Gesa Walkhoff

Kleinstadt-Hyänen


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ist. Die Gründe für das Unglück eruieren zu wollen, ändert an den Fakten jetzt auch nichts mehr.

      „Das hat Papa sie auch gefragt. Er war ganz schön sauer. Mann, hat der geschimpft!“, erzählt Madeleine. Voller Empörung über die Nachlässigkeit ihrer Großmutter schüttelt sie den Kopf. Daniela wirft ihr einen fragenden Blick zu und schließlich lässt sich ihre Tochter dazu herab, auch die restliche Geschichte zu erzählen. „Oma hat wohl wieder geraucht und deshalb nichts mitbekommen. Jedenfalls habe ich das herausgehört, als Papa und sie miteinander zankten.“ Madeleine runzelt die Stirn. „Also, warum Rauchen ein Grund dafür sein soll, nicht mitzubekommen, dass Opa abhaut und Mist baut, verstehe ich nicht. Doch bei Papa hat Omas Ausrede scheint’s gezogen und er war dann auch nicht mehr sauer.“

      Daniela steigen Tränen in die Augen. Schnell versucht sie sie wegzublinzeln.

      „Ist was?“, fragt Madeleine, die die Regung im Gesicht ihrer Mutter dennoch bemerkt hat.

      Die schüttelt den Kopf. „Ich habe nur innerlich gegähnt“, lügt sie. Sie setzt eine betont zuversichtliche Miene auf und wendet sich Vicky zu, die ihren Kopf müde auf ihrer Schulter abgelegt hat. „Und wir beide gehen jetzt in die Heia.“

      Mit einem Ruck fährt der Kopf ihrer kleinen Tochter in die Höhe. „Sarah aber auch!“, fordert sie beleidigt.

      „Natürlich muss Sarah auch in die Heia“, bestätigt Daniela. Sie wendet sich noch einmal Madeleine zu. „Ich bringe die Kleinen ins Bett und sehe danach nochmal bei Oma und Opa nach dem Rechten. Du machst nicht mehr so lange?“

      „GNTM hat doch gerade erst angefangen!“, protestiert Madeleine.

      Daniela nickt gottergeben. Sie hat es ihrer Tochter versprochen, und nachdem sie sich an diesem Abend wirklich sehr um die Geschwisterbetreuung verdient gemacht hat, bringt sie es nicht übers Herz, sie vor dem großen Finale ins Bett zu schicken. Auch, wenn sie weiß, dass es dafür morgen umso länger dauern wird, ihre Große aus den Federn zu bekommen. Wieder einmal fragt sie sich, ob diese Fernsehmacher keine halbwüchsigen Töchter haben und ob sie es wirklich okay finden, wenn vierzehnjährige Teenager erst um kurz vor elf an einem ganz normalen Wochentag schlafen gehen. Doch auch die Auseinandersetzung mit dieser Frage wird sie nicht wirklich weiterbringen, ermahnt sie sich. Also schaut sie nur seufzend Madeleine hinterher, die sich eilig vor den Fernseher verzieht, weil die Werbepause vorbei ist und sie keine Sekunde von den Abenteuern der angehenden Models verpassen will. Dann muss Daniela wirklich ein Gähnen unterdrücken. Erschöpft dreht sie sich um und trägt ihre Tochter, die wie ihre Mutter kaum noch die Augen offenhalten kann, die Treppe hoch ins obere Geschoss.

      ***

      Fünfundzwanzig Minuten später verlässt Daniela das Haus. Zuvor hatte sie noch ihre beiden kleineren Töchter ins Badezimmer gescheucht und dann ins Bett gebracht, um ihnen dort eine Gute-Nacht-Geschichte vorzulesen, bei der sie selbst fast eingeschlafen wäre. Anschließend hatte sie ihrer Tochter Madeleine das Versprechen abgenommen, gleich nach dem Finale von GNTM selbst ins Bett zu gehen. Nun tastet sie sich im Wintermantel und mit den praktischen grünen Crocs für Hof und Garten an den Füßen den dunklen, matschigen Feldweg entlang zum Haus der Schwiegereltern. Es liegt hinter dem Kuhstall auf einem kleinen Stück Land, das Inge und Alfons, nachdem sie die Verantwortung für die Landwirtschaft abgegeben hatten, in einen picobello gepflegten Garten mit ordentlich gestutzten Hecken und im Sommer üppig blühenden Beeten verwandelt haben. Der Garten ist ihre ganze Freude. Zu der Zeit, als sie selbst noch den Hof geführt hatten, hatte die Zeit für solche Dinge gefehlt.

      Als Daniela den Kuhstall passiert, sieht sie Licht im Gewächshaus, das gleich neben dem Haupthaus steht. Wie sie erwartet hat, entdeckt Daniela ihre Schwiegermutter hinter einem riesigen Oleander, der hier überwintert. An einem alten Esstisch, auf dem Inge normalerweise ihre Blumen und Kräuter umtopft, hat sie sich eine kleine Sitzecke eingerichtet mit zwei Plastikstühlen und einem halbhohen Regal, in welchem sie neben einigen Utensilien zur Pflanzenpflege einen Wasserkocher, eine Teekanne und einige Becher untergebracht hat.

