Emmi Ruprecht

Drei Jahre später


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Dieser Platz, wo sie die Mahlzeiten eingenommen haben, sieht noch genauso aus, wie sie ihn in Erinnerung hat! Sogar die ausrangierten, zu Blumentöpfen umfunktionierten Töpfe auf der Mauer am Rande der Essecke meint sie unverändert wiederzuerkennen. Und aus der Küche, hinter der nur einseitig geöffneten zweiflügeligen Holztür, vernimmt sie die vertrauten Klänge von eifrigen Handgriffen, die sicherlich das Abendessen vorbereiten. Kurz ist Julie versucht hineinzugehen und Edith und vielleicht auch Sandra zu begrüßen, die sie beide noch nicht gesehen hat. Aber dann entschließt sie sich, es sein zu lassen. Da drinnen wird man alle Hände voll zu tun haben, für die ganze Truppe zu kochen, und wenn sie dabei ständig von eintreffenden Gästen gestört werden, ist das vermutlich mehr lästig als angenehm!

      Einen Moment noch bleibt Julie unschlüssig stehen, dann läuft sie am Tisch und den Bänken vorbei ein paar langgezogene, in den Fels gehauene breite Stufen hinab. Auf den Platz dort unten hat sie sich besonders gefreut!

      Mit jedem Schritt, den sie sich abwärts bewegt, treten Bäume und Büsche an den Seiten zurück und geben den Blick frei auf eine Terrasse, die, im Halbrund angelegt, mit den weit in die Breite gezogenen Stufen anmutet wie ein Amphitheater. Jenseits der kleinen Mauer, die vor dem Abhang dahinter schützt, beginnt die Kulisse des Theaters, diese einzigartige, komplett unverstellte Aussicht über das Tal, das ganz weit in die fast unberührt scheinende Bergwelt hinausführt. Auf der großzügigen Terrasse angekommen hat man fast das Gefühl, allein auf einem hohen Berg zu stehen, die Welt zu seinen Füßen. Sich eine schönere Aussicht vorzustellen, erscheint fast unmöglich!

      Unwillkürlich seufzt Julie tief auf vor Entzücken. Langsam schreitet sie über den Platz und lässt sich schließlich auf der Mauer nieder. Von diesem Blick in die Ferne hat sie oft geträumt und jetzt ist er Wirklichkeit!

      Sie greift in ihre Hosentasche, zieht ein Päckchen und ein Feuerzeug hervor und steckt sich eine Zigarette an. Genüsslich inhaliert sie den Rauch und blickt in die Ferne. Dabei denkt sie zurück an den ersten Abend, damals vor drei Jahren, als sie auch hier auf der Aussichtsterrasse saß, ungefähr so wie jetzt. Es war bereits dunkel gewesen und von der oben liegenden Essecke war das fröhliche Geplauder und Gelächter der anderen bis zu ihr herunter gedrungen. Sie hatte allein hier unten gesessen und sich irgendwie ausgeschlossen gefühlt, obwohl sie das Alleinsein selbst gewählt hatte. Sie hatte gemeint, wegen ihrer dunklen Vergangenheit nicht zu denen gehören zu können, die ein „normales“ Leben lebten, eines, das nicht so verkorkst war wie ihres.

      Ausgerechnet Matthias, dieser unreife Bengel, hatte ihr damals zu einer anderen Sicht auf die Dinge verholfen. Seitdem hat sich einiges geändert. Vor allem hat sie sich geändert! Sie ist offener geworden, vertraut sich manchmal sogar anderen Menschen an und sieht sich weniger als Außenseiter als früher. Dennoch: Über die schlechten Zeiten in ihrem Leben spricht sie immer noch mit niemandem. Matthias war und ist der Einzige, der Bescheid weiß. Es muss es auch keiner wissen. Es reicht, wenn sie selbst ihre Vergangenheit irgendwann verwinden kann.

      Julie bläst stoßartig den Rauch ihrer Zigarette aus, fast ist es ein Stöhnen, was ihr unwillkürlich entgleitet.

      Sie hatte wirklich gedacht, dass sie es verwunden hat, dass sie endlich in einer neuen Welt angekommen ist und ihre Vergangenheit nicht mehr zählt. Damals, kurz nach ihrem Urlaub, hatte sie es sogar fertig gebracht, das Grab ihrer Eltern zu besuchen. Sie hat versucht, sich posthum mit ihnen zu versöhnen – nicht um ihrer Eltern willen, denn die hatten nichts davon und zumindest ihrem Vater wäre es vermutlich auch ziemlich egal gewesen. Aber um ihrer selbst willen wollte sie mit ihrer Vergangenheit abschließen und sie hatte das Gefühl gehabt, dass dieser Besuch auf dem Friedhof dazugehörte. Ein paar Tage später hatte sie dann gemerkt, dass sie sich leichter fühlte, befreit, und dass sie nicht mehr so oft an das denken musste, was war und was sie getan hatte. Sie hatte geglaubt, sie sei über den Berg, sie hätte es geschafft, ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Doch dann …

      Sie fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Tränen steigen ihr in die Augen. Jetzt bloß nicht weinen! Wer weiß, wie lange sie hier alleine ist. Es geschieht ja immer im ungünstigsten Moment, dass plötzlich jemand um die Ecke kommt, und das wäre jetzt ein ganz blöder Einstieg in den Urlaub!

