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angenommen haben. Doch Miriam Schamgefühl zu unterstellen, wäre nun wirklich zu weit hergeholt!

      Einen Moment lang herrscht betretene Stille am Tisch. Schließlich bricht Nephele das Schweigen. „Du liebe Güte, wie unaufmerksam von mir! Ihr sitzt ja alle noch auf dem Trockenen! Was haltet ihr von einem Prosecco? Auf die alten Zeiten? Ich lade euch ein.“

      Dieses Angebot verbessert die Stimmung im Nu. Alle stimmen begeistert zu und Nephele gibt die Bestellung an eine ihrer Angestellten weiter. Anschließend wendet sie sich wieder der Runde am Tisch zu. „Jetzt warten wir nur noch auf Thekla, stimmt‘s?“, fragt sie Julia, die Initiatorin des Treffens. „Ich wusste gar nicht, dass sie wieder im Lande ist. Das Letzte, was ich hörte, war, dass sie nach Hollywood gegangen ist?“

      Julia nickt. „Ich war selbst erstaunt, als sie mir schrieb, dass sie wieder in Gifhorn sei. Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie auf die Terminabfrage zur Jubiläumsfeier, die ich per Mail an alle verschickt habe, überhaupt antwortet. Was soll sie sich dafür interessieren, wenn sie auf der anderen Seite des Globus lebt?“

      Daniela schaut überrascht. „Im Ernst? Thekla ist wieder hier? Unmöglich! Wer kommt denn freiwillig von Hollywood zurück nach Gifhorn?“ Sie klingt ehrlich betroffen. Unbeabsichtigt erntet sie mit dieser Bemerkung einen Heiterkeitsausbruch der anderen Frauen.

      „Ich bitte dich! Was sind denn das für Töne?“, schimpft Julia gespielt empört. „Gifhorn ist die idyllische Mühlenstadt am südlichen Rand der Lüneburger Heide. Hierher kommen sogar Touristen!“

      Nun wollen sich alle beinahe ausschütten vor Lachen. Die junge Bedienung, die in diesem Moment mit dem Prosecco in einem silberfarbenen Kühler und fünf Gläsern an den Tisch herantritt, lächelt unsicher in die Runde. Man kann ihr quasi von der Stirn ablesen, dass sie der Meinung ist, dass die Damen keinen Prosecco mehr benötigen, um in Stimmung zu kommen. Ihre Chefin nickt ihr beruhigend zu. „Klassentreffen“, sagt sie mit vielsagendem Blick. Augenblicklich erhellt ein verständnisvolles Lächeln die Miene der jungen Frau. Sie stellt das Tablett auf dem Tisch ab und öffnet die Flasche. Anschließend entfernt sie sich, als Nephele ihr zu verstehen gibt, dass sie das Einschenken des Getränks selbst besorgen wird.

      „Vielleicht sollten wir noch auf Thekla warten?“, fragt die Gastwirtin in die Runde.

      „Nicht nötig“, ertönt es neben ihr. Überrascht dreht sich Nephele um und schaut direkt in die vergnügt strahlenden dunkelbraunen Augen einer schlanken, hochgewachsenen Frau. Deren ausdrucksstarkes Gesicht, das niemand so schnell vergisst, der es je gesehen hat, ziert ein breites Grinsen. Die langen Beine der Frau stecken in engen grauen zerrissenen Jeans, über denen sie ein weißes Tanktop und einen weiten grobmaschigen dunkelbraunen Wollpullover trägt. Ihr langes zerzaustes aschblondes Haar hat sie mit einem um ihren Kopf geschlungenen bunt gemusterten Tuch halbwegs gebändigt. „Tut mir leid, Mädels, dass ich zu spät bin. Die Gifhorner Rush Hour ist der Horror!“, schimpft sie und rollt die Augen genervt gen Himmel.

      Für diese nicht ganz ernst gemeinte Bemerkung erntet sie großes Gelächter. Während Thekla sich auf die Bank neben Daniela schiebt, füllt Nephele den Prosecco in die Gläser und verteilt sie an ihre Gäste. „Auf unser Wiedersehen und eine erfolgreiche Planung unseres Abi-Jubiläums!“, ruft sie und erhebt ihr Glas. Die anderen folgen ihrem Beispiel.

      „Wie schön, dass wir uns nach so langer Zeit endlich wiedersehen. Es fühlt sich fast so an, als wäre es gestern gewesen, als wir Abitur gemacht haben!“, meint Thekla.

      „Mir geht es genauso“, stimmt Daniela ihr zu. „Wenn ich überlege, was wir fünf früher für einen Mist angestellt haben, dann kann ich gar nicht verstehen, wie wir uns so komplett aus den Augen verlieren konnten. Hatten wir uns nicht damals bei der Abi-Party am Waldsee ewige Freundschaft geschworen?“, fragt sie.

