Susanne Sievert

Sternstunde


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zerriss mein Innerstes. Sie gewährte mir keine Sekunde der Trauer, als ihre Stimme über mich hinweg grollte: „Leg´ dich nie wieder zum Sterben hin!“

      Zum ersten Mal schaute ich ihr direkt ins Gesicht. Die markanten Züge und die klaren, wachen Augen waren die meines Vaters so ähnlich. Meine Tante war groß und stämmig wie ein Bär. Ihre tiefe Stimme ähnelte der eines Mannes, so wie ihre körperliche Statur. Ihr Haar leuchtete in einem Rot, dass bekannt für unsere Familie war. Sie war grob, zäh und hatte überlebt.

      „Bakta.“

      Dieses Mal schlug sie mit der flachen Hand zu.

      „Hast du mich verstanden, Udy?“, in ihrer Stimme lag ein drohendes Zittern. „Leg dich nie wieder zum Sterben hin.“

      Mit ihren großen Händen packte sie meinen Oberarm und zog mich hinter die nächste Hütte. An uns zog eine Gruppe von Soldaten vorbei. Ihre Rüstung war ebenso schwarz wie das elende Land, welches die Ungeheuer ausspuckte. Aus unserem Versteck erblickten wir Gefangene, mehr tot als lebendig, und an schweren Ketten gefesselt, die einen Riesen bändigen sollten. Ich kannte jeden Einzelnen von ihnen und vor Hilflosigkeit wünschte ich mir zu schreien, aber meine Tante warf mir sogleich einen drohenden Blick zu. Meine Kehle schmerzte und klickte bei jedem Atemzug unangenehm. Ich spürte wie heiße Tränen meine Wangen hinab rollten. Das Kreischen des Drachen ließ meinen ganzen Körper erzittern. Meine Gedanken kreisten, die Umgebung verschwamm langsam vor meinen Augen und ich wusste, dass ich ohne meine Tante endlos verloren war.

      „Ganz ruhig“, flüsterte sie dicht an meinem Ohr und hielt meine Hand. Ihre Schläge waren hart, aber umso weicher waren ihre Berührungen. Bakta holte mich ein Stück zurück in die wahre, grausame Welt, in der ich nicht mehr leben wollte.

      Sie klopfte auf die Seite ihrer rechten Hüfte und unter ihrem Mantel entdeckte ich Vaters Schwert, dass er nur selten aus den Händen gab. Es war ein kleiner Trost, das Bakta es nun mit sich führte und eine Waffe bot uns die Gelegenheit zu überleben.

      „Wir werden uns in die Wälder retten“, ihre Stimme klang seltsam verzerrt. „Du wirst überleben.“

      Wir zogen uns ins Innere der Hütte zurück, beobachteten still die abrückenden Soldaten und die wenigen Drachen, die von der Schlacht noch übrig waren. Sie fraßen sich am Fleisch meines Volkes satt und das Schmatzen und Kauen dröhnte in meinen Ohren, dass ich fürchtete den Verstand zu verlieren.

      Die Schreie unseres Volkes verebbten. Ich hörte hier und da ein leises Stöhnen, ein Schluchzen und Wimmern. Unser eigener, schwerer Atem zerriss die Stille und ich fürchtete mich so sehr, dass ich Schutz in Baktas Armen suchte. Aber Bakta war nicht meine Mutter. Sie duldete meine Berührungen, aber ich spürte an ihrer Haltung, wie unerwünscht sie waren.

      „Du zählst bald 16 Winter. Du bist kein Kind mehr, also reiß dich gefälligst zusammen. In deinem Alter hatte ich bereits drei Kinder zu versorgen“, waren die einzigen Worte, die sie mir bitter zu raunte. Das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich war nicht die einzige, die an einem Tag alles verlor.

      Erst in der tiefen Nacht wagten Bakta und ich uns aus unserem Versteck. Mein Körper zitterte vor Kälte und die Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander. Im Gegensatz zu Bakta trug ich keinen Mantel zum Schutz gegen den frostigen Wind, sondern nur ein einfaches Kleid aus Tierfellen. Der Winter zählte im Norden viele Monate. Unser Volk war an kalte Tage gewöhnt, aber gegen die Kälte der Angst half kein Mantel und Feuer der Welt.

      „Sei mutig“, sprach ich zu mir selbst, denn die Hölle die sich uns bot, zerschlug alle Gedanken an Kälte, Hunger und Angst. Vor uns öffnete sich ein Trümmerfeld, das wir selbst in der Dunkelheit erkennen konnten. Blutende, abgetrennte Körperteile, zur Asche gefallenes Holz – verbrannte Erde, geschlachtetes Vieh und Zerstörung, wo auch immer man blickte. Der Geruch von Asche, Tod und Blut war unerträglich. Ich hielt die Hände vor Mund und Nase, um nicht Blut und Galle zu würgen. Mit jedem Schritt hörte ich ein schauriges, saugendes Geräusch. Wasser drang durch meine dünnen Lederschuhe und als ich mich ängstlich nach unten beugte und nach meinem Schuh tastete, war es kein Wasser, das an meinen Händen haftete. Es war schmieriges schwarzes Blut, das an meinem Finger klebte.

