Emmi Ruprecht

Drei Jahre später


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wollte. So konnte sie sich mit Freundinnen treffen, aber vor allem auch einen neuen Mann kennenlernen. Schließlich war das ihre einzige Chance, der beengten Wohnsituation bei ihrer Mutter zu entkommen!

      Tatsächlich fand Ulla nach ein paar Monaten einen Kerl, bei dem sie einziehen konnte und der sogar Felix, ihren Sohn, leidlich akzeptierte. Aber lange ging das nicht gut. Also suchte sie sich den nächsten Mann, und so ging einer und ein anderer kam. Sie zog mal hierhin und mal dorthin und zwischendurch, wenn kein Partner da war, zurück zu ihrer Mutter. Weil ihr Kind klein war und selbst der mickrige Unterhalt durch den leiblichen Vater nur sehr unregelmäßig kam, wenn überhaupt, ging es nicht anders.

      Bis Matthias sie eines Tages in einer Disco ansprach! Mit ihm hat sie endlich mal ein bisschen Glück gehabt! Endlich mal einer, der einen richtigen Job hat und der auch mit Felix zurechtkommt!

      Als Ulla ihn kennenlernte, da wusste sie gleich, dass sie sich auf ihn verlassen kann. Obwohl Matthias damals schon vierunddreißig Jahre alt war, wirkte er dennoch wie ein lieber, etwas zu groß geratener Junge mit seinen fast eins neunzig, seinen kurzen blonden Haaren und der schwarzen Kunststoffbrille. Deshalb fasste Ulla von Anfang an Vertrauen zu ihm. Als er dann auch kein bisschen geschockt, ja eher sogar begeistert reagierte, als sie ihm von ihrem Kind erzählte, da war für sie klar: Mit dem zieht sie zusammen! Bei dem wird sie es gut haben – zumindest weitaus besser als bei ihrer ständig keifenden Mutter!

      Das ist jetzt fast zwei Jahre her und eigentlich kann Ulla ganz zufrieden mit dem sein, wie sie es getroffen hat. Matthias geht arbeiten und wenn er zu Hause ist, dann spielt er auch gerne mit Felix. Gut … seine Arbeitszeiten sind etwas ungünstig, weil er als Koch fast immer abends arbeiten muss. Das ist natürlich blöd, wenn Ulla mit ihren Freundinnen ausgehen will! Aber dann springt von Zeit zu Zeit immer noch ihre Mutter ein, um Felix zu hüten – wie auch jetzt, wo Matthias und sie nach Italien fahren. Matthias hätte den Kleinen sogar mitgenommen, doch als Ulla erfuhr, dass ganz sicher kein „Kinderparadies“ oder irgendwelche Animateure in Italien auf sie warteten, wo sie den Kleinen abgeben konnte, fand sie es doch besser, ein paar Tage kinderfrei zu haben. Schließlich kümmerte sie sich fast den ganzen Tag um ihn, wenn er nicht vormittags im Kindergarten war oder sie ein paar Stunden irgendwo arbeiten konnte. Da käme sie auch mal gut eine Woche ohne ihn klar, dachte sie. Außerdem wusste sie, dass er es bei der Oma gut hatte. Die verwöhnte ihn mit Süßigkeiten und bei ihr durfte er den ganzen Tag fernsehen oder am Computer spielen, wenn er wollte.

      Doch auch, wenn Ulla weiß, dass sie es mit Matthias auf jeden Fall besser getroffen hat als mit all seinen Vorgängern – sie hat sich mehr vom Leben erträumt! Mit seinem Gehalt kann auch Matthias keine großen Sprünge machen und es reicht gerade so für sie beide, denn ihr Verdienst und das bisschen Unterhalt für ihren Sohn Felix sind kaum mehr als ein Taschengeld. Davon allein könnte sie nicht leben! Gerade deshalb kann sie nicht verstehen, warum Matthias nicht ein bisschen ehrgeiziger ist! Er könnte bestimmt mehr verdienen, wenn er sich mehr anstrengte! Und warum muss er eigentlich Koch sein? Das ist zwar toll, wenn er mittags oder auch abends, wenn er zufällig zu Hause ist, etwas Leckeres zaubert – und das kann er wirklich gut! Ulla hat während ihrer Beziehung schon fünf Kilo zugenommen! Aber gerade am Abend könnte sie ihn gut daheim gebrauchen. Dann müsste sie nicht immer auf ihre Mutter zurückgreifen, damit die auf Felix aufpasst, wenn sie mal etwas unternehmen will. Ein ganz normaler Job wäre da für Matthias doch viel besser! Woanders könnte er sicher auch noch mehr verdienen!

      Aber das kommt für Matthias nicht infrage. Deshalb müssen sie sich auch jeden Urlaub vom Mund absparen. Und was kriegt sie dafür? Einen Ausflug in die Wildnis! Ein Überlebenstraining in der Pampa! Da können sie sich einmal einen Urlaub leisten und ihrem Freund fällt nichts Besseres ein, als sich mit ihr in die Büsche zu schlagen! Sie wollte doch einfach nur mal ein bisschen Spaß haben und ein bisschen Komfort! Warum kann es ihr nicht einmal ein bisschen gut gehen?

