Michael Wächter

Gulligold - Serienmorde in Münster


Скачать книгу

sich die lang aufgestauten Kummerberge von der Seele, und sein damals hastig angetrunkener Tee wurde langsam kalt. Mir schien es fast, als müsse er erst einmal zu sich kommen, während er erzählte – fast so, als habe seine Seele einen Notfall gehabt, so dass operativ eingegriffen werden muss.

      

      Als Martin auf sein Krankenzimmer geschoben wurde, blieb er liegen, schloss die Augen und döste vor sich hin. Halsschmerzen hatte keine. Überhaupt: Er war einfach nur ein wenig müde (vom Beruhigungsmittel), und er hatte es hinter sich, dachte er.

      Eine Schwester kam und sah nach ihm. Dann döste er weiter. Der Anästhesist und der Chirurg kamen nach ihm, erkundigten sich nach seinem Befinden, und dann durfte er wieder weiterdösen. Dann bekam er etwas Wasser angeboten, eine Schmerztablette (Wofür?, dachte er noch) und er döste erneut.

      Nach einiger Zeit musste er aufs Klo. „Stuhldrang“ meldete er der herbei geklingelten Schwester, und wollte sich erheben.

      „Moment, sie hängen noch am Tropf!“, sagte diese. „Und ich muss erst dem Arzt Bescheid sagen!“, ergänzte sie.

      „Arzt? Ich ... – ach ja, die OP!“, sagte Martin und legte sich noch einmal hin.

      Der Art war eine junge Ärztin. Es hatte gerade einen Schichtwechsel gegeben. „Moment“, sagte sie, „ich schaue mal in ihre Akte!“. Sie überflog Zettel in einem Hefter, blickte wieder auf und sagte: „Sie haben noch einen Tampon hinten drin, den müssen wir erst ziehen!“

      „Einen Tampon? Ich bin doch keine Frau, verdammt!“

      „Ja, eine Saugbinde, die das Blut aufnimmt!“

      Es half nichts: Er hatte Stuhldrang. Er erhob sich, ging langsam in die Nasszelle des Krankenzimmers, den Tropf am Gestell mitschiebend, und bückte sich. Die Ärztin zog. Martin schrie einmal auf. Dann ließ sie ihn sich hinsetzen und lehnte die Tür an.

      „Kommen sie klar?“, fragte sie kurz danach.

      „Ja“, sagte Martin und drückte vorsichtig, obwohl nur ein wenig Blut kam und keinerlei Stuhlgang. Und als er etwas kräftiger drückte, sackte er, sich vor Schmerzen krümmend, auf dem Fliesenboden zusammen. Ein Tsunami von Schmerzenswellen überrollte seinen Körper. Er jammerte und schrie, rang nach Luft und kauerte auf dem Boden.

      „So schlimm?“, sagte die junge Ärztin. „Dann müssen wir ihnen noch etwas geben – ihre Betäubung lässt nach.

      Sie griff zu einer Spritze, steckte die Injektionsöffnung in den Zugang am Tropf und drückte die Flüssigkeit durch den Zugang in Martins Armvene.

      Nach zwei, drei Atemzügen war der Schmerz weg. Martin staunte über die Wirksamkeit des Betäubungsmittels. Er fühlte unendlich große Dankbarkeit für die Erlösung von den bisher schlimmsten Unterleibsschmerzen seines Lebens. Die Ärztin kam ihm fast wie ein Engel vor und er schwebte mit ihr durch irgendwelche Wolken und träumte Träume, wie sie vermutlich wohl nur von Morphinderivaten hervorgerufen werden können.

      Martin erholte sich. Er lag auf dem Krankenbett, las Zeitungen, empfing Telefonate von seinen Kollegen von der Kripo und Besuch von Ina und den Kindern. Die schrecklich schmerzhaften Momente, wenn er zur Toilette musste, wurden nach und nach auch immer weniger schmerzhaft. Bald konnte ihm der Engel sogar den Tropf abnehmen und übliche Schmerztabletten, drei Mal täglich, genügten.

      „Wie geht es ihnen?“, fragte sein Chirurg, der auf Visite vorbeikam.

      „Gut“, sagte Hans, „bis auf Schmerzen beim Stuhlgang.“

      „Das ist verständlich nach so einem Eingriff!“, entgegnete sein Operateur. „Sie hatten inkarzinierte Hämorrhoiden, die wir operativ eliminiert haben. Aber ihre Defäkation ist wieder initiiert und refunktionalisiert!“

      Hans schmunzelte. „Wozu dieses Fachchinesisch?“, dachte er, „Gut dass ich weiß, dass das heißt: Gewebe am Darmausgang entfernt, Stuhlgang wieder möglich und in Gang kommend.“

      Schließlich ging das Ärzteteam wieder. Hans lehnte sich zurück ins Kissen. Sein Handy vibrierte. Das Kommissariat war dran. Meier-zu-Brokenhoff ersehnte wohl seine Rückkehr.