      „Gehen wir.“ Bakta warf mir einen bösen Blick zu. Er sagte mir deutlich: Kein Geheul mehr. „Sieh dich nicht um, Kind. Lauf – lauf in den Wald.“

      An Baktas Seite rannte ich über verkohlte Erde, vorbei an den Aasfressern, die sich über die Reste meines Volkes her machten. Ich stolperte mehr, als dass ich auf zwei Beinen lief.

      Im Lauf warf ich einen Blick zurück auf unser Dorf, dass 16 Jahre meine Heimat war. Hier wurde ich geboren. Ich erlebte hier die schönsten und schlimmsten Tage meines Lebens. Die Drachen hatten mir alles genommen. Nein, er hatte mir alles genommen! Er tötete meinen Vater, meine liebe Mutter. Er stahl mir mein Heim und das an einem einzigen Tag! Ich kannte doch nichts anderes. Hier war mein zu Hause. Hier war mein Leben.

      Oh Göttin, was soll nur aus uns werden? Hast du dein Volk verlassen?

      Bakta verpasste mir einen leichten Schlag auf die Schulter und ich kehrte meiner Heimat den Rücken. Es dauerte nicht lange und wir erreichten das schützende Geäst der Bäume, kühlen Erdboden und entflohen dem beißenden Geruch nach Feuer und Tod. Zum ersten Mal erlaubte ich mir aufzuatmen und sah meiner Tante an, dass auch sie sich eine winzige Pause gönnte. Der Wald roch erdig, würzig und nach frischem Holz. Noch vor einem Tag jagte unser Volk in diesem Wald, erlegte Böcke, Wölfe und hin und wieder sogar einen Bären. Heute Nacht wusste ich, dass wir auf den Schutz des Waldes angewiesen waren.

      Bakta zog mich unermüdlich weiter, obwohl ich mich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Ich lief blind durch die Dunkelheit, klammerte mich unentwegt am Mantel meiner Tante fest. Meine Kräfte schwanden. Die Müdigkeit zerrte an meinem Körper. Seltsame Gedanken drangen durch meinen Kopf.

       Ich will sterben. Nein, ich will leben. Ach, gib es doch zu, du hast Angst zu leben und zu sterben. Du bist ein Feigling, Udy Häuptlingstochter.

      Plötzlich stoppte Bakta. Schnaufend beäugte sie unsere Umgebung, empfand sie scheinbar für sicher. Wir rasteten unter einem großen Baum, umgeben von Sträuchern und dem Schutze der Nacht. Liebevoll breitete sie ihren Mantel auf der Erde aus, auf dem ich mich keuchend fallen ließ. Ich war so müde und leer und dennoch erlaubten mir die wirren Gedanken keine Ruhe. Trotzdem drehte ich mich von Bakta fort und tat, als ob ich schliefe.

      „Ich erlaube dir nicht zu sterben“, sprach Bakta in die Nacht und mit einer rauen Stimme, die zur Dunkelheit passte. Als ich keine Reaktion zeigte, schlug sie mir gegen die Schulter.

      „Halte mich nicht zum Narren, Udy Häuptlingstochter! Ich weiß, dass du nicht schläfst.“

      „Lass mich in Ruhe“, zischte ich herausfordernd und ihrer Schläge müde. „Wir werden alle sterben! Ob ich jetzt zu meinen Ahnen gehe oder morgen. Was macht es für einen Unterschied? Ich wünschte, du hättest mich in der Hütte verbrennen lassen. Unser Volk ist tot – alles ist zerstört! Wo wollen wir hin? Wo können wir hin, Bakta? Die Soldaten werden uns erkennen, ganz egal wo wir uns aufhalten werden. Ein Leben auf der Flucht? Ist dies das Schicksal, das unsere Göttin für uns erwählt hat? Lieber sterbe ich hier und jetzt, als ein solches Leben zu führen.“

      Trotzig reckte ich mein Kinn nach vorn. Wenn meine Tante mich verprügeln wollte, sollte sie es ruhig tun. Ich war nicht mehr in der Lage, etwas zu empfinden. Körperliche Schmerzen erinnerten mich zumindest daran, dass ich noch am Leben war.

      „Bist du von Sinnen, Kind? Du redest, als wärst du bereits tot!“

      „Das bin ich.“ Die Wut verrauchte und entblößte die Trauer, die sich dahinter versteckte. „Mutter... Vater... Ich bin so müde Bakta, so müde...“

      Die Tränen rollten über mein Gesicht. In diesem Moment legte meine Tante, ganz im Gegensatz zu ihrer Natur, den Arm um mich, und ich weinte und schrie laut in ihre Umarmung gehüllt. Sie strich geduldig und tröstend über meinen bebenden Körper, bis ich keine Tränen mehr weinen konnte.

      „Es