      „Stimmt“, bestätigt Thekla schmunzelnd. „Möglicherweise hatte dieser höchst sentimentale Akt aber auch mit dem Joint zu tun, den wir bei dieser Gelegenheit haben kreisen lassen.“ Ein amüsiertes Raunen geht durch die Runde. Daraufhin korrigiert Nephele ihren Trinkspruch: „Auf die Freundschaft!“, ruft sie und prostet den anderen zu. „Auf die Freundschaft!“, echoen die vier übrigen im Chor.

      Nachdem sie angestoßen und einen Schluck getrunken haben, tauschen sich die fünf beim Prosecco darüber aus, wie sie die vergangenen zwanzig Jahre seit ihrem Schulabschluss verbracht haben. Bis auf Nephele und Julia, die sich des Öfteren in der Stadt oder im Lokal über den Weg laufen, wo Julia ab und an zu Mittag isst, haben sich die fünf seither kaum oder gar nicht mehr gesehen.

      Daniela berichtet, wie sie kurz nach dem Abitur ihre Jugendliebe Erik heiratete und wenig später ihre Ausbildung als Bürokauffrau abbrach, als sie schwanger wurde. Nephele erzählt von ihren erfolglosen Bemühungen, nach dem Abi an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig aufgenommen zu werden, und wie sie sich, um Geld zu verdienen, mit Jobs im Service über Wasser gehalten hat. „Als ich dann mit Ilias schwanger wurde und sein Vater glücklicherweise das Weite suchte, musste ich mich allein durchschlagen. Da mir klar war, dass das als Bedienung schlecht funktionieren würde, habe ich meine Eltern angepumpt und einen hohen Kredit aufgenommen, um dieses Lokal kaufen zu können“, erklärt sie.

      „Hat Ilias Vater dich nicht unterstützt?“, fragt Miriam erstaunt. „Du liebe Güte! Das wäre mir nicht passiert! So weit hätte der Kerl gar nicht rennen können, dass ich ihn nicht gefunden und ausgepresst hätte wie eine Zitrone!“

      Thekla, Julia und Daniela lachen, obwohl oder gerade weil sie wissen, dass Miriam es todernst meint. Wenn es um ihren Vorteil geht – das wissen alle – schreckt sie vor nichts zurück.

      Nephele schüttelt den Kopf und seufzt. „Bei Männern habe ich leider noch nie ein glückliches Händchen besessen. Bei dem schon gar nicht! Ich war heilfroh, als ich den Kerl los war. Ich hätte ihm sogar etwas dafür bezahlt, damit er aus meinem Leben verschwindet!“ Miriam sieht sie verständnislos an, doch Nephele scheint zu finden, dass sie das Thema erschöpfend behandelt hat. Bevor die andere nachhaken kann, hat sie den Spieß schon umgedreht. „Wo wir gerade dabei sind“, meint sie mit anzüglichem Lächeln, während sie ihren Blick an Miriams teurer Garderobe herabwandern lässt und schließlich bei der Coco-Chanel-Tasche landet, die diese neben sich auf der Sitzbank abgestellt hat. „Wie ist das eigentlich bei dir? Du hast ja bereits erwähnt, dass du Kinder hast. Allem Anschein nach zahlt sich das aus?“

      Die anderen wenden sich nun ebenfalls mit gespannter Aufmerksamkeit Miriam zu. Bei jeder anderen hätten sie vielleicht Mitleid gehabt, wenn sie auf diese Weise bloßgestellt worden wäre. Doch bei Miriam, das wissen alle, ist übertriebenes Feingefühl überflüssig. Als wolle sie diese Einschätzung bestätigen, streicht sich die Angesprochene mit einer gezierten Geste eine rote Haarsträhne aus dem Gesicht und lächelt zufrieden. „Selbstverständlich tut es das. Mein Mann führt eine gutgehende Privatklinik für plastische und ästhetische Chirurgie. Wir können ganz gut davon leben.“

      Ein beeindrucktes Raunen erhebt sich am Tisch.

      „Dann bist du dort vermutlich für die Buchhaltung zuständig?“, rät Thekla.

      Entsetzt blickt Miriam sie an. „Um Himmels willen, nein! Ich habe genug mit der Erziehung unserer Kinder zu tun. Die Zwillinge sollen schließlich in ordentlichen Verhältnissen aufwachsen. Außerdem kümmere ich mich natürlich um die Hunde, das Haus und den Garten.“

      Die anderen Frauen werfen sich belustigte Blicke zu. Miriam bemerkt es und kontert: „Wie ich schon sagte, wirft die Klinik genug ab. Es ist nicht nötig, dass ich arbeiten gehe. Aber selbstverständlich engagiere ich mich für wohltätige Zwecke.“

      Für diese Aussage erntet sie gespielt beeindruckte Blicke.

      Julia will es genauer wissen. „Und was sind das für Wohltätigkeiten, mit denen du die Welt beglückst?“

      „Ich bin im Kirchenvorstand unserer Gemeinde aktiv“, antwortet Miriam geziert. „Da gibt es immer etwas zu tun. Einen Wohltätigkeitsbazar zu organisieren, einen Spendenaufruf für Menschen in Not zu verschicken, ein Senioren-Kaffeetrinken zu veranstalten … na, ihr wisst schon. Was man halt so tut.“