      

      Bernd Berendsen war wieder auf Tour. Der Abend mit den beiden Studentinnen war noch lang geworden – junge „Dinger“, die von einem Leben als Starreporterinnen träumten. Wie naiv und idealistisch die doch alles sahen! Doch sie sahen auch toll aus, besonders die Blonde! Aber sie war pfiffig, und Bernd konnte sich gut vorstellen, dass sie nach ihrem Praktikum von der Bildzeitung übernommen werden würde.

      Inga, die Rothaarige, war anders. Sie war keine Jägerin auf der Jagd nach Beute, Infos und Stories. Sie war der Typ Analytikerin. Berendsen war sich sicher, dass sie eher in der Forschung stranden würde, als Metallurgin oder Ingenieurin. Aber diese Lilly …

      Sein Kopf meldete sich. Jetzt brauchte er eine Aspirin. Oder einen Grog. Und eine steife Brise, wie es sie nur im Norden gab. Er musste wieder auf die Autobahn.

      Aspirin. Nicht Grog. Bevor es auf die Autobahn ging, wollte er lieber einen klaren Kopf haben.

       Als Hans damals das erste Mal zu mir gekommen war, fragte ich mich: „Wen habe ich da vor mir sitzen?“. Mein Blick ging vom kalt gewordenen Earl-Grey-Tee hinüber zu ihm. Er war ein stattlich gebauter, großer Mann mit freundlichem Lächeln. Trotz seiner Größe ging er gebeugt, zog die Schultern vor und senkte das Haupt. Er wohnte in Hiltrup. Von Beruf war er Physik-Lehrer.

      „Ich bin wie ein verdurstendes Mauerblümchen, das im Schatten vegetiert und nach Wasser und Sonne lechzt“, hat er sich in seiner Erzählung kurz beschrieben. Selbstmitleid? Depressionen? Erin Trauma? Ich wollte ihm helfen, wieder die Augen zu öffnen, um die Sonne der Freude im Leben zu sehen, und die Wurzeln wieder zu beleben, um das Durst stillende, klare Bergwasser aufsaugen zu können, dass seine verdurstende Seele vermisste.

      Hans Haferkamp schrieb ich damals auf seine Patientenakte. Seine Entwicklung, sein Werdegang und seine Therapie bis hin zu einem neuen, glücklich-befreiten Leben waren so ungewöhnlich, dass er mich bewegte und immer mehr fesselte. Daher entschloss ich mich später auch, dieses Buch zu schreiben – die Erzählung davon, wie Patient Hans Haferkamp nach einer Scheidung ein neues Leben begonnen hat und die Verstrickung seiner Seele in das depressive Dunkel überwand. Fast ganz ohne meine Hilfe. (Denn Sie wissen ja vielleicht: Dass sich ein Mensch an seinem eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht, in den er gefallen ist, das ist physisch und physikalisch unmöglich. Psychisch jedoch gibt es da Möglichkeiten: Einen „Baron-von-Münchhausen-Effekt“ in Gang zu setzen, denke ich, das wäre in der Verhaltenstherapie ein durchaus lohnenswertes Unterfangen, wenn es um Depressionskrankheiten geht. Man muss mit dem Patienten halt nur den Arm trainieren, der den Zopf greifen muss, um dem trüben Sumpf zu entkommen! Beim Patienten wird so eine Selbstheilung möglich – eine Operation, bei dem der Therapeut mit in den Sumpf fassen muss, ist somit überflüssig. Den „Sumpf“ überlasse ich daher lieber dem Kommissar, den ich damals schließlich mitbehandeln musste, einige Monate nachdem er auf der Hochzeit seines Freundes „aus dem Verkehr gezogen“ wurde).

      

      Kriminalkommissar Heveling war wieder im Dienst. Als er den Stapel alter Ermittlungsakten durchgearbeitet hatte, machte er sich auf den Weg zu Meier-zu-Brokenhoff. Auf dem Gang traf er Simon. Kollege Simon war immer guter Laune. Heveling mochte seine aufmunternde Art – gerade jetzt, wo er zum Chef musste. Simon war da ein guter Weggefährte. Wie der Seelsorger auf dem letzten Gang mit dem Delinquenten zum Henker.

      „Hey Martin!“, strahlte er von weitem. „Auf dem Weg zum Chef? Kopf hoch! Kennste den? Sagt der Kollege von der Verkehrskontrolle: Sie sind gerade mit 65 durch eine 30’er-Zone gefahren! Antwortet die Rentnerin: Aber Herr Wachtmeister! Sie Charmeur! Ich bin doch schon 81!“.

      „Geil!“, schmunzelte Heveling.

      „Oder den? Sagt der Kollege von der Autobahnpolizei im OP: Ich habe heute einen Geisterfahrer getroffen. Er war sehr entgegenkommend!“