mehr als unangenehm. Die Klasse ist immer noch still und Snow sieht mich entschuldigend an. "Dann schreiben Sie eben allein. Ist doch sowieso viel besser, weil man sich mit niemandem über irgendwelche Argumente streiten muss." Er lächelt mir väterlich zu.
Wieder nicke ich nur stumm. Ich bin froh, wenn ich endlich aus diesem Kurs fliehen kann. Das heute war wirklich eine reine Folter. Früher hat es mich gefreut, wenn ich etwas alleine machen durfte, aber heute... ich weiß nicht, ich habe mich einfach ausgegrenzt gefühlt. Wo kommen denn auf einmal diese Zweifel her? Genau das wollte ich doch. Allein sein.
Ich beschließe kurzerhand die anderen Kurse sausen zu lassen, da ich diese als nicht für wichtig empfinde.
Ich laufe durch London, um mich abzulenken. Durch meine Kopfhörer höre ich You Are Your Mother's Child von Apsiden Down Mountain und Erinnerungen an meine Kindheit strömen durch meinen Kopf. Haben mich die andere Schüler damals auch gehasst, dass ich so war wie ... na, ja, wie ich heute immer noch bin? Hätten sie mich genauso ausgeschlossen, bei der Partnerarbeit, wie es heute alle getan haben? Auf einmal fange ich an, darüber nach zu denken, ob ich nie wirklich gegen jemanden etwas hatte, vielleicht alle anderen etwas gegen mich hatten.
Passend zu meiner Stimmung beginnt es nun zu regnen. Ich halte mir meine Jacke über den Kopf und laufe in ein Café. Ich schüttle mir die Tropfen von den Schultern und sehe mich um. Anscheinend ist die Idee, sich vor dem Regen in einem Café zu verstecken nicht ganz so unbeliebt, denn es ist randvoll.
Ich sehe mich nach einem freien Sitzplatz um und entdecke einen an einem Tisch, an dem eine Frau - ungefähr Ende vierzig - sitzt. Man sieht ihr sofort an, dass sie viel arbeitet. Sie trägt einen engen Stiftrock mit Blazer und ich würde wetten, dass ihre Schuhe nicht weniger als fünfhundert Pfund gekostet haben. Ihr Make-up sitzt perfekt und ihre braunen Harre sind zu einem strengen Dutt nach hinten gekämmt. Sie hält sich ein Telefon ans Ohr, während sie ein wenig Milch in ihren Kaffee schüttet.
Ich gehe auf sie zu und zeige fragend auf den Stuhl ihr gegenüber.
Sie nickt nur und telefoniert weiter. "Nein, Hank, du verstehst das nicht. Dieses Meeting ist extrem wichtig und ich kann nicht bei diesem Wetter dorthin laufen“, redet sie ins Telefon. Sie scheint gestresst zu sein.
Eine Bedienung nimmt meine Bestellung, einen Kaffee mit Milch. Ich betrachte die Frau mir gegenüber, möglichst unauffällig, ein wenig mehr. Erst von Nahem kann man ihre Falten und einige graue Haare an ihrem Haarschopf entdecken. Auch ihre Augen strahlen etwas Kaltes aus.
"Hank, bitte. Tu mir den Gefallen", sagt sie wieder ins Telefon. Ihr ist die Verzweiflung deutlich anzusehen. "Du bist meine letzte Chance hier weg zu kommen - Nein, Yasmin und Diana habe ich schon angerufen." Sie stützt ihre Stirn mit der Hand auf dem Tisch ab. Ich schütte ein wenig Milch in den Kaffee und versuche, ihr nicht das Gefühl zu geben, dass ich sie belauschen würde. Jetzt sieht sie mich an und dreht sich ein wenig von mir weg, als würde sie bemerken, dass ich ihr zuhöre. Sie flüstert in ihr Handy: "Du bist mein Bruder ... ich hab doch sonst niemanden." Die Person am Telefon sagt noch etwas und schließlich legt die Frau schnaufend auf und schmeißt ihr Handy auf den Tisch. "Scheiße". Sie stöhnt und legt ihr Gesicht in ihre manikürten Hände. Als ich ihr erneut kurz ins Gesicht schaue, sehe ich, dass ihre Augen gerötet sind. Weint sie?
"Ist, ähm ... ist alles in Ordnung bei Ihnen? Ich will nicht aufdringlich sein, aber ..." Ich versuche möglich leise zu reden, damit die anderen Kunden uns nicht hören.
"Dann sei es nicht." Sie sieht mich mit bebenden Nasenlöchern an.
Ich schnappe erschrocken nach Luft und wende meinen Blick sofort wieder auf meinen Kaffee. Sie hat wirklich etwas sehr Dominantes an sich.
Sie schnieft einmal und wischt sich mit ihrer Serviette die Tränen aus den Augen. "Tut mir leid, es war nicht so gemeint."
