Michael Wächter

Gulligold - Serienmorde in Münster


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Sorry, wir sind da! Ich muss jetzt rechts abbiegen. Zum Chef!“, unterbrach ihn Heveling.

      Der Weg zu Meier-zu-Brokenhoff war immer ein steiniger Weg, obwohl der Aufzug sanft hochfuhr und der Linoleumboden im Flur des Kommissariats frisch gewischt und gebohnert war. Es war ein steiniger Weg für Heveling, und ihm war, als ginge er barfuß durch ein ausgetrocknetes Bachbett voll kleiner, spitzer Kieselsteinchen. Diese pieksten und stachen an den Fußsohlen, und als Heveling dann an der Tür von Meier-zu-Brokenhoff geklopft hatte, da hatte er den Eindruck, als sei der Bach eiskalten Gebirgswassers in Form einer Sturzflut das Bachbett hinab gekommen, das er mühsam erstiegen war.

      „Heveling, kommen sie rein!“, rief Meier-zu-Brokenhoff barsch durch die noch geschlossene Tür seiner Amtsstube. „Was haben sie inzwischen an Ergebnissen?“

      „Guten Morgen, Chef!“, versuchte Martin ihn beim Eintreten anzulächeln, doch Meier-zu-Brokenhoffs versteinertes Gesicht ließ sein Lächeln erfrieren.

      „Guten Morgen, Heveling. Gibt es neue Ergebnisse?“, hakte Meier-zu-Brokenhoff nach.

      „Chef, ich …“, wollte Martin beginnen, doch der nicht gerade schlanke Meier-zu-Brokenhoff stand aus seinem Sessel auf, ging auf Kriminalkommissar Heveling zu und nahm ihm den Stapel Ermittlungsakten ab.

      „Zeigen sie mal!“, schnaufte er, begab sich mit seiner ganzen Leibesfülle und dem Stapel Akten zum benachbarten, leeren Schreibtisch und schien beides krachend auf der Tischplatte abzuladen.

      „Gern…“, konnte Martin Heveling noch nachschieben, doch Meier-zu-Brokenhoff griff schon die erste Akte heraus und nahm unter lautem Vorlesen die anhaftende Notiz zur Kenntnis.

      „Vermisstenanzeige Mühlmann“, murmelte er, „ABD-Angestellte, vermisst, Spuren erfolglos geprüft, Suche einstellen.“

      Kriminalhauptkommissar Meier-zu-Brokenhoff drehte sich um, sah Heveling an und schien noch förmlicher, noch dienstlicher zu werden, als er es ohnehin schon war.

      „Herr Heveling! Meine Notiz vor ihrer OP war eine ironische Frage! Eine rhetorische Frage, ob sie die Suche wirklich tatsächlich vorläufig einstellen wollen – keine Dienstanweisung, den Fall zu den Akten zu nehmen! Ich kann der Staatsanwaltschaft doch nicht melden, dass wir dieses Jahr vier Mord- und Vermisstenfälle haben, die von ihnen erfolglos bearbeitet und nun eingestellt worden sind!“

      „Chef, das ist doch nur ein Vermissten-, kein Mordfall. Und die Vermisstenmeldung ist nun über neun Wochen alt! Die Vermisste kann inzwischen schon über alle Berge sein! Dem Ehemann entlaufen, ein neues Leben in Brasilien begonnen oder im Lotto gewonnen haben! Chef, es gibt nicht einmal Hinweise, dass die Frau tot oder gar ermordet worden ist – wir sind ein Kriminalkommissariat, kein Vermisstensuchdienst vom Roten Kreuz!“

      Meier-zu-Brokenhoff lief rot an. Martin sah seine Halsschlagader anschwellend und bereute es schon, Meier-zu-Brokenhoff diesen kamikazehaften Satz entgegnet zu haben.

      „Herr Heveling!“ Meier-zu-Brokenhoff schnappte nach Luft, dann ließ er den Dampf wieder ab. „Herr Heveling, sie sind jetzt seit neun Jahren in meinem Kommissariat, und sie meinen, sie können nun an meiner Stelle definieren, was dessen Aufgaben sind und was nicht?“

      „Nein, ich …“

      „Nein, ich sage ihnen jetzt was!“, brüllte Meier-zu-Brokenhoff. „Ich weiß nämlich, was unsere Aufgaben sind, und ich weise sie an, diesen Fall noch mal aufzurollen. Wir müssen ein Verbrechen ausschließen können oder den Fall als Mordfall der Staatsanwaltschaft melden – MIT Täter! Wer sagt uns denn, dass das keine Beziehungstat war? Eifersucht, Rachsucht, Beziehungssucht – diese Beziehungstaten passieren doch ständig! Und SIE werden jetzt erneut die Ereignisse um diesen Fall aufrollen! Alle Ereignisse! Sie werden mit denen reden, Heveling, die die Vermisstenanzeige aufgegeben haben. Sie werden Angehörige aufsuchen. Sie werden recherchieren, alles, und sich von diesem Arbeitgeber „ABD“ Daten über ihre Tätigkeitsbereiche geben lassen. Sie werden nach Motiven suchen, die ein eventueller Täter gehabt haben könnte. Und sie werden die Personenbeschreibung und –daten erneut an alle Gerichtsmediziner, Krankenhäuser, Melde- und Ordnungsämter der Republik verschicken, wenn es sein muss, um Hinweise darauf zu bekommen, ob inzwischen nicht doch noch irgendwo eine Frau aufgetaucht ist, auf die die Beschreibung der Vermissten Mühlmann passt!“

