Gesa Walkhoff

Kleinstadt-Hyänen


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das sie vor einigen Minuten geführt hat. Sie erinnert sich an die Stimme des Reporters vom örtlichen Käseblatt, die vor Bosheit und geheucheltem Verständnis nur so triefte, als er ihr auseinandersetzte, dass er es den Lesern der Zeitung schuldig sei, sie über die Wahrheit aufzuklären. Dabei dürfe er selbstverständlich keine Rücksicht auf etwaige persönliche Befindlichkeiten nehmen. Schließlich sei es die vornehmste Aufgabe der Presse, als Kontrollin-stanz über das politische Geschehen zu wachen. Nicht umsonst würde man sie auch als „vierte Gewalt“ im Staat bezeichnen, und nur unter ganz, ganz, ganz besonderen Umständen sei überhaupt denkbar, dass er die Gifhorner Öffentlichkeit im Unklaren über die Vergehen der Bürgermeisterin lasse. Er könne so etwas eigentlich nur dann mit seinem Gewissen als rechtschaffener Bürger vereinbaren, wenn sie ihm verspräche, ihn bei seiner Kandidatur für den Stadtrat zu unterstützen – nur zum Vorteil der Stadt und ihrer Bürger selbstverständlich. Wenn mit ihm als Stadtratsmitglied Ehrlichkeit, Anstand und Transparenz in Gifhorn zu neuer Blüte gelangen würden, könnte er es im Gegenzug eventuell in Betracht ziehen, von einer Enthüllung ihres „Treibens“, wie er es nannte, abzusehen und so weiter und so fort. Julia realisiert, wie sich ihr Herzschlag erneut beschleunigt, als sie an den unerträglich selbstgefälligen Vortrag des Anrufers denkt. „Von dieser Schabe in Menschengestalt werde ich mir meine Karriere nicht ruinieren lassen“, knurrt sie.

      „Von wem sprichst du eigentlich?“, fragt ihre Mutter.

      „Lars Kotzlowski“, presst Julia zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

      „Koslowski? Der kleine Schmierfink vom Ise-Boten?“ Julias Mutter stöhnt auf. „Ich wusste immer, dass aus dem nichts rechtes werden würde. Warum ausgerechnet der Reporter wurde, habe ich nie verstanden. Im Aufsatz schreiben war er völlig unbegabt, und ich finde, das merkt man seinen Artikeln heute noch an.“

      „Hast du den etwa auch unterrichtet?“, fragt Julia entsetzt.

      „Ich konnte mir meine Schüler nicht aussuchen, auch wenn ich das manches Mal bedauert habe“, kontert ihre Mutter trocken. „Ja, er war einer meiner Schutzbefohlenen in der Grundschule. Einer der wenigen, die ich nicht mochte, weil er damals schon heimtückisch war. Wobei man fast noch Verständnis für ihn haben musste, denn dass er so missraten war, ist sicherlich auch den schwierigen Verhältnissen zuzuschreiben, aus denen er kam. Sein Vater war Jurist und seine Mutter saß im niedersächsischen Landtag. Grässliche Leute! Mischten sich in alles ein, hatten von nichts eine Ahnung und …“

      „Schon gut, Mutter“, unterbricht Julia sie. Momentan fehlen ihr die Nerven dafür, sich Anekdoten aus dem früheren Schulalltag ihrer Mutter anzuhören. „Ich habe leider gleich schon den nächsten Termin und muss jetzt Schluss machen.“

      „Was wirst du tun?“, fragt Dorothea dennoch.

      „Das weiß ich noch nicht“, antwortet Julia nachdenklich. „Vermutlich werde ich Kotzlowski erst mal nach allen Regeln der Kunst vermöbeln und dann weitersehen.“

      „Eine ordentliche Tracht Prügel zur rechten Zeit hätte ihm in seiner Kindheit bestimmt nicht geschadet. Ich war immer dagegen, die Prügelstrafe komplett abzuschaffen – ganz besonders in der Schule. Man sieht ja, was dabei herauskommt! Allerdings befürchte ich, dass es deiner Karriere ebenfalls schaden würde, wenn du nachholst, was seine pflichtvergessenen Eltern versäumt haben“, gibt Dorothea zu bedenken. Sie überlegt einen Moment, dann ändert sich ihr Ton. Mit eindringlicher Stimme fügt sie hinzu: „Im Ernst, Julia, ich habe mir große Mühe gegeben, dich zu einem Menschen zu erziehen, der aufrecht durchs Leben geht. Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, reinen Tisch zu machen?“

      „Damit dieser Schreiberling sich an die Brust heften kann, die Bürgermeisterin Gifhorns geteert und gefedert aus dem Rathaus gejagt zu haben? Ich bitte dich!“, begehrt Julia auf.

