Osten. Sie konnte auf ihn schießen. Er floh zu Antonelli, seinem Kumpanen. Der war zwar nur ein Anlageberater, aber er konnte ihn notdürftig verarzten.
Kapitalopoulos überlebte. Er verfolgte Xenia anschließend erneut in Tötungsabsicht. Xenia und Achim wurden von ihm in ihrem PKW überrascht. Kapitalopoulos riss die Pkw-Tür auf, als sie an der Autobahnraststätte Münsterland hielten. Er zerrte Achim aus dem Fahrzeug und schlug ihm auf dem Kopf. Sie schoss Kapitalopoulos in den Bauch. Es war Notwehr. Ihr Mann kam zu sich und betätigte den Notruf – Polizei und Krankenwagen. Er wollte, dass sie sich stellen. Dann kam Kapitalopoulos wieder zu sich. Er ergriff Xenias Waffe und erschoss ihren Mann, kurz bevor er selbst verblutete. Xenia flüchtete über die Autobahn. Die Kollegen fanden auf dem Rastplatz nur noch zwei männliche Leichen. Xenia hielt ihren Pkw erst wieder in Polen an. Sie war dort mit dem Geld allein, ganz allein, und kam nicht mehr klar.
Sie hatte sich gestellt. Die polnische Polizei lieferte sie nach Münster aus. Kommissar Heveling hatte sie in Empfang genommen. Inzwischen war sie aus der U-Haft entlassen worden. Tenfelde sollte ihr Trauma therapieren.
Xenia war Erbin des spärlichen Nachlasses der Mühlmann. Sie hatte so gut wie nichts hinterlassen, nur ein kleines Sparbuch für ihr Patenkind Susi. Keine 300 Euro.
Heveling stutzte. War sie knauserig? Oder pleite?, fragte er sich. Und er nahm sich diesen „ABD“ vor. Sein Schädel brummte. Das war gestern wohl ein Bierchen zuviel. Doch er nahm eine Aspirin, schmiss sie in ein Glas Wasser und betrachtete nachdenklich die Bläschen. Die Tablette verschwand im Nichts, in einer Wolke aus Gasbläschen im Wasserglas. Er war versucht, das Wasser zum Blumengießen zu benutzen – die Efeutute auf der Fensterbank seines Bürozimmers war trocken – doch dann besann er sich. Er schonte die Zimmerpflanze und gab ihr einen Schuss aus der Mineralwasserflasche.
Schließlich schlürfte er das Zeug aus dem Glas selbst und setzte sich wieder über die Akten. Er fand heraus, dass das Kürzel Allgemeiner Beratungs-Dienst bedeutete. ABD? Er kramte gedanklich in seinen Erinnerungen. War da nicht vor Jahren so ein Fall, wo das Kürzel vorkam? Irgendwas mit Anlagebetrug? Das Verfahren war, so meinte er sich zu erinnern, eingestellt worden, weil es wohl ein Suizid war. Das Opfer war einem Anlagebetrug aufgesessen und kam nicht klar, und ein Mord war nicht nachweisbar. Die Staatsanwaltschaft hatte das Verfahren eingestellt. Ihm fiel ein, dass es da damals so einen Finanzdienstleister gab. Hieß der nicht ABD oder AWD oder so ähnlich?
Er nahm den letzten Schluck Aspirin. Dann rief er Mike Rohsoft an. Mike war nicht da. Erika ging ran, seine Kollegin aus der Abteilung O.K. – organisierte Kriminalität.
„ARD?“, scherzte sie, „aber Martin, das heißt doch Allgemeiner Rundfunk Deutschland, das Erste im Fernsehen!“
„Sehr witzig“, brummte Heveling. „ABD, du Nuss!“
„Oh, danke für das Kompliment, Martin.“ Sie lachte. Martin hörte ihren PC hochfahren. Ihre lackierten Fingernägel tippten auf die Tastatur.
„Also ABD.“, murmelte sie. „Also: Google sagt, das heißt Ausfuhr-Begleit-Dokument. Damit bestätigt die Ausfuhrzollstelle, dass die Ausfuhr bestimmter Waren zulässig ist. Oder es heißt Arbeitsgemeinschaft für Berufs- und Umweltdermatologie. Und es gibt den arabischen Vorname ʿAbd, der bedeutet Sklave, Diener oder Knecht. Wie zum Beispiel in Abd‘ullah, Knecht Gottes.“
Martin stöhnte.
„ABD ist auch das Kürzel für Abend oder Abdankung oder das automatische Bremsdifferenzial – das ist Technik …“, murmelte sie unbeirrt weiter.
Martin räusperte sich.
„Ach, da ist es ja: Es gibt unter dem Kürzel ABD hier in Münster auch einen Makler – meist du den?“
„Erika, lass gut sein.“
Erika fuhr fort. „Also AWD statt ABD? Immobilien und Wirtschaft, ok, aber ich glaube, es war dann wohl eher AWD, was du meintest?“
Irgendwie spürte Heveling, dass er wohl noch eine zweite Aspirin bräuchte.
