Gesa Walkhoff

Kleinstadt-Hyänen


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Schwestern aufzupassen. Das war nur unter Protest der ältesten Tochter gelungen, denn Madeleine hatte ihre Freundin Emilia zu Besuch und nicht die mindeste Lust, ihre Zimmertür offen zu lassen, um wenigstens mit einem Ohr nach ihren jüngeren Geschwistern zu horchen, bis der Vater endlich den Weg nach Hause gefunden hätte. Daniela versuchte zunächst, sie mit dem Argument zu ködern, dass es sich schließlich nur noch um wenige Minuten handeln könne, bis der Vater endlich daheim wäre. Doch daran hatte ihre älteste Tochter genauso wenig geglaubt wie sie selbst. Erst, als Daniela Madeleine gestattet hatte, sich zum Ausgleich für ihren Einsatz eine ganze Folge von Germanys Next Topmodel – und zwar bis zum Schluss! – ansehen zu dürfen, hatte sie eingewilligt.

      Erschöpft parkt Daniela nun das altersschwache Auto neben dem schicken dunkelblauen Leasing-Fahrzeug ihres Gatten. Wenigstens ist er mittlerweile zuhause eingetroffen, denkt sie bissig. Im nächsten Moment schalt sie sich ungnädig. Sie muss ja nicht gleich zickig werden, sagt sie sich, nur, weil ihr Mann nicht rechtzeitig aus der Versicherungsagentur nach Hause gekommen ist, um sie abzulösen. Sicher hatte er noch ein Kundengespräch, das er nicht einfach so unterbrechen konnte, vermutet sie und ist sofort wieder friedlich gestimmt. Überhaupt gelingt es Daniela selten, mehr als ein paar Minuten lang böse auf Erik zu sein, wenn er sich wieder einmal aus seinen familiären Pflichten herausgewunden hat. Nachtragend zu sein liegt ihr nicht. Stattdessen freut sie sich jetzt lieber auf ihr gemütliches Sofa. Dort, so hofft sie, kann sie den Abend vor dem Fernseher neben ihrem Mann bei einer Flasche Bier ausklingen lassen, bis sie endgültig reif fürs Bett ist.

      Mit Schwung knallt Daniela die Autotür zu, die bei einer weniger energischen Behandlung nicht mehr schließt. Im schwachen Schein der leuchtenden Wand aus Glasbausteinen, die in den Siebzigern so schwer in Mode waren, läuft sie auf die Haustür zu. Als sie sie öffnet, kommt ihr die neunjährige Vicky kreischend aus dem Obergeschoss entgegen. Auf Socken stürmt sie die Treppe herunter und wirft sich ihrer Mutter in die Arme.

      „Nanu, junge Dame, du bist ja noch gar nicht im Bett“, stellt Daniela verwundert fest. „Ab ins Bad und Zähne putzen!“

      „Och nö! Dann muss Sarah aber auch!“, protestiert der kleine blonde Wirbelwind, der optisch eine Miniaturausgabe ihrer Mutter ist.

      Daniela zieht die Augenbrauen in die Höhe. „Wie? Sarah ist auch noch nicht im Bett?“, ruft sie erstaunt. Für die Siebenjährige wäre normalerweise schon vor einer Stunde Schlafenszeit gewesen. „Da hat euer Vater wohl die Zeit vergessen“, schimpft Daniela, seufzt resigniert, packt ihre Tochter unter den Armen und zieht sie hoch auf ihre Hüfte, um sie nach oben ins Badezimmer zu tragen. „Wo ist er überhaupt?“, fragt sie. Dabei schaut sie in Richtung des Wohnzimmers, aus dessen angelehnter Tür der Fernseher zu hören ist, aus dem die Botschaft eines Werbespots für Enthaarungscreme plärrt.

      „Der ist nochmal weggegangen“, schallt es aus der Küche. Kurz darauf steht Madeleine kauend mit einer frisch geöffneten Tüte Chips in der Hand im Flur.

      Daniela runzelt die Stirn. „Wohin?“, fragt sie verwundert und mit einer Spur Besorgnis in der Stimme. Einen Moment lang befürchtet sie, dass etwas mit ihren Schwiegereltern nicht in Ordnung ist und Erik den dementen Alfons oder die krebskranke Inge ins Krankenhaus hatte fahren müssen. Aber dann hätte sein Auto ja nicht auf dem Hof gestanden, widerspricht sie sich im nächsten Moment selbst.

      Madeleine zuckt die Schultern. „Matze Schröder kam vorbei und hat mit seinem neuen Trecker angegeben. Er hat Papa dazu überredet, mit in die Kneipe zu gehen und noch einen Absacker zu nehmen. Er würde einen ausgeben, hat er gesagt.“

      Nun ist es dann doch vorbei mit Danielas gnädiger Stimmung, zu der sie sich vorhin im Auto noch durchgerungen hatte. Missbilligend zieht sie die Augenbrauen hoch. Das ist ja wohl die Höhe! Da überlässt sie es ihrem Mann einmal, auf die Kinder aufzupassen und notfalls zur Stelle zu sein, wenn seine kranken Eltern Hilfe brauchen – eine Aufgabe, die normalerweise sie selbst tagein tagaus klaglos erfüllt – und er schafft es nicht einmal heute, seinen Pflichten nachzukommen?