Ich nicke und sehe sie mitleidig an.
"Ich hab nur eigentlich jetzt ein sehr wichtiges Meeting und ich kann dort nicht mit nassen Klamotten und zerzausten Haaren auftauchen."
Kurz wundere ich mich, wieso sie mir das erzählt, fange mich dann aber wieder. "Und Sie haben niemanden, der Sie hinfahren könnte?" Ich möchte ihr auf keinen Fall zu nahe treten.
Sie atmet einmal tief ein. "Nein ... Nein, habe ich nicht."
Ich werde neugierig. "Wo arbeiten Sie denn, wenn ich fragen darf?"
"Ich bin CEO in einer Verlagsfirma." Sie rührt ihren Kaffee um.
"Wow, das ist beeindruckend." Ist es definitiv. Das erklärt ihr selbstbewusstes Auftreten. Bis na ja, bis sie anfing zu weinen.
Sie blickt kurz auf und sieht mich mit ihren geröteten Augen an. "Ich wünschte, ich wäre es nicht." Sie wünschte, sie wäre es nicht? Wer wäre nicht gerne Chef in seiner eigenen Firma? "Reichtum und Karriere sind nichts, wenn man alles andere nicht hat." Sie trinkt von ihrem Kaffee.
"Wie meinen Sie das? Sie haben anscheinend viel für Ihren Erfolg getan. Wieso sollten Sie das nicht mehr wollen? Sie haben Dinge erreicht, die kaum ein Mensch jemals schaffen wird. Ich wäre sehr glücklich, so eine Karriere erreichen zu können, wie Sie." Ich runzle verwirrt die Stirn.
"Kleine, du willst nicht so sein wie ich. Ich habe jede Menge Geld, ja, ich habe sogar eine beschissene Villa auf einem abgeschotteten Berg. Ich trage Klamotten, von denen man zig Autos kaufen könnte." Wow, eine Villa auf einem abgeschotteten Berg. Das wollte ich schon immer. "Aber ich habe niemanden. Keinen Mann, keine Kinder. Ich habe nicht mal jemanden, der mich zu diesem beschissenen Meeting fahren will!" Zum Ende hin wird sie immer lauter.
Manche Kunden drehen sich zu uns um.
"Das eben war mein Bruder und nicht mal der will mich abholen. Normalerweise ist Familie doch das Wichtigste, nicht wahr? Tja, meine Familie hasst mich! Genau wie meine Kollegen und wenn ich Freunde hätte, würden die mich mit höchster Wahrscheinlichkeit auch hassen." Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen und ihr Griff um den Kaffeebecher wird fester.
Ich bekomme kein Wort heraus. Ich starre sie nur mitleidig an.
"Wenn du glücklich sein willst, dann hab´ Spaß, Kleines. Häng mit deinen Freunden so oft wie möglich ab, mache Unsinn und sammle Erfahrungen. Denn das tat ich nie und ich bereue es in jeder Sekunde meines Lebens." Sie steht auf und wirft sich ihre Arbeitstasche um die Schulter. "Tu alles, aber werde bloß nicht so wie ich." Sie lächelt am Ende noch leicht und verlässt dann das Café.
In meinem Kopf schwirren so viele Gedanken herum. Und dann wird es mir klar.
Vor mir saß gerade mein Zukunfts-Ich.
Kapitel 6
Innerhalb von Minuten hat sich alles geändert. Mir tut auf einmal so vieles Leid. Zum Beispiel Scar ... Wie ich sie früher immer abgeblockt habe, wenn sie mit mir spielen wollte. Mein Dad, weil er mir so viele Spielsachen gekauft hat, die ich nie angerührt habe. Er wollte immer, dass ich eine ganz normale Kindheit und Spaß habe. Wie oft ich mich bloß mit ihm deswegen gestritten habe. Dabei wollte er doch nur mein Bestes. Ich muss an Aiden denken und wie ich ihn letzte Nacht angemeckert habe, weil er mir zeigen wollte, wie schön manche Dinge sein können.
Ich wünschte, ich hätte all diese Dinge nicht getan.
Ich verlasse mit neuem Bewusstsein das Café und gehe zurück zum Campus. In meinem Leben muss sich drastisch etwas ändern. Nur wie?
"Rave, warte mal!" Ich drehe mich zu der Stimme um, die mich gerufen hat. Noah kommt grinsend auf mich zu gejoggt.
"Hey, Noah." Ich lächle.
"Hey." Er streicht sich durch die blonden, durchnässten Haare. "Heute Abend machen wir bei uns im Studentenwohnheim eine kleine Party und ich wollte dich fragen, ob du auch kommen willst." Wird er gerade rot?
Instinktiv will ich nein sagen, denke dann aber an meinen neuen Beschluss. Spaß haben, Unsinn machen, wie es die Frau gesagt hat. "Ja, liebend gerne."
Sein