„Also, AWD steht für All Wheel Drive, englisch für Allradantrieb, für einen ehemaligen deutschen Motorradhersteller, einen ehemaligen britischen Nutzfahrzeughersteller, die Arzneimittelwerke Dresden in der früheren DDR, den Afghan War Day …“
Martin Heveling, dachte Heveling, du musst jetzt den Hörer auflegen, bevor dir der Schädel platzt.
„… und für die AWD Holding – das heißt Allgemeiner Wirtschaftsdienst – ein ehemaliges Finanzdienstleistungsunternehmen, das jetzt Swiss Life Select heißt. Ich mail Dir den Link! Dann …“, fuhr Erika fort.
„Danke!“, unterbrach sie Heveling, „Das ist klasse von dir! Sorry, ich muss jetzt zu einem Vernehmungstermin, nicht bös‘ sein!“
ARD, ABD, AWD … Sein Kopf brummte.
„Alles gut“, hörte er noch, bevor er Tschüß sagte. Dann nahm er seine zweite Aspirin.
Fünf Minuten später hatte er Infos über diesen AWD auf dem Bildschirm.
„Der Allgemeine Wirtschaftsdienst AWD Holding AG war einer der größten unabhängigen Finanzdienstleister Europas“, las er. „Heute firmiert das Unternehmen unter Swiss Life Select“.
Dieser „Finanzdienstleister“ war in den 80er Jahren von Carsten Maschmeyer gegründet worden, der lange Jahre Co-Chef des Unternehmens war, bis etwa 2009 seine Familie ihre Aktienbeteiligung an AWD an Swiss Life verkaufte und er ausschied. Eine Meldung vom 28.10.2012 lautete, der Name des Finanzberatungsunternehmens AWD sei laut „Spiegel“ wohl bald Geschichte. Die Firma solle Ende November eine Fusion mit der Deutschland-Niederlassung der Schweizer Muttergesellschaft Swiss Life eingehen und ihre „Finanzprodukte“ demnächst unter der Bezeichnung „Swiss Life Best Select“ vertreiben, behaupteten Insider gegenüber dem Nachrichtenmagazin. Das Unternehmen wolle das nicht kommentieren und eine Umbenennung sei „reine Spekulation. „Maschmeyers AWD könnte bald Geschichte sein. Ein Kampf gegen das schlechte Image?“, lautete da eine Schlagzeile, veröffentlicht am 28.10.2012 von Welt online. Der Unternehmenssitz war in Hannover. Vermittler für Finanzberatung, Vermittlung von Versicherungen, Kapitalanlagen und Finanzierungen sowie Immobilien für Privathaushalte und Unternehmen. Die heutige Swiss Life Select Deutschland ist aus der ehemaligen börsennotierten AWD hervorgegangen.
Finanzhaie, die auch Privathaushalte ausnehmen?, dachte Heveling.
Er scrollte den Mailtext durch und überflog ihn.
Erika war sehr fleißig gewesen. Sie hatte ihm weitere Recherche-Ergebnisse beigefügt. Sie meinte, sie habe etwas gefunden, wo schwere Vorwürfe gegen Alt-Bundeskanzler Schröder und diesen Finanzunternehmer Maschmeyer erhoben worden seien. Zu den Freunden des Unternehmensgründers, so hätten die Autoren Löer und Schröm eines Buches „Geld Macht Politik“ behauptet, zählten nämlich Altkanzler Gerhard Schröder und Ex-Bundespräsident Christian Wulff. Ein Nachrichtenmagazin muss wohl berichtet haben, das Buch enthülle das „Geben und Nehmen zwischen Wirtschaft und Politik“, basierend „auf Tausenden persönlichen, firmeneigenen und juristischen Dokumenten“. Es rücke die Maschmeyer-Beziehungen in die Nähe des Korruptionsverdachts. „Auch die Freundschaft zwischen Carsten Maschmeyer und Gerhard Schröder warf, so könnte man es formulieren, beiderseitig üppige Rendite ab“, hätten Löer und Schröm behauptet.
Der eine habe die Riesterrente geschaffen, an der die Finanzbranche und also auch Maschmeyers AWD sehr gut verdienen konnten, und der andere, also AWD-Chef Maschmeyer, habe sich revanchiert, indem er Schröder nach dessen Wahlniederlage 2005 für zwei Millionen Euro die Rechte an dessen Biografie abgekauft habe.
Heveling dachte nach. Schröder? War das nicht der mit diesem Song-Text „Gib mir mal ‚ne Flasche Bier!“, sein Kontakt zu Putin und sein Posten bei diesem russischen Konzern Gazprom?
Der Aufsichtsrat des Versicherungskonzerns Swiss Life habe jedenfalls die Namenstilgung beschlossen, stand da, denn der AWD sei durch eine Klagewelle von Kunden in die Schlagzeilen geraten. Swiss Life hoffe laut „Spiegel“, mit einem