Michael Wächter

Gulligold - Serienmorde in Münster


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eh noch mal kurz für Männer!“

      Martin ging noch mal auf das WC, setzte sich und drückte. Ina zog sich noch mal um, oben im Schlafzimmer. Die Kinder warteten schon angeschnallt im Auto. Martin hatte seit einiger Zeit das Problem, dass er wie bei einer Verstopfung lange drücken musste – doch es kam nichts. Seit einigen Tagen kamen sogar einige Tröpfchen Blut. Doch Martin überging es. Und er drückte weiter.

      „Martin, bist du soweit?“ Ina kam im Blauen die Treppe hinab, streifte ihre Jacke über und wollte zu den Kindern ins Auto.

      „Ja, ich komme gleich!“, rief Martin – und drückte noch fester.

      Ina ging hinaus, die Treppe durch den Vorgarten hinab und ins Auto. Sie warteten.

      „Kommst Du?“, rief Ina durch die wieder geöffnete Wagentür hoch.

      „Ja!“, rief Martin zurück, doch er hatte das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Er erhob sich, drehte sich so, dass er sich hinten sehen konnte im sich spiegelnden Deckel des WC-Rollen-Halters, und er erschrak. Er sah etwas Hautfarbenes, so groß wie eine Apfelsine, und es saß an seinem Darmausgang. Martin bekam Panik und war völlig verwirrt: Es sah fast aus wie bei seiner Ina, als sie damals ihr Kind gebar und das Köpfchen sich durch den Ausgang schob.

      „Das gibt es doch nicht!“, dachte Martin verwirrt. „Was mach’ ich denn jetzt bloß?“.

      Drücken half nicht, und Zeit war auch nicht mehr. Er schob es zurück, so gut es ging, nahm ein weiches Kissen mit, damit er breitbeinig und weich sitzen konnte (denn er musste ja Auto fahren!), und er ging ins Auto, ließ den Motor an und fuhr die Weseler Straße hinunter. Er kam nur bis zum Aasee, zum Parkplatz des Segelclubs an der Himmelreichallee.

      „Ich hab ein Problem“, sagte er Ina und erzählte es ihr. „Kannst Du denn fahren?“, fragte sie besorgt. „Jaja“, sagte er, „ich krieg das schon hin!“ – denn Beifahrer sein wollte er nicht. Dort konnte er nicht breitbeinig sitzen. Kaum angekommen, hasteten sie durch den botanischen Garten. Es ging jedoch nicht sofort zur Orangerie, in der die Trauung stattfand (standesamtlich – denn Walters Braut war früher schon einmal verheiratet gewesen, und da sagt die katholische Kirche in solchen Fällen Nein zu einem Ja der Brautleute). Es ging erneut zu einer Toilette.

      „Nichts geht!“, stellte Martin hilflos fest, zog sich wieder an und ging mit den Kindern vor die Tür.

      Es war eine routinierte Trauzeremonie, die der Standesbeamte da abhielt. Hans stand mit den Jungen vor der Tür. Drinnen hatte die Zeremonie schon begonnen und es gab keine Sitzplätze mehr. Auch Ina stand nun in der Tür.

      Sektempfang, Gang zum Schlossgartencafé, Hochzeitssuppe und westfälisches Festessen. Wieder ging Martin zur Toilette. Wieder erfolglos Als dann nach der Hochzeitssuppe der Hauptgang serviert wurde, konnte er nicht einmal mehr auf dem Polsterstuhl sitzen. Er sagte es Ina.

      Ina handelte. Sie rief per Handy einen Darmarzt an. Sie machte einen Notfalltermin. Sie leitete den vorzeitigen Abschied von der Festtafel ein, packte die Kinder ins Auto und Martin fuhr auf einem weichen Kissen breitbeinig zur nächstgelegenen Arztpraxis. Ein Blick, ein Telefonat – und der Arzt teilte ihm mit, dass operiert werden müsse, sofort. Martinspürte das schon. Er war erleichtert. Im Clemenshospital, gleich am Kappenberger Damm gelegen, kam er in die Notaufnahme. Er konnte sich gerade noch ein Hemd anziehen. Für die OP.

      „Ich kläre sie jetzt über die Risiken der OP auf. Sie müssten mir das bitte hier unterschreiben!“, sagte der Arzt.

      „Ja, Herr Doktor“, stöhnte Martin brav. „Danke, dass sie mich jetzt davon befreien!“

      Nach der Schnell-Belehrung schoben sie ihn in den Vorbereitungsraum.

      „Und ich kläre sie jetzt über die Narkoserisiken auf!“, sagte der Anästhesist und legte los. „Und nach der OP werden sie noch Halsschmerzen vom Tubus haben, eventuell Stimmlosigkeit und Reizung der Stimmbänder“, endete er.

