Emmi Ruprecht

Drei Jahre später


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sich immer mühseliger die Steigungen hinaufquält, sind es bestenfalls noch winzige Dörfer, die sie auf ihrem Weg zu ihrem Urlaubsort passieren – sehr zum Pläsier ihres Freundes am Steuer und zu ihrem eigenen immer größer werdenden Unbehagen. Sollte es tatsächlich so schlimm kommen, wie Matthias sagte? Wird es wirklich weit und breit kein Café, kein Geschäft, keinen Kiosk, das heißt überhaupt gar kein Leben geben, außer ein paar Glocken tragenden Nutztieren und den Einsiedlern auf dem Gut mit ihren verrückten Gästen?

      Entsetzlich! Warum um Himmels willen tut sie sich das an?

      Ulla bereut mittlerweile, dass sie mitgekommen ist. Sie war von Anfang an nicht begeistert von der Idee, ihren Urlaub irgendwo weitab vom Schuss in der italienischen Pampa zu verbringen. Doch Matthias war so begeistert und schwärmte in den höchsten Tönen von der Musik, den Menschen und dem fantastischen Essen, dass sie irgendwann nachgab. Wenn er wirklich unbedingt an diesen Ort in Italien wollte, dann konnte es ganz verkehrt nicht sein. Dachte sie.

      Im Laufe der Fahrt jedoch bauten sich Zweifel auf, ob sie mit dieser Einschätzung vielleicht falsch lag. Ganz sicher ist sie sich, als Matthias in weiter Ferne eine Ansammlung von alten Steinbauten inmitten von nichts als Wald und ein bisschen Wiese sieht und meint, dass es ganz ähnlich auch auf dem Gut aussähe.

      Um Himmels willen! Er meint es ernst! Warum hat sie ihm bloß nicht geglaubt? Jetzt hat sie den Salat!

      Die junge Frau fragt sich, wie sie eine ganze Woche in dieser Einöde durchhalten soll – ohne Shopping, ohne auszugehen, ja sogar ohne Fernseher und – wenn Matthias auch damit nicht übertrieben hat – dann auch noch ohne Internet! Keine Zerstreuung weit und breit! Nur Bäume und … Bäume! Und das ohne jeglichen Komfort, nur ausgestattet mit den überlebensnotwendigen Grundlagen wie fließendem Wasser und einem Dach über dem Kopf! Wen interessiert es, ob die Aussicht grandios ist oder die Zimmer aussehen wie aus einem Fotoband über die traditionelle italienische Lebensart auf dem Land? Was soll sie anfangen mit bunten Gemüseaufläufen aus eigener Ernte, mit intensiv duftenden Kräutern, mit knackigen Salaten frisch aus dem Garten oder mit Mozzarella und Parmesan von Höfen der Umgebung? Sie isst nun mal am liebsten Burger und Pommes oder paniertes Schnitzel und natürlich auch Pasta und Pizza. Aber doch nicht so einen Ökokram, der sich kein bisschen lecker, sondern einfach nur furchtbar gesund anhört! Sie will schließlich Urlaub machen und keine Kur! Und schon gar nicht will sie eine ganze Woche in einem Survival-Camp zubringen! Warum hat sie sich nur dazu überreden lassen mitzukommen?

      „Da vorne beginnen die Serpentinen! Das wird fantastisch! Juppieeeeh!“

      Matthias‘ begeisterten Ausruf quittiert seine Freundin mit einem genervten Augenrollen. Doch das kann er nicht sehen, denn er muss sich auf die Kurven der immer schmaler werdenden Straße, die an steilen, spärlich bewachsenen Felshängen vorbeiführt, konzentrieren.

      Wo bringt er sie nur hin? Und warum machen sie keinen vernünftigen Urlaub, so wie ihre Freunde, ihre Bekannten und überhaupt jeder normale Mensch? Sie wäre so gerne nach Mallorca geflogen! Es hätte bestimmt günstige Pauschalangebote gegeben, die vermutlich sogar weniger kosteten, als sich am Hintern der Welt zu gruseln und zu allem Überfluss auch noch einen nervigen Musikkurs mitmachen zu müssen. Dazu hat sie definitiv keine Lust! Sie hat ihrem Freund auch gesagt, dass sie keine Gitarre spielen kann, und er hat ihr versprochen, dass sie das auch nicht muss! Allerdings hat er dann trotzdem zwei Gitarren eingepackt – eine für sie – vielleicht käme sie ja noch auf den Geschmack.

      Dabei haben sie in diesem Auto sowieso kaum Platz! Sie hätte statt einer doofen Gitarre lieber noch ein paar Schuhe mehr mitgenommen! Aber Matthias hatte gemeint, etwas anderes als Turnschuhe oder maximal einfache Sandalen bräuchte sie nicht, weil man etwas anderes dort sowieso nicht tragen könne.

      Als er das gesagt hatte, hatte sie die Augen verdreht und gedacht, dass er wirklich keine Ahnung von Frauen hatte, schon gar nicht von deren Schuhen und vor allem davon, was sie alles tragen können, wenn sie es wollen! Hätte sie ihn mal ernst genommen! Dann wäre ihr mit Sicherheit spätestens kurz vor Antritt der Reise noch eine Ausrede eingefallen, warum sie unbedingt zu Hause bleiben musste! Lieber gar keinen Urlaub als ein italienisches Dschungelcamp!

