittert irgendeinen Verrat.“ Er zuckte mit den Schultern, versuchte gleichgültig zu wirken. „Es gibt kein Geheimnis, Kathrin. Wirklich nicht. Ich hatte einfach nur Lust, über das Wochenende bei euch zu sein.“

      Am Bodden-Ufer, etwas zurück versetzt, in einem Einschlag zwischen Büschen und Bäumen, gab es eine alte, aber liebevoll restaurierte Holzhütte. Rückzugsgebiet für alte Käuze hatte Rudi das genannt, als Erik ihn und seinen alten Freund Konrad mal durch Zufall vor der Hütte entdeckt hatte. Zwei alte Eisenbahner, denen die große Werkhalle fehlte, die geregelten Arbeitsabläufe und die Gerüche von Fett, Öl und Schweißdunst. Denen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel, weshalb sie sich hier wie auf einer abgelegenen „Insel“ trafen, das Gras bis hinunter zum Bodden kurzhielten und von Zeit zu Zeit der Hütte mit Pinsel und Farbe auf das Holz rückten. Hier waren sie ungestört, nur selten kam mal jemand auf dem schmalen Pfad am Boddenufer entlang.

      Rudi war alleine am Haus, saß auf der alten Bank neben der geöffneten Eingangstür und sah hinaus auf den Bodden, auf dem ein Fischkutter von einem Schwarm Möwen umkreist wurde.

      „Ich hätte dir einen Kaffee mitbringen können. Zu Hause stand die Kanne auf dem Tisch.“

      „Da gehört sie auch hin.“ Rudi sah ihm gut gelaunt entgegen, die verbeulte Thälmann-Mütze auf dem Kopf, die Hand mit der Pfeife vor der Brust.

      „Hol dir ein Bier, wenn du willst.“ Rudi wies mit der Pfeife zur geöffneten Tür.

      „Nein, du trinkst ja auch keins.“ Er setzte sich neben Rudi auf die Bank. „Ich muss jetzt kein Bier trinken, aber ich muss mit dir reden.“

      „Nur, wenn es nicht um Geld geht.“ Rudi sah aus den Augenwinkeln zu ihm herüber, humorvoll unter den buschigen Augenbrauen hinweg.

      „Es geht doch immer um Geld. Oder?“

      „Mir nicht. Geld brauche ich zum Leben, ansonsten interessiert es mich nicht.“

      „Würde es dich denn interessieren, wenn ich dir sage, dass ich ziemlich sicher weiß, wo sich der Doktor versteckt hat?“

      Rudi sog an seiner Pfeife, sah ruhig auf den Bodden hinaus, blies den Rauch sachte wieder aus.

      „Und jetzt?“

      „Was Und jetzt?“

      „Weiß er schon, dass du ihn entdeckt hast?“

      „Nein. Noch weiß er das nicht.“

      „Dann ist es ja gut. Lass´ das auch man so.“ Er wandte sich ihm kurz zu, sah dann wieder nach draußen und sog ruhig an seiner Pfeife.

      „Was ist denn das jetzt, Rudi? Weißt du, wie der Kerl heute lebt?“

      „Nicht wie er lebt ist von Bedeutung. Warum er so leben kann, das ist die Frage, die du dir stellen musst. Vergiss ihn einfach.“ Rudi hatte sich Erik jetzt ganz zugewandt. Sein Gesicht war schmal geworden, die Tränensäcke unter den nachdenklich schauenden Augen schienen ausgeprägter und die plötzliche Anspannung verstärkte diesen Eindruck. „Vergiss den Kerl. Der ist es nicht wert, dass du deinen Hals riskierst. Und das wirst du, wenn du dem zu nahe kommst.“ Er steckte seine Pfeife in die Jackentasche und lehnte sich wieder