Gesa Walkhoff

Kleinstadt-Hyänen


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wenn er es nicht direkt sagt. Aber er zeigt es ihr – auf seine Weise – und er hat sie noch nie enttäuscht.

      Für einen Moment flackert in Miriams Augen eine Gefühlsregung auf, die nicht ganz zu der kühlen, untadeligen Arztgattin zu passen scheint. Schnell hat sie sich wieder im Griff. Während sie den schmalen Weg auf den sorgfältig gekärcherten Betonplatten entlangstolziert, die von der Einfahrt bis zur Haustür führen, herrscht sie ihre zankenden Hunde an, gefälligst still zu sein, und tatsächlich gehorchen sie. Dann betätigt Miriam die Klingel. Im Inneren des Hauses hört sie Schritte und einen Moment später wird die Tür von einem großen, schlanken Mann mit grauen Schläfen und hellblauen Augen geöffnet. Für sein Alter hat er sich gut gehalten und er ist unbestreitbar attraktiv. Gleichzeitig hat sein Auftreten etwas Autoritäres und Abweisendes, das die Menschen normalerweise davon abhält, ihm näher zu kommen. Alle, bis auf Miriam.

      Als der Mann sie erkennt, nimmt sein Blick einen wissenden Ausdruck an. „Was kann ich für dich tun?“, fragt er. Sein kühler, strenger Blick scheint sie zu durchbohren.

      „Ich möchte beichten“, antwortet Miriam und senkt beschämt den Kopf. „Doch vorher werde ich sündigen.“ Sie knöpft ihren Mantel auf und öffnet ihn. Darunter ist sie splitterfasernackt.

      Nephele

      Nephele schließt die Tür zu ihrer Vierzimmer-Eigentumswohnung auf und schiebt die schweren Einkaufstaschen in den Flur. Normalerweise ist das Geräusch, das der Schlüssel in der Wohnungstür verursacht, das Signal für ihren sechzehnjährigen Sohn, aus seinem Zimmer herauszustürmen und ihr dabei zu helfen, die Einkäufe in der Küche zu verräumen. Doch heute rührt sich nichts in der Wohnung. Dabei weiß Nephele, dass Ilias da ist, denn sie hat vom Parkplatz hinter dem Mehrfamilienhaus aus gesehen, dass Licht in seinem Zimmer brennt. Sie wirft die Tür hinter sich ins Schloss, lässt ihren Schlüsselbund in die Schale auf der Kommode unter dem goldgerahmten Spiegel fallen, zieht ihre Schuhe aus und schlüpft aus ihrem Mantel, den sie an der Garderobe aufhängt.

      „Ilias?“

      Sie lauscht, doch aus der Wohnung ist immer noch kein Laut zu hören. Vermutlich hat er wieder die Stöpsel seiner Kopfhörer in den Ohren, denkt Nephele, und eigentlich ist sie froh darüber. Nichts wünscht sie sich nach dem Trubel, der fast immer in ihrem Lokal herrscht, mehr als Ruhe. Weil sie außerdem schon diverse Diskussionen mit ihrem pubertierenden Nachwuchs darüber führen musste, in welcher Lautstärke Musikhören auch für Mitbewohner und Nachbarn erträglich ist, findet sie, dass es eindeutig das kleinere Übel ist, die Einkäufe ohne seine Hilfe einzusortieren. Darüber hinaus läuft ihr regelmäßig ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie die oftmals menschenverachtenden Textzeilen der Songs mit anhören muss, die Ilias Idole des Gangsta-Rap verbreiten und sie würde ihrem Sohn am liebsten verbieten, so ein Zeug zu hören. Da sie jedoch selbst einmal jung war und weiß, dass ein Verbot die Sache für ihn nur interessanter machen würde, lässt sie es bleiben und ist froh, wenn sie nichts davon hören beziehungsweise wissen muss. Nephele hofft, dass sich der Musikgeschmack ihres Sohnes ganz von selbst ändert, wenn er aus dem Gröbsten raus ist. Denn eigentlich weiß sie, dass er das Herz auf dem rechten Fleck hat. Davon ist sie überzeugt und darauf ist sie sehr stolz, denn sie weiß, dass das nicht selbstverständlich ist. Es hätte auch anders kommen können, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schaudert.

      Nephele geht ans Ende des Flures und klopft an die Tür mit dem Schild „Ich Chef, du nix.“. Sie horcht, doch sie kann keine Reaktion dahinter vernehmen. Sie klopft noch einmal an das Holz – dieses Mal energischer – doch noch immer rührt sich nichts. Nephele drückt die Klinke hinunter und öffnet die Tür einen Spalt breit. Ob ihr Sohn schläft?

      Zuerst entdeckt sie nur seine bestrumpften Füße auf dem Bett. Nephele schiebt ihren Kopf durch den Türspalt und sieht nun ihren ganzen Sohn. Er sitzt vollständig angekleidet auf seinem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt. Wider Erwarten hat er keine Stöpsel im Ohr. Seine Augen sind geöffnet und starren ins Leere. Er scheint in seinen Gedanken so weit weg zu sein, dass er seine Mutter nicht bemerkt.