      Matthias ist hingerissen. Je näher sie ihrem Ziel kommen, diesem unglaublichen Ort in Italien, wo er einen so großartigen Urlaub verbracht und so wundervolle Menschen kennengelernt hat, umso aufgeregter wird er. Jetzt sind sie schon fast da! Sie müssen nur noch diese unendlich erscheinende Abfolge von schmalen Haarnadelkurven hinter sich bringen, die sich meistens bergauf und manchmal auch bergab schlängeln und von Zeit zu Zeit immer grandiosere Aussichten immer weiter ins Land freigeben. Da, schon wieder so eine Aussicht, bei der man am liebsten anhalten und aus dem Auto steigen möchte, um sie zu genießen! Doch das wäre leider lebensgefährlich, wenn ein nachfolgendes Auto sie vielleicht an dieser unübersichtlichen und sehr schmalen Stelle nicht rechtzeitig sähe!

      Also fährt er weiter und eigentlich wünscht er sich ja auch nichts sehnlicher, als endlich anzukommen an diesem Ort, auf den er sich so gefreut hat! Auch auf die Menschen freut er sich, die ihm damals ans Herz gewachsen sind: Stefano, der eigentlich Stefan heißt und vor vielen Jahren seinen Job als Vertriebschef eines großen Unternehmens an den Nagel hängte, um in das Land zurückzukehren, aus dem seine Eltern ursprünglich nach Deutschland auswanderten, um dort zu arbeiten. Seine Frau Sandra, die begnadete Gitarristin, die sich nun voller Begeisterung um die zum Gut gehörende Landwirtschaft kümmert. Und natürlich Edith, Sandras Mutter, die, gesegnet mit dem Aussehen einer typisch italienischen Mama, den Kochlöffel schwingt und ihre Gäste mit ihrer vorzüglichen landestypischen Küche in Verzückung versetzt. Matthias freut sich auch auf Cosima und Don Carlos, der eigentlich Karl heißt, aber aussieht wie ein spanischer Flamencotänzer und deshalb diesen Spitznamen trägt. Carlos war früher Musicaldarsteller und gibt nun sein Können, ganz speziell sein gesangliches, an seine Schüler weiter. Seine Kollegin, die kleine, quirlige Cosima mit den langen roten Locken ergänzt Carlos‘ Gesangsunterricht durch intensive Einheiten an der Gitarre, wobei sie es immer wieder schafft, auch weniger versierte Gitarristen mit ein paar einfachen, aber effektvollen Schlag- und Zupftechniken an aufwändig anmutende Stücke heranzuführen und so in einer einzigen Woche beeindruckende Ergebnisse hervorzurufen.

      Ganz besonders jedoch freut sich Matthias darüber, dass auch einige der anderen Gäste von damals wieder dort sein werden: die hübsche, hochgewachsene Elli mit den hellblauen Augen und dem dunkelbraunen Pagenschnitt, die schicke, durch ihre markanten Gesichtszüge immer etwas streng aussehende, aber herzensgute Monika und natürlich Julie, die Dritte im Bunde der drei Frauen, die er damals im Urlaub kennenlernte.

      Bei dem Gedanken an Julie wird Matthias gleich noch etwas wärmer ums Herz. Die attraktive, manchmal etwas distanziert wirkende Schweizerin mit der braunen Lockenmähne und dem hübschen, breiten Lächeln findet er schon sehr faszinierend. Vielleicht liegt das an ihrer etwas spröden Art, die er heimlich bewundert, vielleicht aber auch an der Geschichte, die sie ihm – und nur ihm! – damals erzählte. Er hatte es wie eine Auszeichnung empfunden, dass sie sich ausgerechnet ihm anvertraute und Einblicke in ihr Leben schenkte, die sie sonst niemandem gewährte. Seit jenem Moment, den sie in der warmen Sonne auf einem Felsbrocken sitzend verbrachten, als sie ihm ihr Geheimnis anvertraute, das sie so lange schon quälte, fühlt er sich ihr besonders verbunden.

      Seitdem ist viel Zeit vergangen und sie stehen nur sporadisch im E-Mail-Kontakt. Doch immerhin schrieb sie ihm vor ein paar Monaten, dass sie sich mit Elli und Monika wieder für eine Urlaubswoche in Italien verabredet hatte. Warum hätte sie ihm das schreiben sollen, wenn sie sich nicht vielleicht ausrechnete, ihn, Matthias, dadurch überreden zu können, auch dort hinzukommen? Zwar weiß sie von Ulla und … um Himmels willen, nein! Darum geht es doch gar nicht! Sie sind Freunde! Vielleicht auch … Seelenverwandte, weil sie Dinge voneinander wissen, die für andere ein Geheimnis bleiben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Das allein ist schon etwas ganz Besonderes, was es nur selten im Leben gibt. Aber alles andere ist natürlich völlig abwegig! Julie wohnt schließlich in der Schweiz und er in Deutschland. Mindestens 400 Kilometer liegen zwischen ihnen. Da kommt man nicht mal eben so auf einen Kaffee vorbei!

      Wow! Dieses winzige Dorf, das sie gerade durchfahren! Als wäre hier in ferner, mystischer Vergangenheit die Zeit stehen geblieben! Eigentlich ist es nur eine Ansammlung von aus grauem Stein erbauten Häusern mit kleinen Fenstern, schiefen Holztüren, manche mit üppig blühenden Kästen und Blumenampeln geschmückt. Drei recht betagte Herren haben es sich auf einer kleinen Bank gemütlich gemacht und beäugen neugierig das Gefährt, das die oft geflickte Dorfstraße passiert, als würden solche Ereignisse