Susanne Sievert

Sternstunde


Скачать книгу

ich schämte mich für meinen Ausbruch. „Du wirst überleben. Du musst überleben.“

      „Du redest blöd daher.“ Mit dem Handrücken wischte ich die Tränen fort. „Und in Rätseln. Wie immer.“

      Leise lachend löste Bakta die Umarmung.

      „Du bist meine Familie, Udy. Und nun, da deine Eltern von uns gegangen sind, übernehme ich die Verantwortung. Außerdem…“, senkte sie ihre Stimme. „…habe ich dich im Traum gesehen, Kind. Das Leben hat für dich ein besonderes Schicksal erwählt.“

      „Ach Bakta“, stöhnte ich und verdrehte merklich die Augen.

      Meine Tante erzählte meiner Familie und mir oft von ihren Träumen, und nichts von dem, was sie uns vorhergesagt hatte, war jemals eingetreten. Es waren, wie sie selbst sagte, nur Träume.

      „Hör mir zu!“, forderte sie mit eisiger Stimme.

      Abwinkend legte ich mich auf das Lager, hüllte mich in ihren Mantel und zog den Stoff hoch bis zu meinem Gesicht.

      „Davon will ich nichts hören“, murmelte ich, noch bevor ich die Augen schloss. „Die Hoffnung, die in deinen Träumen liegt, kannst du für dich behalten.“

      Sie sagte kein Wort mehr, bis ich einschlief.

      Mit einem heftigen Stoß in die Rippen weckte Bakta mich aus meinen Träumen. Auf der einen Seite dankte ich ihr, denn meine Träume bestanden aus Blut, kreischenden Drachen und Soldaten in klirrenden Rüstungen, aber auf der anderen Seite wollte ich nur bis zu meinem Lebensende schlafen.

      „Wir gehen weiter“, erklärte sie kurz angebunden.

      Sie streckte müde ihre Arme in die Höhe, enthüllte ihre wahre Größe. Immer wieder erstaunte mich ihre Gestalt, und ich fragte mich, ob ich jemals zu solcher Größe heranwachsen würde. Meine Statur war für das Volk der Ahm Fen eher untypisch. Mein Körper war klein und zierlich – zu dünn und zu schwach für das raue Land. Meine Tante erzählte mir immer wieder, wie enttäuscht mein Vater war, als er den kleinen Säugling in den Armen hielt, der gerade auf seine Handfläche passte.

      In unserem Blut fließt das Geschlecht der Riesen. Von Natur aus ist das Volk der Ahm Fen grob, grimmig und Fremden feindlich gesinnt. Ahm Fen ist unsere Göttin und stolz trägt jeder Riese ihr Geburtsmal auf der Stirn: Eine mit drei roten Strahlen durchzogene Sonne.

      Zur Enttäuschung meines Vaters war mein Geburtsmal nur schwer zu erkennen. Ein verkrüppeltes Bild auf meiner Stirn, von dem niemand sagen konnte, was es war. Die weisen Alten sprachen von Unheil, aber meine Mutter wollte von alledem nichts wissen und drohte jedem, der gegen mich etwas sagte, mit Folter und Tod. Die wispernden Stimmen starben schnell, niemand wünschte den Groll meiner Mutter.

      Mein Vater gab mir daraufhin den Namen Udelka. Übersetzt bedeutet mein Name in unserem Dorf "die Unvollständige". Meine Mutter aber nannte mich von Geburt an nur Udy. Ich war ihr einziges Kind - ihr Sonnenschein. Aus diesem Grund erwählte sie auch diesen Namen für mich, denn Udy bedeutet Sonne.

      Ich unterdrückte ein leises Schluchzen, als ich mich an die Umarmungen meiner Mutter erinnerte. Und daran, dass ich sie nie wieder spüren würde.

      „Vorwärts, vorwärts“, drängte Bakta mit ernstem Blick.

      Zügig räumten wir unseren Lagerplatz zusammen und vernichteten alle Spuren, die unsere Anwesenheit verraten konnten. Wie gehetzte Tiere flüchteten wir durch den Wald, folgten einem Weg, der ins Ungewisse führte und fürchteten uns vor dem kleinsten Schatten.

      Nein, sollte die Flucht unser Leben bestimmen? Auch wenn ich neben Bakta wie ein Zwerg wirkte, so besaß ich dennoch denselben Stolz wie alle Ahm Fen Krieger.

      Ich verlangsamte meine Schritte, bis ich einfach stehen blieb. Irritiert davon, meine Schritte nicht mehr neben ihren zu hören, blickte Bakta über ihre breite Schulter zurück, und hielt sogleich in ihrem Tempo inne.

