Florian Kalenda

Eisenglanz


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kleiner Bruder. „Gleich bricht es los.“

      Wirklich, ein Wind kam auf. Fauchend drang er in den Wald ein, fuhr durch die Bäume und rüttelte an den morschen Ästen. Isanpert steckte das Messer in den Gürtel und trieb die Schweine zusammen.

      Er zählte. Neun Tiere mussten es sein. Der Lärm machte sie unruhig. Mit einem Stock versuchte Deso zu verhindern, dass sie von dem schmalen Weg abwichen, den die Brüder über die Jahre gebahnt hatten und der bei allen nur Schweinepfad hieß.

      Ein Schwein rannte quiekend ins Unterholz. Deso wollte es einfangen, aber Isanpert rief ihm zu, erst müssten sie die anderen zurückbringen.

      Gegen den Wind gelehnt lief Isanpert neben der Herde. Auf der Rodung galt es, den Hanfstrick zu heben und das Gatter zu öffnen, bevor eines der Schweine in Richtung Haus oder zu den Äckern ausriss. Sie scheuchten die Tiere in die Umzäunung. Der Regen setzte ein, als Isanpert eben den Strick über den Pfosten legte.

      „Geh hinein“, rief er seinem Bruder zu. Er selbst kehrte um, rannte mit dem Wind im Rücken den Pfad hinunter, suchte im Platzregen nach Spuren, sah unter Büsche und konnte gerade noch ausweichen, als ein morscher Ast von einer Eiche brach, der mehr wiegen mochte als er selbst.

      Er wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. Hinter sich hörte er etwas schnaufen, fuhr herum. Es war nicht das Schwein, es war Deso, der lieber seinem Bruder als dessen Anweisungen gefolgt war. Isanpert seufzte.

      Mit schweren Kitteln und leeren Händen kehrten sie zum Hof zurück. Das Herdfeuer brannte, Rauch hing unterm Dach. Ihre Mutter Ula rührte einen Gerstenbrei in einer Schüssel, die sie in die Glut gestellt hatte. „Ihr seid ja ganz nass“, sagte sie.

      „Weiß ich“, sagte Deso, zog den Kittel aus und schüttelte seine Locken, dass die Tropfen stoben. Er hockte sich zu Füßen der alten Gisla auf den Boden aus gestampftem Lehm, der die Feuerstelle umgab. Mit nassen Fingern erstickte er einen Funken, der aus der Glut gesprungen war.

      „Aber doch nicht am Herd“, rief die Mutter. „Setz dich nach hinten, damit du mir nicht im Weg bist.“ Sie wies mit dem Arm in Richtung des Vaters, der ein Flechtwerk ausbesserte. Es grenzte einen für Vorräte und Werkzeuge vorbehaltenen Bereich ab. Dort hatte das Haus einen niedrigen Hintereingang.

      Hinter dem Flechtwerk stand Isanpert. Von seinem grünen Kittel tropfte das Wasser. Er merkte es nicht, er war damit beschäftigt, Stricke an beide Enden des entrindeten Asts zu binden. Den einen Strick wand er um einen Querbalken, den zweiten knotete er um einen Stein, als Gewicht, damit das Holz gerade blieb, während es trocknete.

      Als er zufrieden war, streifte er seinen nassen Kittel ab, breitete ihn auf dem Boden aus und zog einen alten, engen an, den er aus einer Kleiderkiste nahm.

      „Morgen werden wir wieder Löcher stopfen müssen“, sagte Gudo, der Herr des Hauses.

      Isanpert richtete den Blick nach oben. Das strohgedeckte steile Dach schwankte im Wind. „Ich kann es machen. Es ist noch etwas trockenes Ried im Schuppen.“

      Draußen tobte der Sturm. Stämme ächzten, schwere Äste brachen und polterten auf die Erde. Für einen Augenblick wurde alles von einem Schrei übertönt.

      „Was war das?“, fragte Deso.

      „Das war kein Mann“, sagte Gudo.

      „Ein Weib war es auch nicht“, warf Gisla ein.

      „Bestimmt ein Wolf“, sagte Deso.

      Noch einmal ertönte das Geräusch, ein Ton, schrill und doch tief, der sich lang zog, dann abbrach.

      „Das war kein Wolf“, sagte Isanpert. „So etwas habe ich im Leben nie gehört.“

      Alle gaben ihm recht, nur die alte Gisla war sich nicht sicher.

      Sie hatten Grund, sich zu fürchten. Einsam stand die Siedlung. Der Wald drängte von allen Seiten heran. Im Wald lebten wilde Tiere und üble Männer. Erst diesen Sommer hatte ein Bär zwei Rinder gerissen.

      Sie waren zu wenige. Es brauchte viele starke Arme, um im Wald zu siedeln. Mehr als ein Dutzend Männer waren sie früher gewesen. Vier Wohnhäuser hatten hier gestanden. Eines war abgebrannt, zwei verrotteten langsam. Weil die Ernten schlecht waren, die Ähren schmal blieben und die Äpfel klein, waren die Männer weggegangen.

