sie spurlos verschwinden zu lassen, so wie ihre Freundin. Eine Tierkadaverbeseitigung oder ähnlich. Er würde sie ausfindig machen und beobachten, diese Tierpflegerin im Zoo. Er beschloss, sie bei ihrer Arbeit zu beobachten – am Besten bei den Raubtieren. Würden diese Fleischfresser für ihn nicht auch diese Mühlmann-Freundin beseitigen? Da war er jedenfalls ganz kreativ.
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Es war spezialisiert auf spurlose Beseitigungen.
Gequirlte Hundekacke!, dachte er, wer ein solches Miststück beseitigen kann, der schafft das auch mit zwei!
Münster ist ein beschauliches Örtchen. Eigentlich könnten die Menschen hier glücklich sein und bräuchten sich weder mit Suchtmitteln noch mit deprimierenden Gedanken zu plagen. Leider jedoch ist das zu kurz gedacht. In meiner Praxis lernte ich das schnell.
Ich hatte viele Patienten, die traurig, abhängig oder traumatisiert waren. Spiel-, Tabletten-, Alkohol-, Nikotin-, Sex- und Internetsüchte sind verbreiterter als man meint. Suchtmittel wecken Begierden, unerfüllbare Begierden machen traurig. So verbreiten sich auch Depressionen, wenn man nicht gelernt hat, mit unerfüllten Wünschen zu leben (Und wer kann sich schon alle Wünsche erfüllen? Gesunde Menschen lernen also, auch mit unerfüllten Wünschen zu leben). Menschen können an Süchten schwer erkranken, sterben oder sich das Leben nehmen, und immer hinterlassen sie dann trauernde Angehörige. Traumatisierte Menschen sind der zweite Großteil meiner Patientinnen und Patienten.
Als Martin Heveling damals seine Therapie begonnen hatte, lange vor seiner Not-OP, da hatte ich meine Praxis gerade eröffnet. Hans Haferkamp war zwei Jahre bei mir in Behandlung, und der Grund der psychotherapeutischen Behandlung waren Depressionen, deren Anfänge sich schon in erster Ehe gezeigt hatten. Und die Folgen der Scheidung, die wegen der Depressionen nicht ausbleiben konnte.
Da war zum Beispiel Ana, meine erste Patientin aus Münsters Kuhviertel (Münster ist Universitätsstadt, und wo Unis sind, sammeln sich Studentenkneipen. Diese Sammlung wird auf westfälisch „Kuhviertel“ genannt, oder auch kurz: Q/4). Sie wohnte dort in einer der vielen Gassen, in der sich die „Pinten“, Bier- und Studentenkneipen reihten.
Ana kam zu mir, als sie ihre Freundin verloren hatte. Sie war schwer traumatisiert: Ihre Freundin Livia, wie Ana 26 Jahre alt, war Opfer eines Mordes geworden, eines spektakulären Mordes, der sich im Kuhviertel ereignet hatte.
„Einfach abgestochen und entsorgt, wie ein Stück Müll!“, schluchzte Ana.
„Livia, meine liebe Livia!“
Ana hatte Livia sehr gemocht, ihre Jugendfreundin, deren Eltern mit Livia aus Brasilien nach Münster gezogen waren.
„Das ist schwer für sie!“, sagte ich.
„Er hat sie einfach abgestochen, in einen alten Teppich gerollt und auf einer Sackkarre durch die Innenstadt gefahren, um sie in einen Anhänger zu schmeißen und im Kanal zu entsorgen.“
Ana vergoss Tränen, und ich spürte, dass es für sie ein so großer Verlust war, als wäre sie selbst getötet worden. Schon als Kinder hatten sie nebeneinander gewohnt, hatten die Grundschule am Kuhviertel besucht, zusammen gespielt und später studiert. Livia hatte dann auf einem Heimflug nach Brasilien einen sechzig Jahre älteren Mann kennengelernt, auch ein Münsteraner. Sie fanden zusammen, heirateten, und trotz des hohen Alters des Mannes begann die Ehe glücklich. Dann aber wollte Livia nicht mehr: Sie hatte sich in einen gleichaltrigen Mann verliebt. Er wurde ihr Liebhaber – sie wollte ihren Mann verlassen. Sie fuhr vom Liebhaber per Taxi zurück in die Wohnung ihres Mannes im Kuhviertel. Danach wurde sie nie wieder gesehen – ihr Liebhaber erstattete am 27. Oktober eine Vermisstenanzeige.
„Mit einer Sackkarre, in einen Teppich gerollt?“, fragte ich.