      Im Schein einer alten Petroleumlampe auf dem Tisch erblickt Daniela das eingefallene Antlitz ihrer Schwiegermutter. Gerade zieht Inge an einer selbstgedrehten Zigarette, was ihr Gesicht noch hagerer wirken lässt als sonst. Daniela schluckt, und für einen Moment droht sie erneut die Traurigkeit zu übermannen. Sie beobachtet, wie die Zweiundsiebzigjährige, die es sich in eine dicke Decke gehüllt in einem der Plastikstühle bequem gemacht und ihre Beine auf dem anderen abgelegt hat, den Rauch genussvoll inhaliert, dann die Backen aufbläst und anschließend den Qualm in einem Schwall wieder ausstößt. Dabei wirkt die Frau recht zufrieden, ja, man könnte auch sagen heiter und guter Dinge.

      Daniela reißt sich zusammen und ruft gespielt gut gelaunt: „Wusste ich es doch, dass ich dich hier finde!“

      Die ältere Dame hebt den Kopf, schaut sie an und verzieht das Gesicht zu einem Grinsen. „Wenn ich meine Auszeit brauche, ist das hier der beste Platz der Welt“, erläutert sie ihrer Schwiegertochter mit ihrer tiefen, rauen Stimme. Ächzend richtet sie sich auf und schiebt ihre Beine vom zweiten Plastikstuhl. Mit einer knappen Geste fordert sie Daniela auf, darauf Platz zu nehmen. Die zieht den Stuhl an sich heran, fegt zwei eingetrocknete Lehmbrocken von der Sitzfläche, die Inges Schuhe dort hinterlassen haben, und lässt sich schwerfällig nieder.

      „Hast du Schmerzen?“, fragt sie ihre Schwiegermutter und blickt ihr prüfend ins Gesicht.

      Die Angesprochene lächelt und sieht mit grimmiger Entschlossenheit auf die unregelmäßig geformte, rot glimmende Papiertüte zwischen ihren knochigen Fingern. „Wenn‘s zu schlimm wird, entspannt mich das Zeug ganz gut.“ Erneut nimmt sie einen Zug und inhaliert tief in ihre Lungen hinein. „Um die Aussetzer meines Göttergatten mit Humor zu nehmen, hilft es ebenfalls“, fügt sie sarkastisch hinzu.

      Daniela seufzt. Das bringt ihr ihrerseits einen prüfenden Blick der Schwiegermutter ein. Wortlos reicht Inge ihr die glimmende Papiertüte hinüber, die Daniela kommentarlos ergreift. Sie zieht daran fast ebenso genießerisch wie es Inge vor ihr getan hat. Anschließend entlässt sie den Rauch in einem langgezogenen Luftstoß wieder aus ihrer Lunge und reicht den letzten Rest der Tüte zurück an ihre Schwiegermutter.

      „Ich weiß, dass ich bei der Erziehung meines Sohnes Fehler gemacht habe, und es tut mir leid“, bemerkt Inge aufs Geratewohl.

      Daniela ringt sich ein schiefes Lächeln ab und schüttelt müde den Kopf. „Du hast nichts falsch gemacht. Erik ist halt ein Mann.“

      „Pah!“ Inge lässt ein kurzes verächtliches Lachen hören. „Er ist wie sein Vater.“

      „Weil der auch ein Mann ist?“, fragt Daniela spöttisch.

      Inge presst die Lippen aufeinander, zieht die Mundwinkel herab und nickt zustimmend. Dann zieht sie ein letztes Mal an dem Glimmstängel und drückt den verbliebenen Stummel im Aschenbecher aus. „Ich bezweifle, dass das als Entschuldigung ausreicht, aber im Kern magst du recht haben“, gibt sie zu. Sie hebt den Kopf und mustert ihre Schwiegertochter mit wissendem Blick. „Erik hat sich mal wieder verpisst, stimmt‘s?“

      Daniela nickt. Automatisch beginnt sie, ihren Mann zu verteidigen. „Für ihn ist es auch nicht immer leicht“, setzt sie an und stutzt. Ist das nicht genau die gleiche Argumentation, die ihre Tochter vorhin gebraucht hat und der sie nicht wirklich etwas abgewinnen konnte? Und jetzt sagt sie es selbst? Sie schüttelt den Kopf. Eigentlich weiß sie doch ganz genau, dass es in dieser Situation kaum jemanden gibt, der es leichter hat als ihr Mann. Sein dementer Vater wird von seiner Mutter betreut, die unheilbar an Krebs erkrankt ist. Um beide wiederum kümmert sich seine Frau, die auch die Kinder und die Landwirtschaft versorgt. Tagsüber ist Erik fein raus, sobald er im schicken Anzug das Haus verlässt und in sein von einer Reinigungskraft gepflegtes Filialbüro fährt. Abends und am Wochenende setzt er sich auf den Trecker, wenn er Abwechslung vom Bürojob braucht, und schmeißt bestenfalls den Grill an, um „für die Familie zu kochen“, wie er es nennt. Dabei lässt er die Salate von seiner Frau schnibbeln, die nebenbei noch den Tisch deckt und Brötchen im Ofen aufbackt.

      „Vermutlich bin ich selbst schuld, weil ich ihm immer alles abnehme“,