      „Vom Intubieren?“, fragte Martin ängstlich zitternd. „Gibt es denn keine andere Möglichkeit?“

      „Doch“. Der Anästhesist zeigte ein breites Lächeln. „Die Rückenmarksbetäubung.“. Nun zählte er auch hier die Risiken auf. „… und im schlimmsten Fall könnten sie Querschnittsgelähmt sein“, endete er, „wenn das Rückenmark durch die Punktion getroffen wird.“

      Martin dachte an seine Frau, die eine Rückenmarkpunktion zur Betäubung vor der Geburt hatte machen lassen. An die Routine, die eine Klinik mit vielen Dutzend Geburten und Hunderten von OPs pro Woche haben musste.

      „Was würden sie an meiner Stelle machen?“, fragte er den Anästhesisten verwirrt.

      „Ich würde in jedem Fall die Rückenmarkpunktion wählen“, sagte dieser. „Sie haben dann nicht die Hals- und Kehlkopfschmerzen nach der Operation, und auch insgesamt hält die Betäubung länger an Und die Schmerzen kommen nicht so schnell und heftig wieder.“

      Martin wählte die Rückenmarkspritze. Er musste sich dazu noch mal hinsetzen musste. Der Anästhesist plauderte mit ihm weiter, als er ihn in den OP schob, und setzte die Unterhaltung auch noch fort, als ein grelles Licht anging und sein Unterleib mit Tüchern verdeckt wurde. Von dem, was die anderen Ärzte und Schwestern dann hinter den Tüchern machten, merkte Martin nichts mehr.

      

       Zugegeben, ich weiß: Es ist ungewöhnlich, einen Kriminalroman mit einem Mordfall UND mit einer Stuhlgangs-Geschichte zu beginnen. Aber so war es damals: Genau so ungewöhnlich wie der Anfang mit Hevelings Not-OP ist ja auch das Verbrechen. Und der Mensch, von dem ich diese Geschichte erzähle.

       Mein Name ist Titus Tim Tenfelde. Eigentlich bin ich auch nur ein ganz durchschnittlicher Psychotherapeut in einer durchschnittlichen, westfälischen Kleinstadt – der ehemaligen „Provinzialhauptstadt“ von Westfalen, nach der das schöne, grüne Münsterland benannt wurde.

       Ich betreue Traumapatienten, Opfer von Gewalttaten und ihre Angehörigen. Und ich hätte neben dem Mordfall sicher auch nichts Welt bewegendes zu berichten gehabt, wäre da eben nicht dieser ganz ungewöhnliche Patient gewesen. Er hatte etwas an sich, was mich faszinierte, je mehr ich ihn kennenlernte. Und so wurde er immer mehr zu meinem ganz persönlichen „Fall“, zu meinem ganz eigenen „Problem“, dieser Patient, den ich unbedingt wieder glücklich und gesund „kriegen“ wollte. Denn je mehr ich ihn kennenlernte, umso mehr spürte ich: Er hatte etwas für ihn Schlimmes erlebt und Wut im Bauch. Aber es hatte ihn auch heruntergezogen, seelisch. Und er war mir selbst ähnlich, charakterlich – und umso drängender wurde daher auch die Frage: Wieso ist er depressiv geworden und ich nicht? Und konnte ich ihm helfen, seine krankhafte Traurigkeit abzulegen, ihn wieder gesund und glücklich zu machen? Konnte er sich vielleicht sogar irgendwann irgendwie selbst aus dem Sumpf ziehen – ein therapeutisch initiierter Baron-von-Münchhausen-Effekt?

       Ich weiß daher noch genau, wie unsere erste Begegnung war. Er kam damals zu mir in die Praxis, als ich gerade über einem Tee saß (denn ich liebe Tees!). Ich legte die Gutachterberichte für die Krankenkassen und die Staatsanwaltschaft beiseite, stellte meine Tasse Earl-Grey-Tee beiseite und sah ihn an.

      „Guten Tag, Herr Tenfelde“, sagte er mit fast schluchzender Stimme, „Ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar. Sie müssen mir helfen, ich weiß nicht mehr weiter, alles läuft schief!“

       Er war völlig aufgewühlt. Sein Kopf war hochrot angelaufen, er schwitzte und keuchte. Er weinte und wirkte wie ein hilfloses Kind, obwohl er ein gestandenes Mannsbild war.

       Ich beruhigte ihn.

      „Jetzt setzen sie sich erst mal!“, sagte ich langsam. „Möchten Sie einen Kaffee?“

      „Lieber Tee“, entgegnete er zu meiner Überraschung, „mit Milch und Süßstoff. Herr Tenfelde, ich komme mit meinem Leben nicht mehr klar“, wiederholte er, als ich nach einem zweiten Teesieb suchte, „ich hab‘ zwei Menschen weh getan und ich