„Ja, und dann hat er sie nach Ibbenbüren gefahren, mit Ketten beschwert und von einer Kanalbrücke geworfen! Meine Livia! Das kann man doch nicht machen!“
Der Sackkarrenmord!
Mich schauderte. Kalt lief es den Rücken herunter. Jetzt verstand ich. Sie sprach von der Realität und phantasierte nicht. Es hatte morgens in der Zeitung gestanden: Der Mörder hatte seine junge Frau im Streit erstochen. Die Leiche rollte er in einen Teppich, karrte sie durch die Innenstadt in einen PKW-Anhänger und fuhr weg. Und niemand in der Stadt hatte es bemerkt. Wahnsinn! Das war der Sackkarren-Mord, von dem mir Kommissar Heveling damals erzählt hatte – und die Freundin des Opfers saß vor mir.
„Wir hatten so schöne Jahre!“
Ana weinte noch immer. Ich reichte ihr ein Taschentuch.
Als sie ausgeweint hatte, starrte sie in die Leere. Sie trauerte nicht nur, sie war schwer traumatisiert. Sie fühlte sich selbst wie abgetötet, und sie würde noch viel Zeit brauchen, um sich zu fangen und wieder zu sich zu finden. Ihre Verbundenheit mit Livia, der jungen Brasilianerin, war sehr groß.
Ihr Trauma ließ sich heilen. Viele Monate später lernte sie in der Therapie, mit ihrer Trauer, ihrem Verlust weiterzuleben. Auch die Demütigung, das Leiden an der Brutalität der Tat, lernte sie zu tragen. Und das, ohne den Schmerz im Alkohol zu ertränken (was eine Zeit lang Thema in ihrer Therapie war). Meditative Teezubereitungs-Rituale helfen da manchmal eher als Wein und Bier. Anas Lieblingssorte hieß „Sencha“, der grasgrüne Tee aus Japan.
Nach Ana kam Hans damals zur Therapiesitzung. Ich musste umschalten, nicht nur auf seine Lieblingssorte Ostfriesentee, und ich hatte erhebliche Schwierigkeiten, Anas Erzählung zu verarbeiten, während Hans nun von seiner Traurigkeit erzählte. Sie kam mir im Vergleich dazu so unbegründet vor – im Vergleich zu alledem, was Ana betrauerte. Wir tranken also erst einmal in Ruhe fünf Minuten lang Ostfriesentee, dann aber begann die Sitzung.
Hans erzählte mir etwas von seiner Sehnsucht nach körperlicher Nähe. Und von Streitereien, die er mal gehabt hatte, weil er nie über seine Wünsche reden mochte.
Jammern auf hohem Niveau? Als Therapeut durfte ich nicht so denken. Doch trotzdem musste ich an Livias Mörder denken, als ich versuchte, Hans zuzuhören: Auch er hatte körperliche Sehnsüchte gehabt, in Livia einen Traum von Jugend besitzen wollen. Und als sein Wunsch unerfüllbar wurde (Livia hatte einen jungen Liebhaber gefunden und wollte die Scheidung), da stach er einfach zu.
Wäre er doch zuvor in Therapie gegangen und hätte über seine unerfüllten Wünsche geredet!
Kommissar Heveling saß an diesem Nachmittag über einigen Akten. Im Kommissariat war es ausnahmsweise recht ruhig. Die Kollegen waren unterwegs zu einem Einsatz im Kuhviertel, und er hatte endlich einen Moment Ruhe für einen starken Kaffee, seinen Da-steht-der-Löffel-ja-von-alleine-Kaffee. Er sah aus dem Fenster auf den Niedersachsenring. Der Verkehr quälte sich über die Straße. Die Sonne lugte durch einige Baumwipfel und von der Anrichte neben dem Fenster lockte ihn ein aromatisch riechendes Kaffeepulver, eine neu angebrochene Packung. Er nahm einen Filter, steckte ihn in die Maschine und griff den Plastiklöffel, um das Pulver in den Filter zu tun.
Er hatte gerade den ersten Löffel Pulver aus der Packung genommen, da schrillte das Telefon. Kommissar Heveling erschrak und ihm fiel etwas Kaffeepulver auf die Akten.
„Heveling“, meldete er sich am Hörer.
„Meier-zu-Brokenhoff. Kommissar Heveling, bitte kommen sie zu mir rüber. Es eilt.“
Dann tütete es – und Heveling schloss daraus, dass sein Chef wieder eingehängt hatte. Und dass Arbeit anlag.
Er ging den Weg zum Chefzimmer. Ihm war mulmig zumute.
„Heveling, kommen sie rein!“, rief Meier-zu-Brokenhoff wie immer durch die noch geschlossene Tür seiner Amtsstube, als er ihn kommen hörte.
„Der Mord