      Julie versucht sich zu beruhigen und ihre Gefühle zurückzudrängen. Doch plötzlich ist alles wieder da. Plötzlich fühlt sie sich fast genauso wie vor drei Jahren, wie eine Außenseiterin, eine, die nicht dazu gehört. Doch dieses Mal ist der Grund nicht, dass sie etwas Schlimmes getan hat, sondern dass sie vielleicht etwas tun muss, was sie sich möglicherweise kaum verzeihen kann.

      Sie schaudert. Sie weiß nicht, was sie tun soll, und sie kann mit niemandem darüber reden. Wer sollte sie verstehen? Außerdem fürchtet sie sich gewaltig davor, am Ende von irgendwem zu irgendetwas überredet zu werden, was sie am Ende bereut. Nein, diese Sache muss sie alleine durchstehen. Da kann ihr niemand helfen! Wie auch?

      Kurze Zeit später drückt sie ihre Zigarette aus und zündet sich gleich darauf eine zweite an. Zur Beruhigung. Sie beschließt, dass sie an diese Sache keinen Gedanken mehr verschwenden wird – vorerst – wenn diese Zigarette zu Ende geraucht ist. Sie wird sich nichts anmerken lassen, einfach nur ihren Urlaub verbringen und am Ende der Woche wissen, was sie tun wird. Einfach so. Dann wird sie eine Entscheidung treffen, und zwar die, die sich für den Moment am besten anfühlt. Mehr kann sie nicht von sich erwarten. Doch bis dahin wird sie alles tun, um nicht mehr daran zu denken.

      Nach ein paar Minuten fühlt Julie sich fast wieder im Gleichgewicht. Sie erhebt sich nach einem abschließenden Blick auf das Tal – was für ein wunderschöner Ort das hier doch ist! – dreht sich um und schlendert die Treppenstufen hinauf. Die Essecke unter den beiden Platanen liegt immer noch verlassen da, nur eine grau getigerte Katze hat es sich jetzt auf dem Mauervorsprung zwischen zwei gelb und weiß blühenden Gewächsen in ausrangierten Kochtöpfen bequem gemacht. Julie kann nicht widerstehen, ihr weiches Fell zu streicheln und damit das pelzige Tier bei seiner vorabendlichen Siesta zu stören. Doch nach einer kurzen Irritation der Katze darüber, dass jemand sie aus Morpheus‘ Armen reißt, lässt sie sich die leichte Nackenmassage dann doch gefallen und leckt Julie mit ihrer rauen Zunge kurz über die Hand.

      Plötzlich hört Julie, dass sich in einiger Entfernung eine Tür öffnet. Neugierig hebt sie den Blick und lässt ihn über den großen Platz hinter dem Haupthaus gleiten, an dessen gegenüberliegender Seite ein zweistöckiger Turm steht, an den sich ein flacheres Gebäude schmiegt. Der Turm ist an zwei Seiten umgeben von einer gemütlichen Veranda, unter deren Dach sich eine kleine, unscheinbare Holztür befindet, die zum Musikraum führt. Aus dieser Tür tritt nun ein hochgewachsener, sehr schlanker Mann mit blonden, etwas struppigen Haaren, einem lässigen olivgrünen T-Shirt und ebensolchen dunkelgrauen kurzen Hosen zu groben, schon etwas ausgelatschten Schuhen. Julie kennt ihn und kann es kaum fassen: Das ist Josh! Wie um alles in der Welt kommt er hierher?

      „Josh!“, ruft sie, lässt die Katze im Stich und läuft erfreut quer über den Platz auf ihn zu.

      „Hi Julie!“, grüßt er lächelnd zurück und kommt ihr raschen Schrittes entgegen. „Schön, dich zu sehen!“

      „Ich hätte nicht erwartet, dich hier wiederzutreffen. Bist du extra aus Neuseeland angereist?“

      Julie ist überrascht. Natürlich – vor drei Jahren hatte er auch schon vom anderen Ende der Welt bis hierher finden müssen, sonst hätten sie sich nicht kennengelernt. Außerdem weiß sie, dass er familiäre Verbindungen nach Europa hat: Seine Mutter ist Deutsche und sie lebt – oder lebte zumindest damals – wieder in ihrer alten Heimat. Trotzdem erstaunt es sie, dass der Mann den weiten Weg noch einmal auf sich genommen hat, um an diesem abgelegenen Ort aufzuschlagen. Ob er den Urlaub auch dieses Mal mit einem Besuch bei seiner Mutter verbindet? Warum nicht? Vielleicht hat Josh ein weniger angespanntes Verhältnis zu seinen Eltern als sie es hatte. Es soll ja sogar Leute geben, die ihre eigenen Eltern mögen!

      „So sieht das wohl aus“, grinst Josh. „Es ist ganz hübsch hier“, ergänzt er mit einem nonchalanten Lächeln.

      Seltsam! Wenn es nicht der immer coole Josh wäre, dann hätte Julie sich jetzt einbilden können, dass er ein wenig verlegen wirkt. Doch verlegen zu sein, passt definitiv nicht zu Josh!