      Madeleine realisiert, dass ihre Mutter nicht erfreut ist. „Mit mir musst du das nicht diskutieren!“, mault sie und hebt abwehrend die Hände. „Ich kann mir Besseres vorstellen, als ständig für euch den Babysitter zu spielen.“

      Daniela seufzt und bemüht sich um ein Lächeln. „Lieb von dir, dass du eingesprungen bist, mein Schatz“, sagt sie und reißt sich zusammen. Ihre Tochter soll nicht denken, dass sie ihren Unmut an ihr auslassen will. „Ich bin wirklich froh, dass ich dich habe!“, fügt sie dankbar hinzu.

      Madeleine nickt gnädig. „Das hat Papa auch gesagt“, sagt sie und versucht es beiläufig klingen zu lassen. Doch Daniela merkt ihr an, wie stolz ihre Tochter auf ihre Rolle als Stütze ihrer Eltern ist und dass sie sich dabei sehr erwachsen fühlt. Als wolle sie diesen Eindruck noch unterstreichen, zieht Madeleine die Stirn kraus und meint altklug: „Wir müssen ein bisschen darauf achtgeben, Papa nicht zu überfordern!“ Bei diesen Worten greift sie erneut in die Chipstüte.

      Daniela, die gerade mit Vicky auf dem Arm die Treppe ins Obergeschoss erklimmen wollte, hält mitten in der Bewegung inne. Sie blickt Madeleine teils amüsiert, teils fragend an und wartet darauf, dass die ihre Bemerkung erläutert.

      Ihre älteste Tochter schiebt sich erst einmal eine Hand voll gewürzter Kartoffelscheiben in den Mund. Erst dann spricht sie weiter. „Na ja, Papa arbeitet von früh bis spät. Dann kommt er nach Hause und muss sich auch noch um die Kleinen kümmern“, womit sie ihre Schwestern Sarah und Vicky meint. „Außerdem hat er die Sorge um seine Eltern an der Backe. Das ist ihm manchmal einfach alles zu viel!“, erläutert sie ihrer Mutter die Sachlage, die die scheinbar noch nicht begriffen hat.

      Die Amüsiertheit verschwindet aus Danielas Gesicht. Zurück bleibt ein Ausdruck grenzenloser Verständnislosigkeit. „Wie kommst du denn auf so etwas?“, fragt sie ihre Tochter, als sie ihre Sprache wiedergefunden hat.

      Madeleine schüttelt ob der Begriffsstutzigkeit ihrer Mutter den Kopf. „Denk doch mal nach!“, fordert sie ihre Erzeugerin auf und versprüht dabei eine Ladung winziger Chipskrümel in Danielas Richtung. „Würde dich das nicht belasten, wenn du so viel um die Ohren hättest wie Papa?“

      Danielas Miene zeigt nun die komplette geistige Leere, die im Kopf eines Menschen herrscht, der die Welt nicht mehr versteht und gleichzeitig weiß, dass es komplett sinnlos ist, es überhaupt versuchen zu wollen.

      Ungeduldig rollt Madeleine die Augen gen Himmel. „Papa hat es selbst gesagt! Bei all dem Stress, den er heute hatte, müsse er jetzt einfach mal an sich denken. Deshalb ist er dann mit Matze losgezogen, um noch ein Bier trinken zu gehen. Matze hat ihn auf dem neuen Trecker mitgenommen.“ Missbilligend schüttelt ihre Tochter den Kopf. „Redet ihr eigentlich nicht miteinander, wenn du nicht mal weißt, was Papa alles um die Ohren hat?“

      Einen Moment lang ist Daniela unfähig, etwas zu sagen. Schließlich krächzt sie, weil ihr beim besten Willen nicht einfallen will, was Madeleine meinen könnte: „Von was für einem Stress, den dein Vater hatte, ist denn hier eigentlich die Rede?“

      „Na, Opa ist doch wieder ausgebüxt! Er hat den Acker gedüngt, den Hinnerk Schmidt von uns gepachtet hat. Du kannst dir vorstellen, wie glücklich der Öko-Heini war, dass Opa ihm eine satte Ladung Gülle auf seinem Bio-Acker hinterlassen hat! Den halben Tank hatte er schon entleert, bevor Hinnerk es gemerkt hat und ihn stoppen konnte“, raunzt ihre Tochter sie an, als sei Daniela höchstpersönlich für die Tat verantwortlich.

      „Ach, du Scheiße!“, rutscht es Daniela heraus.

      „Mama!“, ruft Madeleine protestierend und erinnert ihre Mutter dadurch daran, dass man erstens dieses Wort nicht in den Mund nimmt und zweitens schon gar nicht im Beisein der jüngeren Geschwister.

      „Scheiße!“, kreischt Vicky denn auch gleich vergnügt auf. „Mama hat Scheiße gesagt!“

      „Wann war das?“, fragt Daniela, den Ausbruch ihrer kleinen Tochter ignorierend.

      „Kurz nachdem Papa nach Hause kam“, antwortet Made-leine, die damit zugeben muss, dass ihre Mutter unter diesen Umständen nichts von den neuerlichen