      Zu acht lebten sie auf Gramlinga: Gudo, seine alte Mutter Gisla und sein Weib Ula. Dann die Kinder: Isanpert und Deso und die kleine Heila. Schließlich zwei Leibeigene, Engilpert und Leuba.

      Der Schrei kam vielleicht gar nicht aus dem Wald. Die Straße vor dem Tor verband den Bischofssitz Frigisinga mit den Ländern der Alamannen. Gramlinga lag einsam, aber es zogen doch täglich Männer vorbei, Händler, berittene Boten, Kriegerscharen, Pilger oder Flüchtlinge.

      Ja, der Schrei konnte von der Straße kommen. Jemand konnte in Not sein. „Wir müssen nachsehen.“ Ula blickte zu ihrem Ältesten. Isanpert nickte. An Gudo vorbei lief er nach hinten, in den Vorratsraum. Auf einem Brett lag dort, geölt und in ein Tuch gewickelt, ein Sax. Er nahm das einschneidige, armlange Schwert und kehrte in den Wohnraum zurück.

      „Legt lieber einen Riegel vor“, sagte Gudo. Gramlinga hatte nicht einmal ein Pfahlwerk, um Feinde abzuhalten. Nur ein Etter, ein Flechtzaun, umgab die Häuser, die Schuppen, den Brunnen.

      Bevor jemand den Rat befolgen konnte, öffnete sich die Tür. Ein Windstoß fuhr durch das Haus. Alle drehten die Köpfe. Nasse Gestalten schoben sich herein.

      Der erste Mann war groß und breit gebaut, mit einem Schwert gegürtet und von oben bis unten mit Blut bespritzt. Das Regenwasser hatte nicht alles abspülen können. An der Spitze seiner krummen Nase, ja sogar zwischen seinen blonden Haarsträhnen hingen rote Tropfen. Er rief in den Raum: „Guten Abend!“

      Sie starrten ihn erschrocken an. Mit all dem Blut sah er aus wie ein Krieger, der eben aus der Schlacht kommt. Dann wandten sich ihre Blicke den Männern dahinter zu. Die kleine Heila flüsterte: „Ein Elf und ein Zwerg!“

      Der zweite Mann war schmal und blass und hoch wie eine Birke. Er trug die schwarzen Haare am Hinterkopf lang. Nur von der Stirn bis zu den Ohren lag die Kopfhaut frei, was die Ohren noch schmaler, ja spitz wie Hörner wirken ließ. Von seinen Augen gingen tiefe Falten aus. Er mochte vierzig Sommer oder mehr erlebt haben. Es ließ sich schwer schätzen, weil die Höhlen um die Augen schwarz gefärbt waren.

      Den Dritten hätte man im ersten Augenblick für ein Kind halten können, denn er war weitaus kleiner gewachsen als seine Begleiter. Seine vornehme Kleidung, das ernste Gesicht und der durchdringende Blick wiesen ihn als Mann von wenigstens zwanzig Sommern aus.

      Der Vierte schloss die Tür. Hinter seinen Begleitern fiel er nicht weiter auf, war er doch von durchschnittlicher Statur. Sein von einem dünnen blonden Bart gerahmtes Gesicht wirkte gefällig, aber nicht auffällig. Auf der Brust trug er ein großes Kreuz aus Bronze zum Zeichen, dass er zum Kirchendienst geweiht war.

      „Ich hätte gerne ein Stück Tuch, um mich zu reinigen, bevor ich mich und meine Begleiter vorstelle“, sagte der erste Fremde in die Stille hinein.

      Das löste die Starre. Ein Wasserkrug wurde gereicht, eine Sitzbank herbeigeschafft. Gisla nahm einen halbwegs sauberen Lumpen von einem Hängeregal. Isanpert schob den Sax unter eine Bettstatt. Gudo sagte nach einem Räuspern: „Guten Abend, kommt herein!“

      Die kleine Heila wandte sich ab und drängte sich ängstlich an Isanpert. Der nahm sie in die Arme und sagte leise: „Das sind auch nur Männer!“ Als das nicht genügte, um das Kind zu beruhigen, richtete er zum Beweis das Wort an den Anführer der Gäste. „Wieso bist du so blutig?“

      Der Mann lachte: „Das ist nur Pferdeblut.“ Er wischte sich mit dem Lumpen über Gesicht und Haare. Dann sprach er Gudo in einem förmlichen Ton an.

      „Wir bitten um gastliche Aufnahme in diesem Haus. Das Unwetter hat uns auf der Straße überrascht. Wir drei Brüder begleiten diesen Prediger“ – er wies auf den dünnen Mann mit den schwarzen Augenlidern – „nach Frigisinga. Heute hatten wir gehofft, bis an die Ambra zu meinem Vater