      „Weiter!“, befahl sie so streng, wie mein Vater es immer gewesen war. Es war, als blickten seine eisigen Augen auf mich herab.

      Mit verschränkten Armen schüttelte ich den Kopf.

      „Nein, ich gehe keinen weiteren Schritt.“

      Bakta trat schnaubend auf mich zu. Sie erhob drohend ihre Hand, schlug aber nicht zu. Stattdessen blitzte es in ihren Augen auf, und ein Lächeln legte sich auf ihr Gesicht.

      „Am Tag deiner Geburt, als ich dich eigenhändig aus deiner Mutter zog, wusste ich: Dieses Kind wächst zu einer starken Frau heran. Auch wenn du ein Zwerg bist.“

      Meine Tante lachte, und ich konnte ihrem krächzenden Lachen nicht widerstehen. Das war das erste Mal, dass sie meine Größe liebevoll und nicht vorwurfsvoll verspottete.

      „Wo laufen wir hin, Bakta?“

      „Kannst du dich an die Geschichte der Bergriesen erinnern, die ich dir in Kindertagen erzählte?“

      Meine Tante erzählte mir als Kind so manche Geschichten, doch die der Bergriesen blieb mir besonders in Erinnerung. Nicht nur, weil sie brutal und blutrünstig waren, sondern auch unvorstellbar weit ab von der wirklichen Welt. Jedes Mal wenn es donnerte und blitzte, sagte Bakta zu mir, die Bergriesen beginnen ihre Wanderung zu den ewigen Gefilden.

      „Erzähl mir bitte nicht, wir folgen den Spuren der Bergriesen...“

      Ich schlug mir ungläubig gegen die Stirn, als Bakta meinem Blick auswich.

      „Himmel, Bakta!“ Meine Schreie hallten hohl durch den Wald. „Du klammerst dich an Träume und Geschichten, während das wahre Grauen unser Land heimsucht! Wir sind auf der Suche nach Mythen und Legenden, die du dir in deinen eigenen Träumen zusammen gesponnen hast. Du bist verrückt!“

      „Nein, hör mir zu...“

      Ein Pfeil schoss an meinem Ohr vorbei.

      Die Federn am Ende des Holzes streiften meine Wange, und einen Augenblick später steckte der Pfeil im Baum. Im Augenwinkel beobachtete ich, wie Bakta zu dem Schwert griff, das sie unter ihrem Mantel trug, es entschlossen und ohne Furcht hielt. Das Schwert meines Vaters. Mein Atem stockte. Ich bereute meine Worte, meinen Wutausbruch. Mit tränenverhangenem Blick suchte ich nach einer entschuldigenden Geste. Mein Mund öffnete sich, doch meine Tante schüttelte nur ihren Kopf.

      „Sagte ich nicht, dass sich die restlichen Bastarde im Wald verstecken werden?“

      Der Mann lachte, und als er einen Schritt nach vorne trat, vernahm ich wie in meinem Albtraum das Klirren seiner schwarzen Rüstung.

      „Es sind nur eine Frau und ein Mädchen. Mach schnell. Ich bin müde, und will zurück zum Lager. Die Nacht war lang, ich habe genug von diesen Barbaren gesehen. Mehr, als ich in diesem Leben vertrage.“

      Langsam und zitternd drehte ich mich um. Es waren drei Soldaten, die vor uns standen und uns beobachteten. Ein Soldat mehr, als ich vermutete.

      „Egal was passiert, Udy“, sprach meine Tante in unserer Stammessprache, denn diese Worte waren nur für mich bestimmt. „Überlebe und gehe deinen Weg. Auf dich wartet eine ganz neue Welt.“

      Eine Träne rollte über meine Wange. Die Soldaten lachten schallend über uns.

      „Seht euch die Bastarde nur an! Ihre Sprache klingt wie das Schnaufen meines alten Gauls und sie bewegen sich wie fette Schweine“, jaulte einer von ihnen.

      „Die Tiere nehmen wohl Abschied voneinander“, grölte ein anderer.

      Nein, schrie ich in Gedanken, und als ob meine Tante meine Gedanken lesen könnte, antwortete sie mit warmer Stimme: „Folge deinen Träumen, Udy Häuptlingstochter, und lebe weiter.“

      Wie eine schwere Glocke tönte Baktas Kriegsschrei in den Wald hinein. Mit dem ersten gezielten Schlag ihres Schwertes zerteilte sie den Soldaten, der Pfeil und Bogen trug. Überrascht über ihre Kraft zogen die beiden Soldaten ihre Waffen und griffen meine Tante von zwei Seiten an. Mühelos wehrte Bakta die ersten drei Angriffe ab, schwang ihr Schwert wie unsere Göttin Ahm