      „Ilias?“, fragt Nephele irritiert. Besorgt reißt sie die Tür weit auf und tritt ins Zimmer. In diesem Moment wendet Ilias ruckartig den Kopf und schaut sie böse an. Wie angewurzelt bleibt Nephele stehen. So hat ihr Sohn sie noch nie angesehen. „Was ist los?“, fragt sie erschrocken. In ihrem Inneren fühlt sie eine kalte Hand nach ihrem Herzen greifen. Plötzlich hat sie Angst. Irgendetwas ist mit Ilias geschehen und das kann nichts Gutes sein.

      Nepheles Verhältnis zu ihrem Sohn war immer gut, sie würde es sogar als eng bezeichnen. Sie weiß, dass das bei einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Sohn nichts Ungewöhnliches ist. Natürlich haben sie auch mal Meinungsverschiedenheiten und streiten sich, allerdings geschieht das äußerst selten. Und selbst in jenen Momenten spürt sie zu jedem Zeitpunkt eine enge Verbundenheit zwischen Ilias und sich, das unbedingte Vertrauen zu- und die Fürsorge füreinander. Daran kann auch der Gangsta-Rap nichts ändern. Mit einem Mal jedoch ist Nephele sich dessen nicht mehr sicher. Ein Schauer jagt ihren Rücken hinunter. Unwillkürlich fragt sie sich, inwieweit nicht nur körperliche, sondern auch psychische Dispositionen vererbbar sind und ihr wird beinahe schlecht vor Angst. Reiß dich zusammen, ermahnt sie sich. Du bist seine Mutter, also benimm dich auch so! Sie strafft die Schultern und bemüht sich, ihrer Stimme eine entspannte Färbung zu geben. So, als könne es sich bei dem, was augenscheinlich zwischen ihnen steht, nicht um mehr handeln als ein Lieblings-Kleidungsstück, das versehentlich in die Kochwäsche geraten und deshalb im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr tragbar ist. „Ich höre?“

      Etwas raschelt in Ilias‘ Hand. Erstaunt blickt Nephele auf das gefaltete karierte DIN A4-Blatt, das er ihr wortlos entgegenstreckt. Was soll das, fragt sie sich verwundert. Was soll auf einem ganz normalen Zettel von einem Abreißblock schon Großartiges stehen, das das Verhalten ihres Sohnes erklären könnte?

      Jetzt schon etwas gefasster, macht Nephele einen Schritt auf ihren Sohn zu. Mit einer energischen Handbewegung greift sie nach dem Blatt Papier und faltet es auseinander. Sie sieht die eng beschriebenen Zeilen und einen Moment später erkennt sie auch die Handschrift. Ihr wird schwindelig. Rasch geht sie ein paar Schritte zur Seite und lässt sich auf Ilias‘ Schreibtischhocker plumpsen. Dort verharrt sie, das Blatt Papier in der Hand, doch sie schaut nicht darauf. Stattdessen starrt sie vor sich auf den Boden, wo sich ein tiefer Abgrund auftut. Nephele schließt die Augen und hofft, dass dieser Moment vorübergehen möge und danach alles wieder ist wie vorher. Gleichzeitig weiß sie, dass das nicht funktionieren wird. Es kostet sie alle Kraft, die sie aufzubringen in der Lage ist, ihren Blick auf das Papier, dieses vermaledeite Blatt Papier, diesen gewöhnlichen karierten Zettel zu richten und zu lesen, was darauf steht.

      „Mein lieber Sohn“ – so beginnt der Brief. Nephele muss einen Würgereiz unterdrücken. Sie bringt es nicht über sich, weiterzulesen. Sie lässt den Zettel sinken und schließt die Augen. Fast siebzehn Jahre lang hat sie diesen Teil ihrer Geschichte aus ihrem Leben verbannt. Hat sich eingeredet, dass sie ihn hinter sich lassen kann. Sie müsse nur vergessen und so tun, als sei es niemals geschehen – dann würde es schon gehen, hat sie sich immer wieder gesagt.

      Die Stimme ihres Sohnes reißt sie aus ihrer Schockstarre. „Es stimmt also. Er ist gar nicht tot“, stellt er tonlos fest.

      Nephele nimmt all ihren Mut zusammen und blickt ihrem Sohn ins Gesicht. Einen Moment lang scheinen beide darüber erschrocken zu sein, wie betroffen der jeweils andere aussieht. Nephele sieht, dass aus Ilias‘ Gesicht alles Kindliche verschwunden ist. Seine Wangen wirken hohl und sein Blick abgeklärt, als hätte er mit einem Mal den naiven Kinderglauben verloren, dass die Erwachsenen letztendlich doch wissen, was richtig ist, und man ihnen im Zweifelsfall vertrauen kann. Ilias dagegen hat seine Mutter, die er nur voller Tatendrang und Selbstbewusstsein kennt, noch nie so schwach und verletzlich erlebt. Aschfahl ist ihr Gesicht geworden und in ihren