      Aber eins ist mal klar: Wenn sie das hier überlebt, dann wird sie sich nie, nie, nie wieder breitschlagen lassen, bei seinen spinnerten Urlaubsplänen mitzumachen! Dann fährt sie eben alleine irgendwohin, wo es schön ist, wo Strand ist, wo Menschen sind und wo man auch mal Spaß haben kann!

      Ulla seufzt. Sie weiß nur zu gut, dass sie sich so etwas gar nicht leisten kann. Wenn Matthias den Urlaub nicht bezahlen würde, dann müsste sie zu Hause bleiben. Bei diesem Gedanken verfinstert sich ihre Miene noch mehr, wenn das überhaupt möglich ist.

      Matthias stupst sie in die Seite und zeigt durch die Frontscheibe auf ein schmales Tal, das sich vor ihnen öffnet und von schwindelerregend steilen Felshängen flankiert wird, die an ihren zerklüfteten Wänden nur ein paar wenigen, sehr genügsamen Nadelhölzern eine Heimat bieten können.

      „Ist das nicht großartig?“ Er lacht aufgekratzt. „Hierher verirrt sich bestimmt nur selten ein Sonnenstrahl. Das sieht doch fast aus wie im Märchen, findest du nicht?“

      Ulla brummt etwas, doch Matthias erwartet auch gar keine Antwort. Er ist so mit der Aussicht und seiner eigenen Begeisterung beschäftigt, dass er Ullas besorgniserregenden Stimmungsabsturz gar nicht realisiert. Ihr ist das nur recht: Schließlich ist die Sache jetzt auch nicht mehr zu ändern und sie hat gerade überhaupt keine Lust, mit einem völlig überdrehten Matthias darüber diskutieren zu müssen, warum das hier ganz toll sein soll und dass sie nur abwarten möge – sie würde schon sehen. Sie findet, sie hat bereits genug gesehen!

      Resigniert blickt sie die Felswände hinauf. Warum kann sie nicht einmal Glück haben? Sie hat es doch nun wirklich nicht leicht in ihrem Leben. Als alleinerziehende Mutter muss sie zusehen, wie sie klarkommt. Es ist schwer genug, von dem wenigen Geld zu leben, das sie als Aushilfe an der Tanke, im Supermarkt oder, wenn sie mal ganz viel Glück hat, als Urlaubsvertretung in der Produktion verdient. Voll arbeiten kann sie sowieso nicht, weil ihr fünfjähriger Sohn sie noch viel zu sehr braucht. Er ist so ein wildes Kind! Eigentlich muss sie den ganzen Tag um ihn herum sein, weil er ständig etwas anstellt, in Wut- und Trotzanfällen herumschreit und Sachen durch die Gegend wirft. Vermutlich hat er das von seinem Vater!

      Ullas Gesicht nimmt einen verächtlichen Ausdruck an. Leon! Wieso hatte sie sich damals nur mit ihm eingelassen? Ihre Mutter hatte sie gewarnt. „Pass auf, dass du von dem nicht schwanger wirst“, hatte sie ihr immer wieder gesagt. Und Ulla hatte das mit dem schwanger werden auch gar nicht vorgehabt. Doch dann hatte sie diese Magen- und Darm-Sache gehabt und sich übergeben müssen. Das war vermutlich der Grund gewesen, warum sie trotz Pille ihren Sohn bekommen hatte. Jedenfalls hatte ihr Frauenarzt das vermutet.

      Ihre Mutter hatte ihr damals mit einer Abtreibung in den Ohren gelegen. Sie würde sich nur unglücklich machen, hatte sie geschimpft. Der Leon würde bestimmt nicht lange bleiben! Außerdem würde der ja selbst nur von der Hand in den Mund leben. Der könnte doch keine Familie versorgen!

      Natürlich hatte sie nicht auf ihre Mutter gehört. Sie wollte einfach nicht hören. Sie wollte, dass es mit Leon klappte, dass er sie heiratete, ihnen eine gemeinsame Wohnung besorgte und sie sich in Ruhe um ihr Kind kümmern konnte!

      Zunächst hatte Leon ihr das auch versprochen. Vielleicht nicht richtig versprochen, aber zumindest blieb er bei ihr, eine Zeit lang. Doch als man Ulla ihre Schwangerschaft immer mehr ansah, kam er seltener. Im Krankenhaus besuchte er sie dann nur noch einmal nach der Entbindung, dann war es aus. Er ließ sie einfach hängen und sie zog mit ihrem Kind bei ihrer Mutter ein. Die war überhaupt nicht glücklich mit der Situation und ständig musste Ulla mit ihr streiten, weil sie sich in ihre Angelegenheiten einmischte oder herumnölte, dass sie es ja gleich gesagt hätte und so weiter.

      Aber ihre Mutter half ihr auch, Unterhalt von Leon einzuklagen und sich auch um weitere finanzielle Unterstützung zu kümmern, die Ulla als mittelloser, alleinerziehender Mutter zustand. Das hätte sie alleine nicht geschafft! Schließlich musste sie sich ja um das Kind kümmern!

      Doch lange hielt Ulla es nicht bei ihrer Mutter aus. Zwar war die Situation