      „Chef, ich …“

      „Das war eine dienstliche Anweisung, Heveling! Wenn es ein Mord war will ich Aufklärung! Mord verjährt nicht! Auch nicht nach nur neun Wochen! Und, Heveling, Gnade ihnen Gott, dass ich nicht noch entsprechende Vermerke auch auf die anderen sechs Akten setze oder gar eine Abmahnung hinterherschicke, weil sie meine Dienstanweisungen als Anfragen zu einer etwaigen, vorläufigen Einstellung unerledigter Verfahren auffassen. Herr Heveling! Haben sie das verstanden?“

      „Jawohl, Herr Meier-zu-Brokenhoff!“, antwortete Martin in dem Ton, den er vor seinem Polizeidienst bei der Bundeswehr kennengelernt hatte, und stand unwillkürlich stramm.

      „Das freut mich, Heveling!“, stellte Meier-zu-Brokenhoff beruhigt fest. „Ach ja, und dann der Täterprofil-Abgleich! In Sachen möglicher Mordmotive bitten sie unseren psychologischen Gutachter um begleitende Akteneinsicht! Wie hieß der damals noch gleich?“

      „Tenfelde, Herr Meier-zu-Brokenhoff, Dr. Tenfelde, psychotherapeutische Praxis Tenfelde am Aasee.“

      „Tenfelde, richtig, Heveling! Sie rufen ihn am Besten gleich an.“

      „Klar, Chef!“, sagte Martin Heveling, nahm die Akten wieder an sich und verließ mit einem geschäftig-beschwichtigenden Abschiedsgruß den Käfig des Löwen.

      Er würde jetzt einen starken Kaffee brauchen, seinen Da-steht-der-Löffel-ja-von-alleine-Kaffee. Und dann würde er Tenfeldes Nummer wählen.

       Das war der Moment, in dem ich damals mit Kommissar Heveling in Kontakt kam. Und mein Fall Hans Haferkamp begann.

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      Er ging an Land, als die Touristen die Fähre betraten. Genauer gesagt: Er betrat eine Insel in Ostfriesland, als die Touristen mit der Fähre von dort aus wieder aufs Festland zurück wollten, in ihre Pensionen und Hotels an den Sielen, in Bensersiel, Dorumer Siel und Carolinensiel. Er nahm die Bimmelbahn vom Hafen zum Örtchen, in dem er ein Zimmer bekommen hatte. Sein Vermieter hatte einige Ferienwohnungen dort, er war der Inselarzt von Langeoog. Er hatte sich dem Arzt als Wanderarbeiter vorgestellt, der nun eine Saison am Hafen jobbe (was er auch tatsächlich vorhatte).

      „Jau, mokt wi!“, hatte ihm der Doc geantwortet, „Hier ist ihr Schlüssel, und die Miete pünktlich jeden Monatsersten aufs Konto!“

      „Werde ich einzahlen!“, versprach er dem Doc, „Jedes Mal, wenn ich die Lohntüte am Monatsersten bekomme!“

      „Gut!“, erwiderte der Doc, lächelte erst ihn an und dann das Kunststoff-Skelett in seinem Behandlungszimmer, in dem er den Wanderarbeiter empfangen hatte.

      Gequirlte Hundekacke, dachte er, was lächelt der Doc dieses Gerippe immer an? Kopfschuss?

      Der Arzt sah ihn an. Er bemerkte seine Verwunderung.

      Schließlich erhob er sich, um ihn zu verabschieden.

      „Also dann!“, sagte der Doc, streckte ihm eine Hand entgegen und begleitete ich zur Tür, „Machen Sie’s gut!“

      „Tschüß, Herr Doktor!“, verabschiedete er sich vom Arzt, schüttelte ihm die Hand, nahm seinen Seesack über die Schulter und verließ die Arztpraxis, vorbei an den nett lächelnden Damen an der Rezeption.

      Dumme Puten!, dachte er und ging die Hauptstraße des Dorfes entlang. Jetzt, nach Abreise der Tagestouristen, war ein ganzes Stück ruhiger geworden. Er lief die Strecke bis zur Hotelpension Beachotel am Lilly-Marleen-Brunnen zu Fuß. Hier wollte er um einen Zweitjob als Aushilfe fragen, als Küchenhilfe oder Aushilfskellner, neben seinem Job am Hafen. Dann bog er ab in die Seitenstraße mit den Ferienwohnungen, das Zimmer des Docs beziehen.

      Seine Welt war in Ordnung. Alles lief wie am