      „Teeren und Federn tat man vorwiegend im wilden Westen des vorletzten Jahrhunderts. In Deutschland ist das nie richtig in Mode gekommen“, korrigiert ihre Mutter sie. „‘Mit Schimpf und Schande aus dem Amt jagen‘ trifft es eher, und damit muss man als Lokalpolitiker heutzutage doch wohl klarkommen, oder?“

      Julia rollt die Augen und schüttelt den Kopf über die kleinliche Berichtigung ihrer Formulierung durch ihre Gesprächspartnerin. „Dann lass es mich so ausdrücken: Ich habe nicht vor, meine berufliche Existenz aufs Spiel zu setzen. Ich habe zu hart dafür gekämpft und auf zu Vieles verzichtet, um jetzt einfach aufzugeben. Aber trotzdem danke fürs Zuhören!“

      „Du weißt, dass ich immer für dich da bin, mein Kind. Ich habe jederzeit ein Essen und ein warmes Bettchen für dich.“

      „Mutter!“, stöhnt Julia genervt auf.

      „Schon gut!“, wehrt diese ab. „Ich weiß, ich weiß. Lieber würdest du dich erschießen, als zurück nach Hause zu ziehen. Das hast du oft genug gesagt.“

      „Richtig“, bestätigt Julia mit einem gequälten Lächeln. „Ich bin sicher, es ist besser für uns beide.“ Sie atmet tief durch. „Trotzdem danke fürs Angebot. Und jetzt muss ich los. Wir sehen uns.“

      „Mach‘s gut mein Kind. Und melde dich, wenn ich etwas für dich tun kann!“

      „Ja, Mama“, antwortet Julia artig. Dann beendet sie kopfschüttelnd das Gespräch.

      ***

      Wenige Augenblicke später reißt Julia die Tür zu ihrem Vorzimmer auf und rauscht durch das Reich ihrer Sekretärin. Ingeborg Meinhardt ist eine Institution im Gifhorner Rathaus. Die Dame, deren Berufsbezeichnung hinter vorgehaltener Hand „Gewitterziege“ lautet, sieht auch so aus, wie man sich eine solche vorstellt: Sie ist groß, dürr und trägt ihre mit grauen Strähnen durchwirkten Haare zu einem strengen Dutt zurückgebunden, wodurch sie ihre breite Stirn und ihr spitz zulaufendes Kinn betont. Seit Menschengedenken hütet Ingeborg Meinhardt die Pforte zum Büro des jeweiligen Bürgermeisters und dirigiert sämtliche seiner Angelegenheiten mit harter Hand. Julias zahlreiche Vorgänger wussten es zu schätzen, dass sie ihnen eine Menge Dinge vom Hals hielt, mit denen sie sich nicht beschäftigen wollten. Auch Julia genießt diesen Vorzug ihrer Sekretärin. Deshalb lässt auch sie ihr freie Hand zu entscheiden, wem sie wann und ob überhaupt Zutritt zu ihrem Büro gewährt. Obwohl sie zugeben muss, dass sie den Umgang Ingeborg Meinhardts mit den Mitarbeitern des Hauses manches Mal eine Spur zu autoritär und nicht mehr zeitgemäß findet. Andererseits hat sie als Bürgermeisterin alle Hände voll damit zu tun, die Geschicke der Stadt zu lenken. Und solange Ruhe im Rathaus herrscht – und das tut es! – sieht sie keinen Anlass, an den Verhältnissen etwas zu ändern.

      „Ich habe noch einen privaten Termin und komme heute nicht mehr rein“, teilt Julia ihrer Sekretärin im Vorübergehen mit. An der Tür zum Flur dreht sie sich noch einmal um. „Schönen Feierabend!“, wünscht sie.

      Statt einer Antwort sieht Ingeborg Meinhardt die Bürgermeisterin über den Rand ihrer schmalen Brille hinweg prüfend und eine Winzigkeit missbilligend an. Julia stutzt. Sie lässt ihren Blick aufmerksam an ihrer Garderobe hinabwandern. Der schmal geschnittene dunkelblaue Anzug sitzt einwandfrei, die Manschetten ihrer Bluse strahlen in makellosem Weiß und schauen genau anderthalb Zentimeter aus den Ärmeln ihres Blazers hervor. Auf ihren dunkelbraunen Pumps und ihrer Handtasche in der gleichen Farbe zeigt sich kein Stäubchen, ebenso wenig auf dem dunkelbraunen Wintermantel, den sie über dem Arm trägt. Irritiert hebt sie den Blick und sieht Ingeborg Meinhardt fragend an. Wortlos führt die ihre Hand zum Hals und nestelt an einem nicht vorhandenen Kragen. Julia versteht. Sie wirft einen Blick in den Spiegel, der neben der Garderobe im Vorzimmer hängt. Ein schmales, dezent geschminktes Gesicht, umrahmt von halblangen, braunen Haaren, die sie im Nacken zu einem Zopf zurückgebunden hat, schaut ihr entgegen. Unter ihrem Gesicht hat sich der linke Teil des Kragens ihrer weißen Bluse über das Revers des Blazers gelegt, während der andere ordentlich darunter liegt. Julia richtet den Kragen. Anschließend dreht sie den Kopf prüfend nach links und nach rechts, um den Sitz ihrer Frisur zu begutachten. Zufrieden mit dem Ergebnis wendet sie sich erneut Ingeborg Meinhardt zu. Die nickt zustimmend und sagt: „Ihnen auch einen schönen Feierabend.“ Dann heftet sie ihre Augen wieder auf den Bildschirm, der auf ihrem wohlsortierten Schreibtisch ruht.